Alfred Bekker, W.A.Hary
Treffpunkt mit dem Killer: Krimi Großband 7/2021
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Inhaltsverzeichnis
Treffpunkt mit dem Killer: Krimi Großband 7/2021
Copyright
TREFFPUNKT HÖLLE
Ein Killer kommt selten allein
Die toten Frauen
Treffpunkt mit dem Killer: Krimi Großband 7/2021
Alfred Bekker, W.A.Hary
Diese Ausgabe enthält folgende Titel: Alfred Bekker/W.A.Hary: Treffpunkt Hölle W.A.Hary: Ein Killer kommt selten allein Alfred Bekker: Die toten Frauen Ein Frachter mit grauenerregender Ladung erreicht den Hafen. Und die Ermittler stehen vor einem Rätsel. Von den Opfern dieser unheimlichen Mordserie ist nicht viel geblieben – und das wenige muss ausreichen, um die Täter zu überführen!
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker © Roman by Author / © dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius. Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle Rechte vorbehalten. www.AlfredBekker.de
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TREFFPUNKT HÖLLE
Alfred Bekker & W.A. Hary
1
JAY BROWNING, PRIVATE ERMITTLUNGEN ALLER ART - so stand es auf dem Schild an meiner Bürotür. Die Großbuchstaben hatten leider nicht dazu geführt, daß mir die Klienten die Tür einrannten. In der Linken hielt ich eine halbvolle Flasche Bourbon, die Rechte suchte in der Seitentasche des Jacketts nach dem Türschlüssel. Es war halb vier am Morgen, ich war hundemüde und der Bourbon trug sicherlich auch nicht zu einem klaren Kopf bei. Aber als ich die Kratzspuren am Türschloß sah, war mir klar, daß etwas nicht stimmte. Innerhalb einer Sekunde war ich hellwach und so nüchtern wie ein reformierter Prediger. Ich stellte die Bourbon-Flasche auf den Boden, nahm mit der Linken den Schlüssel und riß mit der Rechten die 45er Automatik aus dem Schulterholster, das mein Jackett ausbeulte. Kalte Wut stieg in mir auf. Ich zählte zwei und zwei zusammen. Jemand hatte mir einen unangemeldeten Besuch abstatten wollen, soviel stand fest. Mein Office und meine Wohnung lagen in der dritten Etage eines etwas heruntergekommenen Brownstone-Hauses in der Lower East Side. Ich hatte die Räume genommen, weil sie nicht viel kosteten, aber das bedeutete auch, das irgendwo gespart worden sein mußte. In diesem Fall vor allem an einer vernünftigen Sicherheitselektronik. Jeder konnte hier rein- und rausgehen, wie er wollte, ohne daß ihn ein Security Guard ansprach. Und die Videoanlage war schon seit Jahren kaputt.
Ich dachte an Mona. Sie war dort drinnen, hatte wahrscheinlich schon geschlafen, als die Eindringlinge gekommen waren. Ich weigerte mich, mir vorzustellen, was mit ihr geschehen war... Den Umgang mit dem Revolver hatte ich ihr zwar beigebracht, aber bei den Kerlen, die hier eingedrungen waren, handelte es sich um Profis. Dafür sprach schon die Tatsache, daß sie die Tür nicht einfach offen gelassen hatten. Ich entsicherte die Automatik und drehte vorsichtig den Schlüssel herum. Wenn die Kerle noch hier waren, dann konnte ich nicht vorsichtig genug sein... Mit dem Fuß stieß ich die Tür auf, riß die Automatik hoch und duckte mich. Blitzschnell ließ ich den Blick durch das Büro schweifen. Ein Vorzimmer gab es nicht. Es herrschte Halbdunkel. Die Jalousien waren zur Hälfte heruntergelassen. Neonreklamen auf der anderen Straßenseite sorgten für das bißchen Licht. Eine Stecknadel hätte man in diesem Moment fallen hören können. Das Fenster war abgeklappt. Ein kühler Luftzug drang von draußen herein. Ich machte das Licht an. Im Büro sah es aus, als wäre eine Handgranate gezündet worden. Die Akten hatte jemand aus dem Regal gerissen, und zahllose Belege fürs Finanzamt lagen auf dem Fußboden verstreut herum. Die Anschlüsse von Telefon und Computer waren durchtrennt, die Sesselpolster aufgeschlitzt. Um den Tresor in der Wand hatte sich allerdings niemand gekümmert. Es war zwar ohnehin nichts Wertvolles darin, aber das sah man ihm von außen ja nicht an. Reine Zerstörungswut war hier zum Ausbruch gekommen. Aber ich hatte ohnehin nicht damit gerechnet, daß es sich bei den Eindringlingen um Diebe handelte... Ein Geräusch ließ mich erstarren. Es klang wie das Atmen eines Menschen. Ich packte die 45er mit beiden Händen und bewegte mich mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze seitwärts, so daß ich nicht in der Schußlinie stand, wenn sich an der offenstehenden Zwischentür etwas bewegte. Einen Augenblick später hatte ich die Wand erreicht, preßte mich dagegen und wartete ab.
"Mona?" rief ich dann. Ich bekam eine Antwort, die mich rasend machte. Sie bestand in einem halb unterdrückten Laut, wie er entsteht, wenn jemand zu schreien versucht, den man geknebelt hat. "Kommen Sie mit erhobenen Händen herein, Browning!" rief eine heisere Stimme. "Aber legen Sie vorher ihre Kanone auf den Boden. Sonst geht es deinem Engelchen schlecht..." Innerlich kochte ich. Aber es hatte keinen Sinn, gegen Wände zu laufen. Vor allem nicht, wenn Mona in Gefahr war. Ich hörte ihren unterdrückten Schrei, der mir wie ein Messer ins Herz schnitt. Diese Hunde! durchfuhr es mich. Wenn sie mit mir eine Rechnung offen hatten, dann sollten sie das auch mit MIR zu Ende bringen. Aber im Moment hatte ich keine andere Wahl, als nach der Pfeife meines Gegners zu tanzen. Ich beugte mich vor, legte langsam die 45er auf den Boden. Dabei blickte ich den kleinen Korridor entlang. Ein Wohnzimmer und ein Abstellraum lagen auf der linken Seite. Am Ende befand sich das Schlafzimmer. Dort brannte Licht. In der offenstehenden Tür stand ein dunkelhaariger Lockenkopf mit einem gewaltigen 457er Magnum-Revolver in der Faust und einem zynischen Grinsen im Gesicht. Ich befand mich in seinem Schußfeld. Wenn er wollte, konnte er mir von einer Sekunde zur anderen das Lebenslicht ausblasen. Aber der Lockenkopf schien mich nicht einfach über den Haufen schießen zu wollen. Noch nicht. Ich erhob mich, ließ die Handflächen in seine Richtung zeigen und gab der Automatik dann einen Tritt, so daß sie über den Fußboden des Korridors rutschte. Auf halber Strecke blieb sie liegen. Der Lockenkopf hob inzwischen den 457er und zielte auf meinen Kopf. "Komm her, du Ratte. Und versuch keine Tricks, sonst..." Ich hörte ein klatschendes Geräusch, wie von einem Schlag ins Gesicht. Dann ein Wimmern. Ich wußte jetzt, daß der Lockenkopf nicht allein war. Zumindest ein weiterer Gorilla war bei ihm und quälte Mona.
Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich zermarterte mir das Hirn darüber, was ich tun konnte. Diese Bastarde hatten alle Trümpfe in der Hand. In einem Futteral am Fußgelenk trug ich noch einen zierlichen 22er-Revolver, aber ich hatte im Augenblick nicht den Hauch einer Chance, an die Waffe heranzukommen. Außerdem durfte ich nichts riskieren. Sie hatten schließlich Mona in ihrer Gewalt. Ich betrat das Schlafzimmer. Ich sah gerade noch die von der Seite kommende Bewegung und fühlte im nächsten Moment schon das harte Holz des Baseballschlägers in meinem Magen. Ächzend sank ich zu Boden.
2
Mir wurde schlecht. Der Kerl mit dem Baseballschläger holte erneut aus. Er hatte rotes, kurzgeschorenes Haar, und als er den dünnlippigen Mund zu einem Grinsen verzog, sah ich, daß er eine Menge Blech im Gebiß hatte. Der Lockenkopf hob die Hand. "Laß ihn!" befahl er unmißverständlich. "Ich will erst noch mit ihm reden. Dann gehört er dir!" Der Rothaarige bremste den mörderischen Schlag ab und stieß einen unartikulierten, dumpfen Laut hervor. Dann spielte er lässig mit dem Schläger herum und trat dabei etwas zur Seite. Ich blickte auf und sah... ...Mona! Sie saß an einen Stuhl gefesselt da, nur in ein hauchdünnes Nachthemd gekleidet. Ihr aufregender Körper zeichnete sich deutlich darunter ab. Ihre Schenkel waren frei. Der Mund war mit Klebeband verschlossen. Das dunkle Haar fiel ihr bis über die Schultern. In ihren Augen glänzte es furchtsam. Ich kam wieder einigermaßen zu mir, auch wenn der Schlag noch höllisch wehtat. Zeit gewinnen! dachte ich. Das war alles, was ich im Moment tun konnte. Irgendwie dafür sorgen, daß die sogenannte 'Unterhaltung', die der Lockenkopf mit mir führen wollte, sich möglichst in die Länge zog und mir sein
Komplize nicht mit einem gezielten Schlag seines Baseballschlägers den Schädel zertrümmerte. Ich kauerte mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden und dachte an die 22er an meinem Fußgelenk... "Ihr könnt Maldini einen schönen Gruß von mir bestellen", meinte ich gequält. "Ich weiß, daß er euch geschickt hat! Ihr braucht mir nichts vorzumachen..." Sid Maldini war eine große Nummer in der New Yorker Unterwelt. Ein großer Boss, der dafür sorgte, daß nur die unteren Chargen seiner Organisation sich die Finger schmutzig genug machten, um ins Visier der Cops zu geraten. Ich hatte dafür gesorgt, daß sein Sohn lebenslang hinter Gittern saß. Und das konnte Maldini mir einfach nicht verzeihen. Seitdem mußte ich ständig auf der Hut sein, nicht auf seine Schläger zu treffen. Außerdem sorgte er ziemlich wirkungsvoll dafür, daß ein Klient, der auch nur mit dem Gedanken spielte, mir einen Auftrag zu geben, sehr schnell mit klappernden Zähnen das Weite suchte. Maldinis Arm war verdammt lang. Aber ich war nicht bereit aufzugeben. Dies war meine Stadt, und ich dachte nicht im Traum daran, einfach davonzulaufen. Irgendwann würde ich den enden Paragraphen und die Gelegenheit finden, um Maldini an die Wand zu nageln. "Maldini muß es ziemlich dreckig gehen, wenn er auf so miese Typen wie euch angewiesen ist", zischte ich zwischen den Zähnen hindurch. Die Gesichtsfarbe des Rothaarigen änderte sich, wechselte von betonbleich zu dunkelrot. Er faßte den Baseballschläger fester. Der Lockenkopf hob die Hand. "Laß ihn quatschen!" murmelte er. "Mal sehen, ob er nachher noch dazu in der Lage ist, wenn er keine Zähne mehr hat." Der Rothaarige grinste. Das gefiel ihm. Der Zeigefinger des Lockenkopfs richtete sich indessen auf mich. "Du hast großes Glück, Browning, obwohl du so ein unglaublicher Dummkopf bist, daß du im Ernst glaubst, es mit den ganz großen Tieren aufnehmen zu können. Du bist 'ne lästige Zecke, weiter nichts. Und es würde kaum jemanden auffallen, wenn man dich zerquetscht. Nicht einmal deine Exkollegen vom New York
Police Department erkennen dich noch, wenn du als Fischfutter im Hudson landest..." "Warum sind wir dann noch nicht auf den Weg zu den Piers?" erwiderte ich trotzig. "Weil der Boss seinen großzügigen Tag hatte. Er will nicht, daß wir dich umlegen. Wir sollen dich nur so bearbeiten, daß du für den Rest deines Lebens keine feste Nahrung mehr zu dir nehmen kannst und im Rollstuhl vor dich hin sabberst... Du sollst sehen, was um dich herum iert, daß das Leben überall weitergeht, daß deine hübsche Freundin mit einem anderen ausgeht, weil sie deinen Anblick nicht mehr erträgt... Du sollst genauso leiden wie Maldinis Junge, den du hinter Gitter gebracht hast und der das auch alles mit ansehen muß. Nur wird dein Gefängnis dein eigener Körper sein, Browning. Es wird keine Begnadigung wegen guter Führung für dich geben... Du wirst nicht einmal in der Lage sein, deiner jämmerlichen Existenz selbst ein Ende zu setzen!" Der Lockenkopf ging auf Mona zu. Ein Zittern durchlief den Körper der jungen Frau. Der Gangster packte grob ihr Kinn. "Sieh ihn dir nochmal an, Baby. Du wirst ihn nicht wiedererkennen..." Er wandte den Kopf in ihre Richtung, grinste schief und ich dachte: Das ist meine Chance. Die letzte vielleicht! Der Lauf des Magnum-Revolvers zeigte nach unten. Ich rechnete mir nicht aus, wie schnell er ihn hochreißen und abdrücken konnte. Mit einer schnellen Bewegung griff ich hinunter zum Fußgelenk und riß den 22er heraus. Eine zierliche Waffe. Man mußte gut zielen, wenn man eine mannstoppende Wirkung erzielen wollte. Aber in den Händen eines guten Schützen war sie ebenso tödlich wie der plumpe Magnum-Revolver meines Gegners. Das Gesicht des Rothaarigen verzog sich. Er hatte gerade zum Schlag mit dem Baseball-Prügel ausholen wollen und hielt nun etwas irritiert inne. Der Lockenkopf feuerte den Magnum-Revolver ab, ohne auch nur einen Sekundenbruchteil zu zielen. Ich warf mich seitwärts, rollte auf dem Boden herum, während das gewaltige
Kaliber dieser Waffe dicht neben mir in den Boden einschlug, den Belag zerfetzte und sogar noch ein faustgroßes Stück aus dem Estrich heraussprengte. Der Schuß meines 22er folgte einen Sekundenbruchteil später und traf ihn am Oberkörper. Die Augen des Lockenkopfs weiteten sich. Er griff sich an die Wunde. Das Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch. Sein Gesicht verzerrte sich zur haßerfüllten Maske. Er hob noch einmal die Magnum, zielte auf mich und ließ mir keine Wahl. Mein zweiter Schuß traf ihn mitten in der Stirn. Er taumelte zurück und legte sich mit dem Rücken auf das breite Doppelbett. Unterdessen schleuderte der Rothaarige seinen Prügel in meine Richtung. Keulenartig sauste der Baseballschläger dicht über mich hinweg und fuhr dann in eine Fensterscheibe hinein, die klirrend zu Bruch ging. Der Rothaarige riß eine Beretta unter seiner Jacke hervor. Ich ließ ihn nicht zum Schuß kommen. Bevor er abdrücken konnte, hatte eine Kugel meines 22er ihn in der Herzgegend getroffen. Er machte einen unbeholfenen Schritt auf mich zu und krachte dann wie ein gefällter Baum zu Boden. Ich atmete tief durch. Zwei Leichen in der Wohnung, das bedeutete jede Menge Probleme. Und die Schüsse hatten sicherlich Aufsehen genug in der Umgebung verursacht. Was auch immer jetzt zu geschehen hatte, es mußte schnell ieren. Und das nicht zuletzt deshalb, weil es sich bei den Leichen um Maldinis Männer handelte. Ich erhob mich, steckte den 22er ein und trat auf Mona zu, die mich mit entsetzten Augen anstarrte. Ich beugte mich zu ihr hinunter. "Es wird jetzt ein bißchen wehtun, Baby", sagte ich und zog ihr das Klebeband vom Mund. "Jay!" stieß sie hervor. Ihre Brüste hoben sich dabei. "Jay, ich..." Ich verschloß ihr den Mund mit einem Kuß. "Zieh dich an, Mona", sagte ich
dann. "Wir müssen hier schleunigst weg..." "Jay, diese Männer..." "Ich werde dir alles erklären, aber nun zieh dir um Himmels Willen etwas an, damit wir endlich verschwinden können! Es geht um unser Leben..." "Was hast du vor?" "Dich erst mal an einen sicheren Ort bringen!" "Aber..." "Später, Baby!" Ich strich ihr über das Haar, dann wandte ich den Leichen einen kurzen Blick zu. Um hier aufzuräumen, blieb mir keine Zeit, denn außerdem gab es da noch ein anderes Problem: Ich fragte mich, ob die beiden Gorillas allein gewesen waren. Ich hatte zehn Jahre als Cop bei der Homicide Squad des NYPD hinter mir, bevor ich mich auf das Abenteuer einließ, mich als Private Investigator selbständig zu machen. Ein bißchen Berufserfahrung kam da also zusammen, und die sagte mir, daß in Fällen wie diesem für gewöhnlich irgendwo jemand in einem Wagen saß und darauf wartete, daß die Drecksarbeiter ihren Job erledigt hatten. Und darum mußte ich mich kümmern. "Komm runter, wenn du fertig bist, Mona!" rief ich. "Meinen Wagen kennst du ja. Und nimm eine Waffe mit!" Ich drehte mich nicht noch einmal um.
3
Während ich den Korridor vor meinem Wohnbüro entlangging, blickte ich seitwärts aus den Fenstern, die zur Rückseite des Brownstone-Baus hin gerichtet waren. Ich hatte freie Aussicht auf einen asphaltierten Parkplatz, auf dem einige Müllcontainer herumstanden. In manch klarer Winternacht konnte man von diesen Fenstern aus Jagd auf Ratten machen, wenn man wollte.
Ich blickte mich sorgfältig um. Aber dort unten konnte ich nichts Verdächtiges erkennen. Meine 45er Automatik hatte ich aufgehoben, bevor ich mein Büro verlassen hatte. Ich wog sie wie prüfend in der Hand. Dann hatte ich das Treppenhaus erreicht. Die Aufzüge waren zum hundertfünfzigsten Mal defekt, und es war die Frage, wann die Immobilienfirma, der dieses Haus gehörte, die nötigen paar Dollars dafür springen lassen würde. Drei Stockwerke wären sogar für einen Herzkranken zu schaffen gewesen. Worüber sollte ich mich also beklagen? An die Bourbon-Flasche, die noch vor der Tür meines Büros im Flur stand, dachte ich erst, als ich schon im Erdgeschoß angelangt war. Bevor ich die Haustür öffnete, schaute ich die 45er in meiner Faust unschlüssig an. Als könnte sie mir guten Rat erteilen: Der Kerl, den ich suchte, hatte seinen Wagen wahrscheinlich so hingestellt, daß er den Eingang immer im Auge hatte, so daß er den Motor anlassen konnte, sobald seine Komplizen nach draußen traten. Sobald jedoch ich an ihrer Stelle ins Freie trat, würde er wissen, daß seine Leute versagt hatten. Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf und steckte die Waffe weg. Keine Sekunde mehr Zeit verlor ich: Ich hetzte die drei Stockwerke nach oben zurück und hoffte, daß Mona inzwischen fertig angezogen war. Mir war da so eine Idee gekommen... Sie schaute mich überrascht an, als ich mit der Bourbonflasche in der Hand hereinstürmte. Ich übersah die Waffe, die sie auf mich gerichtet hielt, weil sie ja nicht wußte, ob ich das wirklich bin, der da angerannt kam. Ich ignorierte auch, daß sie vergaß, die Waffe jetzt wieder sinken zu lassen. Ich deutete mit dem Kinn auf die beiden Leichen. "Lockenkopf hat 'ne Menge Sauerei auf meinem Bett verursacht. Das muß alles entfernt werden. Es darf keine Spuren geben." "Was - was hast du denn vor, Jay? Ich dachte..."
Ich unterbrach sie mit einer ungeduldigen Handbewegung. "Da unten wartet ein Komplize von den beiden. Wenn er mich sieht, bevor ich ihn erreiche, ist alles zu spät. Dann wird er davonbrausen und seinem Boss melden, daß es mißlungen ist. Dann haben wir Maldini auch in Zukunft am Hals. Und das nächste Mal werden seine Häscher vielleicht mehr Glück haben." "Und die Alternative, die dir so vorschwebt?" Sie hatte das Geschehene erstaunlich gut verkraftet. Oder tat sie nur so? Tapferes Mädchen! dachte ich anerkennend. Aber verlangte ich nicht zuviel von ihr dennoch? Ich betrachtete die Flasche. Ein kräftiger Schluck vielleicht? Nicht jetzt! rief ich mich zur Besinnung. "Hör zu, Mona, wir haben keine Sekunde zu verlieren. Ich werde mich an den Typ dort unten heranmachen. Du wartest hier oben, bis es gelungen ist..." "Aber wenn der jetzt schon Verdacht geschöpft hat?" "Wie denn? Das sind Profis. Die wissen, daß Funksprechgeräte und Handys abgehört und vor allem geortet werden können. Es gibt keine Verständigung zwischen ihm und ihnen." "Verdammt, was hast du wirklich vor?" Sie wirkte jetzt gar nicht mehr so gespielt cool wie noch vor einer halben Minute. Ich versuchte ein Grinsen, aber es wurde anscheinend eine fürchterliche Grimasse daraus, denn sie reagierte erschrocken. "Hör zu, Girlie: Wir haben keine Wahl mehr. Hatten wir vorher zwar auch nicht, aber jetzt geht Maldini sozusagen aufs Ganze. Er wird uns kriegen - uns beide, wohlgemerkt! - wenn wir ihm nicht zuvorkommen. Aber auf normalem Weg gibt es keinerlei Möglichkeit, an ihn heranzukommen. Da hilft nur ein wahnwitziger Plan, und den nehme ich auch nur deshalb in Angriff, weil wir wirklich keine Alternative mehr haben." "Wahnwitziger Plan?" echote sie alarmiert, aber ich achtete nicht mehr auf sie, sondern riß den Schrank in der Ecke auf. Dort hatte ich einige Utensilien, die zur
Ausstattung eines Privatdetektivs gehörten. Es war mehr als nur ein Klischee, daß man manchmal sein Äußeres verändern mußte, um Erfolg zu haben. Zu den Utensilien gehörte natürlich auch eine Lockenperücke. Ich hatte mehr als eine davon, und ich brauchte nur die, die mich in den Lockenkopf verwandeln konnte, der tot auf meinem Bett lag. Wenigstens auf einige Yards Entfernung sollte man den Unterschied nicht erkennen dürfen. Ich zog sie mir über den Kopf, kontrollierte kurz im Spiegel und schaute mich dann suchend um. Klar, die beiden waren mit Jacken gekommen, die sie hier ausgezogen hatten. "Welche ist die vom Lockenkopf?" Mona deutete stumm auf die schwarze Lederjacke mit den ausgestopften Schultern und den Puffärmeln, die aus Lockenkopf eine imposante Erscheinung hatten machen sollen. Mona sagte nichts, weil sie mich lange genug kannte, um zu wissen, daß dies jetzt sowieso nichts genutzt hätte. Wenn ich mir mal was in den Kopf gesetzt hatte... Dabei kam ich nicht einmal im entferntesten auf die Idee, mein wahnwitziger Plan könnte schiefgehen. Wahnwitzig? Eine nette Umschreibung für etwas, was eigentlich völlig unmöglich war!
4
Ich öffnete unten vorsichtig die Haustür und zeigte mich halb. Das Problem war, daß ich nicht die geringste Ahnung hatte, wo der Komplize der beiden stecken konnte. Für einen Augenblick hatte ich sogar die verrückte Idee, daß es vielleicht gar keinen Komplizen der beiden hier unten gab. Aber den Gedanken verwarf ich sofort wieder. Nicht nur, weil sonst die
Grundlage für das Gelingen meines wahnwitzigen Plans zunichte war. Ich winkte energisch und zog mich sofort wieder zurück. Die Haustür ließ ich einen Spaltbreit offen. Ich stellte mich hinter das Türblatt und wartete. Nichts geschah. Das war ja klar gewesen, daß der Kerl nicht auf Anhieb reagieren würde, wenn Lockenkopf nach ihm winkte. Ich mußte die Prozedur halt wiederholen, diesmal noch energischer. Es mußte so aussehen, als sei die Anwesenheit des Komplizen dringend erforderlich. Dabei dankte ich im stillen den segensreichen Erfindungen von Polizei und Geheimdienst, die schon lange in der Lage waren, Handys jeglicher Art abzuhören und so die Profis zwangen, darauf möglichst zu verzichten. Genauso wie auf Funkgeräte. Es wäre schon schwieriger gewesen, den Komplizen per Funk oder per Handy zu überzeugen, daß seine unmittelbare Anwesenheit dringend vonnöten war. Nach dem zweiten Mal hörte ich draußen Schritte, begleitet von einem wütenden Schnauben. Die Haustür wurde ärgerlich aufgestoßen. Jemand stürmte herein, den ich in der Dunkelheit des Treppenhauses nicht erkennen konnte. Aber ich übersah nicht, daß der Kerl eine Waffe in der Faust hielt. Nicht mehr lange, denn mit einem geübten Griff entwand ich ihm das Ding und knallte ihm fast gleichzeitig den Baseballschläger auf die Birne, der eigentlich mich zum Krüppel hatte machen sollen. Der gab keinen Mucks mehr von sich, als er zu Boden krachte. Ich schnappte ihn mir und zog ihn von der Tür weg in den Hohlraum unter der Treppe. Dort fesselte ich ihn kunstgerecht und nahm auch noch seine Wagenschüssel an mich. Die Schlüssel hatten einen hübschen Mercedesanhänger. Besser konnte es kaum kommen. Ich rannte auf die Straße und schaute mich suchend um. Es gab kaum Verkehr um diese Zeit. Das würde sich bald ändern, wenn der frühe Berufsverkehr begann. Aber bis dahin wollte ich den ersten Teil meines Planes hinter mir haben.
Der Mercedes stand in Sichtweite, wie zu erwarten. Ich lief hinüber, klemmte mich hinter das Steuer und fuhr den Wagen hinter das Haus auf den Hinterhof. Ich betrat das Gebäude von dort und lief zu dem Überwältigten zurück. Er kam gerade wieder zu sich. Jetzt erst nahm ich mir die Zeit, dem Kerl mit der Taschenlampe ins Gesicht zu leuchten. Ein Pfiff der Überraschung drängte sich mir gegen meinen Willen über die Lippen: "Boris Galinski! Das ist ja wie an Weihnachten: Eine Überraschung jagt die andere. Ausgerechnet der engste Vertraute von Maldini... Du hast ihm schon ziemlich Sorgen bereitet, weil du kein Italoamerikaner bist und trotzdem ganz nach oben steigen konntest - von Maldini protektiert. Aber er hält so große Stücke auf dich, daß er dieses Risiko einging - gegen den Willen seiner Familie. Und er scheint wirklich nur dir zugetraut zu haben, die Sache Browning erfolgreich abzuhaken." Ich beugte mich ganz nah zu ihm hinab und zischte in sein Ohr: "Sein Pech - und das deinige obendrein!" "Scheiß Browning! Binde mich los, sonst geht es dir schlecht!" Ich schüttelte tadelnd den Kopf. "Du willst mir drohen? Einem, der sowieso nichts mehr zu verlieren hat?" Dann zog ich den Knebel aus der Tasche und machte ihn damit erst mal mundtot. "Außerdem redest du zuviel für meine Begriffe, und wir haben keine Zeit für Plaudereien - so leid es mir auch tut." Ich vergewisserte mich davon, daß er sich weder befreien noch sonst etwas unternehmen konnte, um vielleicht die Aufmerksamkeit von Hausbewohnern auf sich zu lenken. Ich hatte tatsächlich schon ziemlich Zeit verloren, und es grenzte an an Wunder, daß noch kein Polizeiwagen gekommen war, um die Schüsse zu klären, die es in meiner Wohnung gegeben hatte. Aber Polizei kam in dieser Gegend sowieso nicht so schnell vor Ort, weil sie sowieso hoffnungslos überlastet waren. Mein Glück. Aber ein Glück, das ich nicht überstrapazieren wollte.
Ich rannte wieder nach oben.
5
Mona - die gute Mona! - hatte Lockenkopf vom Bett gezogen, nachdem sie seinen blutenden Schädel mit einem Strandtuch umwickelt hatte. Sonst verteilte er die Sauerei auch noch auf den Boden, und der war sowieso schon in Mitleidenschaft gezogen vom Blut seines Kumpanen. Außerdem hatte Mona das Bett abgezogen und alles auf einen Haufen geworfen, "Die Matratze ist ebenfalls versaut!" berichtete sie mir. "Egal: Überzieh das Bett neu und versuche, den Boden so zu säubern, daß man es wenigstens nicht mehr auf Anhieb sieht. Unterdessen bringe ich die Leichen nach unten." "Was denn, ganz allein, Jay?" "Siehst du hier noch jemanden, der mir helfen könnte?" fragte ich lapidar zurück, aber bevor ich meine Ankündigung in die Tat umsetzte, ging ich erst zum Telefon. Die Geheimnummer von Maldini kannte ich natürlich - und natürlich auswendig. Ich tippte sie ein. Maldini meldete sich - persönlich! Und das zu dieser Zeit? "Scheiße, Sid!" keuchte ich gequält - so gequält, daß es kaum verständlich war. So brauchte ich mir keine Mühe zu machen, etwa die Stimme von Galinski nachahmen zu wollen. "Bist du bescheuert, Galinski?" wetterte der Bigboss. "Mich persönlich anzurufen?" "Scheiße, Boss, es ging schief. Die beiden Arschlöcher haben versagt, und dann kam Browning herunter und hat mich überwältigt. Hat es zumindest versucht.
Aber ich habe ihm eine Kugel in den häßlichen Schädel gejagt." "Und was ist mit dir?" fragte Maldini lauernd. "Mich hat es böse erwischt. Ich - ich brauche dringend einen Arzt, sonst gehe ich hopps!" "Und deshalb rufst du hier an? Wenn jetzt mein Telefon abgehört wird?" Anscheinend hatten die beiden einen Code vereinbart, den ich natürlich nicht wissen konnte. Deshalb tat ich ja auch so, als würde es für Galinski um Leben und Tod gehen und als könnte er sich an solche Absprachen angesichts seiner schlimmen Lage nicht mehr halten. "Und außerdem weißt du, daß ich nichts für Kriminelle übrig habe." Das war für etwaige Abhörexperten gedacht, obwohl er eigentlich mit Bestechung sein Telefon praktisch abhörsicher gemacht hatte. Sonst hätte man ihn längst drankriegen können... "Herrschaft, Boss, dieser Browning ist eine Killermaschine gewesen. Wir wollten doch nur friedlich mit ihm reden, und da drehte der durch. Und jetzt ist er tot. - Was sollte ich denn machen? Entweder der oder ich!" Das war natürlich ebenfalls für die Ohren von etwaigen Abhörspezialisten gedacht. Ich mußte das Spielchen einfach mitmachen, um keinen Verdacht bei Maldini zu erregen, auch wenn ich solche übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen für bescheuert hielt. Maldini litt schon immer ein wenig an Verfolgungswahn. Ein Wunder, daß er überhaupt noch weitertelefonierte. Aber dafür schien ihm das Thema nun doch zu brisant zu sein... "Und seine Freundin?" "Die habe ich leider nicht mehr erwischen können. Hat mich gesehen und ist abgehauen. Weiß nicht, wo sie jetzt steckt. Vielleicht bei den Bullen?" Ich hustete und tat, als würde ich Blut spucken. "Bitte, Sid, Boss, hilf mir. Ich - ich habe Browning im Wagen. Wir treffen uns..." Und ich nannte ihm den Treffpunkt, wie er mir vorschwebte. Dabei rechnete ich mir meine Chancen aus: Galinski war sein Liebling. Sonst hätte er ihn nicht so gefördert. Aber jetzt, nachdem das anscheinend so unglücklich abgelaufen war, bildete Galinski eine Gefahr für den Boss. Wenn er jetzt andere Helfershelfer zum Treffpunkt schickte, war das in doppelter Hinsicht schlecht für ihn: Erstens gab es dann unliebsame Mitwisser, was man nicht unbedingt riskieren mußte, und zweitens würgte er sich selber eins rein, wenn er
Galinski als Versager und nunmehr potentielle Gefahr umlegen ließ, denn wie sollte er das so begründen, daß er sich selber nicht zum Deppen machte, weil er ausgerechnet Galinski all die Jahre so stark gefördert hatte? "Bitte!" flehte ich mit ersterbender Stimme. "Schaffst Du es bis dorthin?" "Klar, Sid - und... danke!" Maldini legte einfach auf, und ich schnappte mir erst mal den toten Kerl, der mich zum Krüppel hatte schlagen sollen. Verdammt, wenn wenigstens einer der Fahrstühle funktionieren würde... Ich nahm den Kerl auf und legte ihn mir quer über die Schultern - so, wie ich es mal bei der Polizei gelernt hatte. Dann schleppte ich ihn nach unten zum Mercedes von Galinski, dabei hoffend, daß mir niemand bei meiner Tätigkeit zufällig zuschaute. Egal, ich mußte es riskieren. Genauso, als ich Lockenkopf nach unten schleppte. Beide verstaute ich kurzerhand im Kofferraum des Wagens. Inzwischen war Mona mit ihrer Arbeit fertig - wahrlich in Rekordzeit. Die versaute Wäsche brachten wir zu meinem eigenen Wagen. "Fahr jetzt los, Mona!" befahl ich knapp, und dann sagte ich ihr, wo sie mich treffen sollte - nämlich ganz in der Nähe des Treffpunktes mit Maldini - eben nur zu einem späteren Zeitpunkt. Sie fragte mich nicht weiter, machte nur eine verbissene Miene und steckte den Schlüssel ins Zündschloß. Ich beugte mich zu ihr hinein und küßte sie auf den Mund. Soviel Zeit mußte jetzt doch noch sein. Sie erwiderte meinen Kuß nur zögernd.
Kein Wunder, bei dem, was sie in der letzten Stunde durchgemacht hatte - und was vielleicht auch noch auf sie zukommen würde...
6
Ich schleppte Galinski zu seinem Wagen und half ihm auf den Beifahrersitz. Seine Waffe legte ich mir zwischen die Knie, und dann startete ich. Die Zeit tickte. Ich mußte deutlich vor dem Boss am Treffpunkt sein. Unterwegs ging mir einiges durch den Kopf. Vor allem die Risiken. Was, wenn ich mich in Maldini täuschte und er nicht in die Falle ging? Ich hatte wirklich keine andere Wahl. Sein Arm reichte bis in Polizeikreise hinein. Niemand wußte das besser als ich. Ich würde niemals an ihn herankommen. Nicht nur, weil seine Villa einer Festung glich. Bevor ich auch nur den Hauch einer Chance hätte, würde er es noch einmal versuchen, seinen teuflischen Plan mit mir durchzuführen. Und selbst wenn ich das ebenfalls überstand... Es würde ein drittes Mal geben. Irgendwann war er erfolgreich - und ich tot oder noch schlimmer dran... Und Mona hatte er sowieso ebenfalls auf dem Kieker. Jetzt erst recht. Ich entschuldigte mich in Gedanken bei ihr, daß ich sie Maldini gegenüber als Augenzeugin genannt hatte. Ich hatte das eigentlich gar nicht bedacht, daß ich sie dadurch noch mehr in Gefahr bringen würde, als sie es ohnedies bereits war... Es sei denn, mein Plan gelang, und davon hing nun alles ab - ja, restlos alles! Galinski beobachtete mich die ganze Zeit aus den Augenwinkeln. Er hatte nicht den geringsten Verdacht, was überhaupt hier ablief. Mir war das sowieso egal. Ich hatte andere Sorgen - wahrlich. Und dann erreichte ich mein Ziel. Ah, ein herrliches Plätzchen - zumindest für meine Zwecke. Ich parkte den Wagen so, daß Maldini ihn teilweise sehen konnte, wenn er kam.
Bis in die Hälfte der Fahrerseite wurde er verdeckt von einem wuchtigen Brückenpfeiler. Ich schnappte Galinski und zerrte ihn auf den Fahrersitz. Das gelang mir nur zur Hälfte. Galinski wußte zwar nicht, was ihm blühte, aber er begann, sich heftig zu sträuben. Ich schüttelte tadelnd den Kopf und schlug dann mit dem Baseballschläger zu. Jetzt gab er Ruhe - zwangsläufig. Ich zog ihn ganz herüber und setzte ihn so hin, daß er halb über das Steuer sank und man von außen nicht gleich sehen konnte, daß ich ihm einen Knebel verpaßt hatte. Dann schlug ich die Fahrertür zu und begutachtete erst mal meine Arbeit. Nein, ich mußte den Knebel doch abnehmen, denn wenn er vor der Zeit zu sich kam und sich aufrichtete, konnte Maldini den Knebel sehen. Ich öffnete noch einmal, nahm seinen Knebel ab und verpaßte ihm sicherheitshalber noch einen Hieb mit dem Schläger. Blut sickerte aus den Wunden, die meine Schläge verursacht hatten, und seine Haare waren bereits vom Blut verklebt. Das machte die Sache nur noch glaubwürdiger. Auch, daß das Blut jetzt begann, ihm über Stirn und Gesicht zu sickern. Ein letztes Mal überprüfte ich den Sitz der Fesseln. Dann schlug ich endgültig die Fahrertür zu und ging in Position - hinter dem zweiten wuchtigen Brückenpfeiler. Einige Yards über meinem Kopf brauste der beginnende Frühverkehr hinweg. Was hier unten geschah, würde niemand mitbekommen - außer den Beteiligten. Suchend schaute ich umher, um wirklich sicher zu gehen, daß es auch keinen Penner gab, der diesen Ort zum Nachtlager erkoren hatte. Nein, es hätte mich auch sehr gewundert, denn außer stinkenden Abfällen, die sich hier türmten, und Ratten, die sich gelegentlich aus ihrer Deckung wagten, gab es nur Galinski und mich.
Aus Richtung Piers hörte ich eine Schiffsirene, und als wäre das ein verabredetes Zeichen, bog der Wagen von Maldini ein. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet. Nur das Standlicht war an.
7
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich packte die Waffe von Galinski fester. Verdammt, hoffentlich kam Maldini wirklich persönlich und... allein! Die Scheiben waren verdunkelt. Man konnte von außen nichts sehen. Außer durch die Windschutzscheibe. In der Ferne schickte die Sonne ihre ersten blutigroten Strahlen über den Horizont. Es war wie ein schlechtes Omen. Das Licht der beginnenden Morgenröte, gepaart mit dem Licht der Großstadt, das diesen Platz nur dürftig erhellte, reichte nicht aus, um zu erkennen, ob es wirklich Maldini war, der sich ausnahmsweise selber hinter das Steuer seines Wagens geklemmt hatte. In gebührendem Abstand zu Galinskis Wagen hielt er an. Nichts rührte sich zunächst. Die Schattenumrisse von Galinski begannen, sich zu bewegen. Aha, der Kerl kam zu sich. Ausgerechnet jetzt. Besser konnte es kaum kommen. Der Wagen von Maldini ruckte wieder an. Er rollte nur ein paar Schritte weiter, bis die Scheinwerfer aufflammten, um den Wagen von Galinski zu erfassen. Maldini ging kein unnötiges Risiko ein. Damit war zu rechnen gewesen. Galinski blinzelte verwirrt - und noch immer benommen von meinen Schlägen. Sein Gesicht war eine blutverschmierte Grimasse. Das war überzeugend. Maldini schaltete die Scheinwerfer wieder aus. Dann
öffnete sich der Wagenschlag seiner Limousine. Mein Herz blieb für einen Augenblick lang stehen. Maldini hatte eine gedrungene Gestalt. Früher war er einmal ein agiler Sportler gewesen. Als brutaler Schläger hatte er seine zweifelhafte Karriere begonnen. Jetzt war er nur noch fett. Aber seine Grausamkeit war eher noch gestiegen. Er ließ den Wagenschlag offenstehen, als er vorsichtig in Richtung Galinski schritt. Im Innern seiner Limousine brannte kein Licht. Das war mir nur recht. Ich löste mich aus dem Schatten des Betonpfeilers und und folgte Maldini geräuschlos. Dabei mußte ich an der Limousine vorbei. Wenn jetzt doch noch jemand da drin saß, war ich verloren - und damit auch mein ganzer schöner Plan. Hatte ich wirklich recht mit meiner Einschätzung von Maldini? Ich mußte es einfach riskieren...
8
Ich kam am offenen Wagenschlag vorbei und beugte mich blitzschnell hinein. Es war nur wenig Licht, das ins Innere fiel, aber es reichte aus, um mich erkennen zu lassen, daß ich mich in Maldini nicht geirrt hatte. Ich richtete mich wieder auf. Gerade rechtzeitig, denn Maldini hob seine Rechte, und es war unschwer zu erkennen, daß er eine großkalibrige Waffe in der Faust hielt. Damit zeigte er auf Galinski. Auch in diesem Punkt hatte ich mich also nicht geirrt. "Nein! Bitte nicht, Boss! Du machst einen schrecklichen Fehler!" kam es dumpf aus dem geschlossenen Mercedes. "Stimmt!" sagte ich ruhig.
Mit einer Hand hielt ich Galinskis Revolver, und mit der anderen Hand griff ich in das Innere der Limousine, um die Scheinwerfer einzuschalten. Maldini! Er war es tatsächlich! Er fuhr nur halb herum, seine Hand mit der Waffe wie zögernd hin und her bewegend. "Laß es lieber, Maldini. Du hast keine Chance. Ich bin auf jeden Falls schneller." Er erkannte meine Stimme, obwohl er mich nicht sehen konnte, von den Scheinwerfern seines eigenen Wagens geblendet. Sein Blick fuhr zwischen mir und Galinski hin und her. "Du hast mir eine verdammte Falle gestellt!" würgte er hervor, als könnte er es selber kaum glauben. "Sicher doch, Maldini!" Ich setzte mich in Bewegung, seitlich, um Maldini zu umrunden. "Was hast du jetzt vor? Mich erschießen?" Er lachte heiser. "Man wird dich jagen. Deine Polizeikameraden werden dich als Mörder suchen und meine Leute..." "Die suchen mich sowieso. Was also sollen die Drohungen? Glaubst du wirklich, du könntest mir einreden, jetzt noch was zu verlieren zu haben - nach der Aktion heute Nacht?" "Eh, hör zu, Browning, das war nicht meine Idee gewesen. Das hat Galinski eigenhändig durchgeführt - sogar ohne mein Wissen. Glaube mir." "Ich glaube dir aufs Wort, klar, Maldini. Aber nur, weil du es bist, und wer wäre schon vertrauenswürdiger als der große Mafiaboss Maldini?" "Du Dreckschwein, du hast mich abknallen wollen!" kam es dumpf aus dem Wagen von Galinski. Der hatte endlich gecheckt, was da wirklich abgelaufen war. "Schnellmerker!" sagte ich, wenn auch nicht laut genug, daß er es verstehen konnte. Das war auch nicht nötig: Galinski zog und zerrte an seinen Fesseln. Er
hatte weiße Schaumflocken auf den Lippen. Haßerfüllt schrie er herum. Er war außer sich, weil sein geliebter Boss ihn einfach hatte über den Haufen knallen wollen, nur um sich damit persönlich ein Problem vom Hals zu schaffen. Nun, wenn Galinski immer noch nicht begriffen hatte, wie ein Mann in der Position von Maldini für gewöhnlich handelte... Andererseits hätte er in der gleichen Situation sicherlich nicht anders gehandelt, weil er aus dem gleichen Holz geschnitzt war. Ich hatte endlich die richtige Position erreicht - und schoß! Die Kugel verfehlte den Mafiaboss nur knapp und klatschte weit hinter ihm in den Betonpfeiler. Er zuckte erschrocken zusammen, und dann schien er anzunehmen, ich hätte ihn unabsichtlich verfehlt, vielleicht geblendet von den Scheinwerfern, die mir jetzt voll ins Gesicht schienen, weil ich neben dem Wagen von Galinski stand. Er wollte seine vermeintliche Chance nutzen, ließ seine Hand mit der Waffe wieder nach vorn schwenken und wollte auf mich schießen. Ich kam ihm zuvor: Meine Kugel traf ihn fast genau in die Nasenwurzel, mitten zwischen die Augen. Sein Kopf wurde nach hinten gerissen. Der Schuß, der sich aus seiner Waffe doch noch löste, traf den Betonpfeiler, hinter dem der Wagen von Galinski größtenteils verdeckt stand. Und dann fiel er rücklings zu Boden. Er war schon tot, bevor er diesen überhaupt erreicht hatte. Ich hatte indessen keine Zeit zu verlieren. Ich riß den Wagenschlag auf. Galinski fiel mir prompt entgegen. Schreiend kam er auf dem Boden auf. Ich sprang sicherheitshalber einen Schritt zurück. Das war goldrichtig, denn Galinski versuchte, nach mir zu treten, trotz der Fesseln. Ich wechselte Galinskis Waffe in die Linke und ging hinüber zum toten Boss. Dem nahm ich den Revolver ab und richtete ihn auf Galinski. Er sah es - und hielt prompt in der Bewegung inne. Seine Augen weiteten sich. Ich schüttelte grinsend den Kopf. "Nein, ich werde dich nicht töten. Damit wäre
nämlich nichts gewonnen." "Was hast du vor, du verdammtes Schwein?" Ich schoß ungerührt eine Kugel in seinen rechten Oberschenkel. Er schrie wie am Spieß. "Du Arschloch, warum hast du das getan?" "Darum!" antwortete ich und setzte die nächste Kugel in seinen linken Oberschenkel. Sein Schreien ging in ein Wimmern über. Ich konnte jetzt näherkommen, ohne Gefahr zu laufen, von ihm getreten zu werden. "Es ist doch alles ganz simpel, Galinski: Dich kann sowieso niemand leiden in der Organisation, und nun hast du auch noch den Boss umgebracht, um seine Stelle einzunehmen. Aber deine Rechnung ging nicht gut genug auf, denn Maldini hat sich vor seinem Tod noch gewehrt. Bei diesem Schußwechsel hat er dich ganz böse erwischt. Unter anderem mit einem Bauchschuß, der tödlich endet, wenn man dich nicht rechtzeitig medizinisch versorgt." "Bauchschuß?" röchelte er. "Ja, natürlich, aber erst einmal eins nach dem anderen..." Ich löste seine Fesseln. Die an seinen Händen zum Schluß, und zwar so, daß ich rechtzeitig in Sicherheit springen konnte. Trotz seiner rasenden Schmerzen versuchte Galinski erwartungsgemäß, nach mir zu greifen. Ich zeigte ihm meine Hände. "Wie du siehst, habe ich Plastikhandschuhe an, ungepudertes Latex, um genau zu sein. Dadurch bleiben nur die Fingerabdrücke von dir selber auf deiner Waffe. Niemand wird daran zweifeln, daß nur du den Boss erschossen haben kannst. Und die beiden Leichen in deinem Kofferraum... Wen wird es wundern, wenn du erst zwei von seinen Leibwächtern umgelegt hast?"
"Damit kommst du nicht durch!" wimmerte Galinski. "Ach ja, nicht daß ich es doch noch vergesse: Der Bauchschuß!" Ich schoß ihm in den Unterleib. Er zuckte zusammen und vergaß sogar zu stöhnen. Jetzt konnte ich mich zu ihm hinunterbeugen, ohne Gefahr zu laufen, von ihm angegriffen zu werden. "Wie war das noch mit dem Plan, mich zum sabbernden Krüppel zu machen?" Ich drückte ihm seine eigene Waffe in die Rechte. Er hatte nicht mehr die Kraft, sie auf mich zu richten. Ich mußte seine Hand mit der Waffe heben und nachhelfen, daß sich sein Zeigefinger um den Abzug krümmte. Ich gab mehrere Schüsse auf die Limousine von Maldini ab, bis keine Kugel mehr im Lager war. "Wegen den sogenannten Schmauchspuren an deiner Hand!" belehrte ich Galinski, der gerade wieder aus einer kurzen Bewußtlosigkeit erwachte. "Sonst ist es ja nicht glaubwürdig genug. Und keine Bange, ich werde einen Krankenwagen anfordern - und die Polizei. Denn es gibt in der Nähe einer der guten, alten Telefonzellen. Dorthin werde ich zuerst gehen. Ich will ja nicht, daß du stirbst. Es ist viel schöner, wenn du noch aussagen kannst und zu erzählen versuchst, daß alles nur ein Plan von mir war, um dich und deinen Boss hereinzulegen. Tust du das wirklich, dann machst du mich zum absoluten Superhelden in der Unterwelt. Wer würde es dann noch wagen, mir zu nahe zu treten? Selbst die nicht, die dir nicht glauben werden. Unter anderem meine alten Kollegen von der Polizei, die mir schon ziemlich viel zutrauen, aber nicht, daß ich einen solchen Plan durchführen könnte." Ich richtete mich auf. Er war trotz seiner schweren Verletzung auf einmal hellwach. Sein haßerfüllter Blick war auf mich gerichtet. Er spuckte Blut, aber ohne den Blick von mir zu wenden. "Jetzt ist aber wirklich höchste Zeit, ehe du doch noch krepierst", sagte ich besorgt. "Vielleicht aber bleibst du bei der Geschichte, wie sie sich hier präsentiert? Sagst einfach, Rivalität zwischen dir und Maldini sei entstanden. Er habe dich abknallen wollen, und du hättest dich nur gewehrt. Dann hilft dir die Polizei, die Sache zu überleben - und du kannst als Kronzeuge gegen deinen
Verein aussagen, ehe der dich umlegen läßt. Nur so hast du überhaupt eine Überlebenschance. Das wäre für dich jedenfalls besser als die Wahrheit, die dir sowieso kaum jemand glauben wird. - Überlege es dir gut!" Damit wandte ich mich ab, drückte dem toten Boss seine Waffe in die Hand und beeilte mich, die bewußte Telefonzelle zu erreichen - um nach meinem anonymen Anruf zum Treffpunkt zu spazieren, wo Mona mich abholen würde. Damit hatte der Wahnsinn für uns endlich ein Ende... ENDE
Ein Killer kommt selten allein
W.A.Hary (alias K.H.Weimer)
Phillip Morris schlenderte durch den düsteren Gang, mit einem Radiorekorder in der Linken und einer geladenen Gaspistole in der Rechten. Er pfiff leise vor sich hin und tat ganz so, als wäre alles normal. Nichts war normal! Vor allem das nicht, was er vor hatte! *
1
Die Sternwarte, in die er mit Leichtigkeit eingedrungen war, erschien verwaist. Phillip Morris wusste es besser. Er kannte sich hier aus, deshalb hatte er diesen Teil des Jobs übernommen. Er erreichte den Eingang zur Zentrale und öffnete mit dem linken Ellenbogen. Sein Pfeifen verstummte. Mit der Rechten zog er die Strumpfmaske herunter. Dann kickte er die Tür auf. Die drei Astronomen, die hier ihren Nachtdienst versahen, schauten erstaunt auf. Mit Besuch rechneten sie nicht. Sie reagierten überhaupt nicht, als sie den Verbrecher mit der Strumpfmaske sahen.
Wer hatte denn schon jemals davon gehört, dass jemand eine Sternwarte überfiel? Gelassen entleerte Phillip Morris das Magazin seiner Gaspistole. So!, dachte er zufrieden, das genügt vorerst. Rasch schloss er die Tür wieder. Er lauschte. Dumpfe Schreie ertönten. Die drei Astronomen erwachten aus ihrer Erstarrung und versuchten vereint, die Tür zu erreichen. Dabei waren sie sich gegenseitig natürlich im Weg. Unweit der Tür polterten sie zu Boden. Dann war alles ruhig. Phillip Morris entfernte sich eilig von der Tür, damit das hindurch sickernde Gas nicht auch noch ihn zu Boden schickte. Die Dosis war gut gewählt. Die drei Astronomen würden ein paar Stunden schlafen. Phillip Morris warf einen Blick auf die Armbanduhr. Er brauchte nicht zu hetzen. Der Zeitplan war so gestaltet, dass er ein wenig Spielraum hatte. Niemand hatte glauben wollen, dass es so einfach war. Er kicherte vor sich hin und schüttelte den Kopf. Dann betrat er einen Nebenraum und schaltete das Licht ein. Den Radiorekorder stellte er auf den Tisch, direkt neben das Telefon, während die Gaspistole in der Tasche landete. Phillip Morris setzte sich hin und lehnte sich bequem zurück. Die Füße knallten auf den Tisch. Er wartete die ausgemachte Frist ab. Dann angelte er nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer der hiesigen Polizeistation. Mit dem Absatz schaltete er den Radiorekorder an. Die vorbereitete Aufzeichnung wurde gestartet und produzierte ein eigenartiges
Zirpen, wie aus weiter Ferne. Die Tonqualität war hervorragend, wie sie besser gar nicht mehr hätte sein können. Das Zirpen schwoll allmählich an. Es mischten sich andere Laute darein, die einem eisige Schauer über den Rücken rieseln ließen. „Polizeiwache Eifelstadt!“, meldete sich eine verschlafene Stimme. Phillip Morris verwandelte sich binnen einer Sekunde in einen Jammerlappen. Er keuchte aufgeregt, als hätte sich soeben das Ende der Welt angekündigt: „Um Gottes Willen, Wachtmeister, ich…“ Er hielt den Hörer von sich weg und brüllte mit verstellter Stimme: „Sie kommen, Professor, sie kommen!“ Dann war seine aufgeregte Stimme wieder an der Reihe: „Hier Professor Bernhard. Herr Wachtmeister, seltsame Flugobjekte. Ein ganzer Pulk davon. Fliegen direkt die Erde an. Wir - wir haben sie als erste entdeckt. Die - die anderen Sternwarten…“ Mit verstellter Stimme und abgewandtem Hörer: „Professor, sie - sie sind da!“ Gleichzeitig hatte das Zirpen sich mit einem ohrenbetäubenden Lärm vermischt. Phillip Morris als angeblicher Professor Bernhard musste sich anstrengen, um den Lärm zu übertönen. „He, hallo!“, rief der Polizist am anderen Ende der Leitung konfus. Er begriff anscheinend nicht, um was es ging. Hoffentlich ist der nicht doof!, sagte Phillip Morris sich im Stillen. Ein wenig darf er es schon sein, sonst reagiert er nicht wie gewünscht. Aber wenn er von der Natur zu viel Blödheit erwischt hat, funktioniert der Trick nicht.
„Hier Professor Bernhard!“, wiederholte er. „Unbekannte Flugobjekte, sogenannte UFOs landen auf dem Bocksberg. Ich rufe von der Sternwarte an. Dies ist ernst. Um Gottes Willen, Wachtmeister, so tun Sie doch endlich was: Das ist der Ernstfall!“ Mit verstellter Stimme: „Sie schießen!“ Das Timing stimmte, denn gleichzeitig kamen aus den beiden Stereolautsprechern des Radiorekorders Detonationsgeräusche. Sie genügten. Der Polizist musste annehmen, dass hier oben im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los war. Phillip Morris als Professor Bernhard: „Ich – ahhh…“ Er riss das Telefonkabel aus der Wand. Jetzt war hier alles tot. Endgültig. In der Telefonvermittlung, die um diese nachtschlafende Zeit nicht besetzt war, hatte er vorher bereits vorgesorgt. Dies hier war die letzte Verbindung mit der Außenwelt gewesen. Mit gutem Grund. Die Polizisten kannten Professor Bernhard, den sympathischen Astronomen, der als Chef des Observatoriums fungierte. Deshalb würden sie natürlich sofort versuchen, ihn zu erreichen. Und wenn das hier oben nicht mehr möglich war, versuchten sie es bei ihm daheim. Um sicher zu gehen, dass es sich nicht etwas um einen üblen Scherz handelt. Der Professor jedoch war am Abend in Urlaub gefahren. Natürlich ohne sich vorher bei der Polizei abzumelden. Wozu auch? Also würde sich in der Villa des Professors ebenfalls niemand melden. Phillip Morris nahm sich jetzt Zeit. Er straffte die hauchdünnen Seidenhandschuhe, mit denen er jegliche Fingerabdrücke vermieden hatte, stand auf und verließ mit dem Radiorekorder am langen Arm den Raum.
Natürlich hatte er den Rekorder vorher ausgeschaltet. Die chaotischen Töne gingen ihm nämlich auf die Nerven…
2
Phillip Morris war nicht der einzige in dieser Nacht, der unterwegs war, um andere Leute hereinzulegen. Er dachte flüchtig an seine Komplizen, als er in den Wagen stieg. Die Sache mit der Sternwarte hatte er persönlich übernommen, denn das war eigentlich das Wichtigste am ganzen Coup. Er grinste. Diese Nacht würde nicht nur in die Geschichte der Eifelstadt eingehen, sondern in die Kriminalgeschichte überhaupt. Er schaltete das Funkgerät ein und gab das verabredete Zeichen. Prompt wurde es erwidert. Das hieß, seine Leute waren zufrieden: Die Polizei war blitzschnell zu den Wagen geeilt und befand sich unterwegs. Der eine oder andere Polizist, der in dieser Nacht eigentlich frei hatte, wurde vom Alarm gewiss auch noch zusätzlich aus dem Bett geholt. Mit anderen Worten: Die Polizeiwache Eifelstadt war zu diesem Zeitpunkt bereits garantiert völlig verwaist! Abermals einen Blick auf die Uhr. Der Angriff konnte beginnen. Phillip Morris ließ den Motor an. Eile war nicht vonnöten. Die Streifenwagen würden mindestens eine Viertelstunde brauchen, um überhaupt nur auf dem Weg zu sein. Bis sie dann entdeckt hatten, dass sie jemand böse an der Nase herumgeführt hatte, war es für sie zu spät. Erst nach ihrer eiligen Rückkehr würden sie feststellen, welches Motiv die ganze Angelegenheit verfolgte - dann nämlich, wenn sie die ausgeraubte Bank vorfanden! Phillip Morris lachte schallend.
„Diese Dummköpfe!“, rief er gegen die Windschutzscheibe. „Ja, die Nacht der Nächte hat begonnen. So viel Geld wie heute Nacht war noch nie in der Bank zu holen gewesen. Die Bank von Eifelstadt wird danach ziemlich trostlos aussehen - mit dem aufgesprengten Tresor und der zertrümmerten Eingangstür! Während der Alarm in der Polizeiwache nutzlos ertönt, wird abgesahnt!“ Er war mit sich und seinem genialen Plan zufrieden und fuhr an. Der Wagen steuerte auf die Serpentinen zu, die hier heraufführten. Er brauchte keine Angst zu haben, den Streifenwagen zu begegnen, denn mitten drin gab es eine Abzweigung. Niemand würde ihn sehen und somit auch niemand jemals identifizieren können. Wenn er Eifelstadt nach getaner Arbeit wieder den Rücken gekehrt hatte, war er nicht mehr gefährdet. Gemütlich zuckelte Phillip Morris die Straße hinunter, bis er an die Abzweigung kam. Er stoppte, schaltete den Motor aus und kurbelte das Fenster herunter. Gebannt lauschte er. Tatsächlich, Polizeisirenen näherten sich mit rasendem Tempo. Die Polizei war sehr schnell. Doch das hatte Phillip Morris mit einkalkuliert. Seine Leute würden noch schneller sein. Die Polizisten machten einen solchen Lärm, dass sie selber die Sprengungen bei der Bank überhaupt nicht hören konnten! Und der Alarm würde sie sowieso nicht mehr erreichen können, solange sie der falschen Fährte nachjagten. Aber Phillip Morris hörte sie. Und in dieses Geräusch mischte sich noch ein Laut. Er war viel lauter als alles andere und nicht nur deshalb, weil er seinen Ursprung in der Nähe hatte. Sein Kopf ruckte herum. Von hier aus konnte er zwar die Sternwarte nicht sehen, aber er sah den Feuerschein. Sein Ohr erreichte ein eigenartiges Zirpen, das anschwoll zu einem Donnern und
Brausen. Im nächsten Moment verwandelte sich das Observatorium vom Bocksberg in einen feurigen Glutball, der auseinanderplatzte und eine donnernde Wolke in den Himmel jagte, wo sie pilzförmig aufquoll. Das Ganze hatte verdächtige Ähnlichkeit mit einem Atompilz, obwohl es keiner war. Bevor die Druckwelle den kleinen Wagen von Phillip Morris erreichte, gab der Gas und jagte wie von Furien gehetzt davon. Im Rückspiegel sah er die herabregnenden Trümmer: Überreste der ehemals so stolzen Sternwarte auf dem Bocksberg bei Eifelstadt! Der Wald rings um den Explosionsherd stand in hellen Flammen. Phillip Morris sah auch das. Er war zwar einerseits ein ausgebuffter Verbrecher, aber er verabscheute jegliche Gewalt gegen das Leben. Deshalb hatte er ja auch Betäubungsgas gegen die Besatzung der Sternwarte eingesetzt und keine härteren Maßnahmen. Es war einfach humaner gewesen. Der Tod dieser drei Leute hätte ihm nur unnötig ein schlechtes Gewissen beschert. Doch jetzt lebten sie nicht mehr. Weil jemand das ganze Observatorium in die Luft gesprengt hatte! Einfach so! Und er war sich hundertprozentig sicher, dass er selber nicht das Geringste damit zu tun hatte. Doch wer sonst? Und warum? Phillip Morris glaubte in diesem Augenblick tatsächlich, dass es sich um UFOS handelte, denn er hatte das eigenartige Zirpen gehört und die anderen Geräusche. Ähnlich wie aus seinem Rekorder, nur handelte es sich da um elektronische
Geräusche, um die Polizisten zu narren. Die Haare standen ihm steil zu Berge, obwohl sein klarer Menschenverstand sagen musste, dass nicht sein konnte, was er sich da ausmalte. Die Fantasie ging mit ihm offensichtlich durch! Er brauste davon und vergaß sogar den Bankraub, den in der Zwischenzeit seine Komplizen durchführten, ohne auch nur zu ahnen, dass längst alles eine völlig falsche Richtung eingenommen hatte, denn da mischte jemand oder etwas mit, den niemand hatte einkalkulieren können…
3
Karl Sekam machte das Fliegerzeichen für „alles in Ordnung“: Daumen nach oben! Henry Mallon, der immer nervös war, wenn es um etwas ging, Erik Sager und Ferd Dohmer waren seine Männer. Sie nickten ihm zu. Alles war bereit. Sie verließen den Lieferwagen, den sie vor drei Stunden im Nachbarort geklaut und bei dem sie die Kennzeichen ausgetauscht hatten, und rannten zur Bank hinüber. Sie waren Spezialisten. Mit Phillip Morris waren sie insgesamt fünf. Es würde dennoch genug für alle abspringen. Heute Nacht wurden drei Millionen Euro in der Bank von Eifelstadt zwischengelagert. Es handelte sich um ein eher unscheinbares Gemäuer, das früher einmal eine Poststation gewesen war. Jetzt hatte man die Wände verstärkt und Panzerglastüren vorn angebracht. Die Ganoven kratzte das nicht. Sie warfen ein Bündel Dynamit hinter das Gitter und rannten zur Seite.
Das Dynamit ging hoch, sprengte das Gitter in Fetzen und schmetterte die stabile Glastür aus dem Rahmen. Die Stichflamme ging zur Straße, und die Druckwelle verpuffte zwischen den Hän. Irgendwo klirrten Fensterscheiben. Auch das kratzte die Bankräuber nicht. Sie mussten schnell sein - und das waren sie auch. Sie hörten Polizeisirenen und wussten genau, dass sie nicht gemeint waren. Sofort stürmten drei durch die entstandene Lücke. Jeder trug ein weiteres Bündel Dynamit bei sich. Sonst hätten sie gleich umkehren können. Ohne Sprengungen ging es hier nicht. Zumindest nach ihrem Plan. Nur die Nachbarn würden gestört werden. Doch bis die begriffen und ihre Angst vor den Strumpfmaskenräubern überwunden hatten, war die Sache gelaufen. Außerdem hörten sie die Sirenen der Polizei und mussten annehmen, dass die schon den richtigen Tätern auf der Spur waren. Weit gefehlt! Karl Sekam, der draußen die Stellung hielt, lachte rau. Da warf er zufällig einen Blick zum Himmel - in die Richtung, in der die Sternwarte lag. Und er sah die Explosion dort oben! Dies war nicht nur die Nacht des Bankraubes, sondern offenbar auch die Nacht der Sprengungen! Die erkaltete Zigarette fiel ihm aus dem Mundwinkel. Er gaffte hinauf zu der donnernden Stichflamme, die wie eine blakende Riesenfackel wirkte und Tod und Verderben beinhaltete. Ihr Schein beleuchtete die tief hängenden Wolken und den emporschießenden Rauchpilz. „Das gibt es nicht!“, murmelte Karl Sekam.
Er kannte Phillip Morris, den sie auch den „Denker“ nannten, gut genug, um zu wissen, dass er einen solchen Gewaltakt niemals unternehmen würde! In die Polizeisirenen der Polizei mischten sich auch noch andere Sirenen. Die ganze Stadt war in Aufruhr, aber vor allem doch die Freiwillige Feuerwehr, die sich mobil machte, um zur Sternwarte hinaufzufahren. Dies hier war die absolute Sensation. Demgegenüber würde sogar der Millionenraub verblassen. Verblassen?, fragte er sich unwillkürlich. Und dann fiel bei ihm der Groschen: Man würde ihnen alles in die Schuhe schieben! Sie, die Bankräuber, würden in Verdacht geraten, das ganze Spektakel nur inszeniert zu haben, um seelenruhig und gelassen die Bank ausrauben zu können! Niemand würde daran zweifeln. Und hatte Phillip Morris nicht am Ende vielleicht tatsächlich…? Am liebsten hätte Karl Sekam jetzt seine Leute zurückgepfiffen, aber bis er den dreien klargemacht hätte, um was es ihm überhaupt ging, hätten sie ihn niedergeschlagen. Wo gab es denn so etwas, einen mitten im Bankraub zu stören? Deshalb blieb Karl Sekam an seinem Platz und versuchte, die Zusammenhänge zu begreifen. Phillip Morris musste es getan haben. Eine andere Möglichkeit wollte ihm einfach nicht einfallen. Aber warum? Und falls er es vielleicht doch nicht war, was ihm eher unwahrscheinlich vorkam: Wer kam denn ansonsten in Frage? Wer mischte in dieser Nacht mit? Wer waren die Unbekannten? Karl Sekam bekam eine dicke Gänsehaut und konnte das nicht verhindern. *
Sie waren bis zum Tresorraum vorgedrungen. Der Tresorraum war für sie schließlich das Wichtigste überhaupt. Klar. Weil dort eben das Geld lagerte. Der dicke Ferd Dohmer, immer gefräßig, aber ein Experte in Sachen Tresore, hatte alle genau angewiesen. Deshalb wussten sie, was zu tun war. Die Tresortür befand sich in einem kleinen Vorraum, und dieser Vorraum wiederum wurde von der Treppe durch ein Gitter abgegrenzt. Ferd Dohmer legte zwei Dynamitstangen auf das Schloss. Sie rannten die Treppe hoch. Die Zündschnur zischte hinter ihnen wie eine gereizte Schlange. Kaum waren sie in Deckung, als die Stangen hochgingen und das Gitter aufsprengten. Sie wollten wieder hinunterrennen, aber da blickte Karl Sekam zu ihnen herein. Er wirkte seltsam blass um die Nase, dass es regelrecht zu leuchten schien, und seine Lippen mahlten, als wollte er etwas sagen, was er aber nicht herausbringen konnte - aus welchen Gründen auch immer. Die Bankräuber hatten keinen Sinn dafür, sich mit solchen Albernheiten abzugeben, wie sie meinten. Sie rannten wieder hinunter und wandten sich der Tresortür zu. Dahinter wartete immerhin das liebe Geld: Drei Millionen in bar! Ferd Dohmer sprach es laut aus: „Drei Millionen!“ Wie viele Steaks konnte er sich eigentlich davon kaufen? Sie brachten die restlichen Ladungen an. Das musste reichen, sonst war der ganze Aufwand umsonst. Aber mehr hatten sie nicht verwenden dürfen, sonst sprengten sie das Gebäude in die Luft - und sich mit! Sie rannten mal wieder die Treppe hinauf in den Schalterraum.
Karl Sekam stand noch immer im Eingang. Wenn er sich nicht zurückzog, wurde er von der herauf donnernden Druckwelle von den Beinen gefegt. „Vorsicht!“, brüllte Ferd Dohmer ihn an. Er war immer der letzte, wenn sie die Treppe hinaufrannten, und hatte die Zündschnüre auch so berechnet, dass er es gerade noch schaffte, sich in Deckung zu werfen. Karl Sekam vernachlässigte seinen Job. Das war klar. Unklar blieb, warum er das tat. Gab es eine Gefahr von draußen oder was? Keine Zeit, sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Sie warfen sich in Deckung und pressten die Hände gegen die Ohren. Verdammt, wenn Karl Sekam nicht abhaute, dann ging es ihm schlecht. Die Druckwelle würde ihm die Trommelfelle zerreißen, und jeden Augenblick konnte die furchtbare Detonation erfolgen. Draußen heulten die Sirenen wie im Krieg. Als würden sie kurz vor einem Bombenangriff stehen. Karl Sekam verschwand endlich, und Erik Sager, der kühle Blonde aus Norddeutschland, dachte sich: Die Sirenen zeigen, dass unser guter Phillip auf Draht ist. Er hat den Kaffern hier so die Hölle heiß gemacht, dass sie sich tatsächlich wie im Krieg fühlen müssen. Invasion vom Mars, hahahaha! Die Sprengladung gab ihr Bestes. Sie donnerte und fauchte und schickte ihren Höllenodem über die Treppe in den Schalterraum. Schreibtische kippten um, kleinere Gegenstände wirbelten wie Herbstlaub zur Tür, eine der Scheiben bekam einen Sprung, und das Haus wackelte, als wollte es jeden Augenblick umfallen. Aber es hielt.
Erik Sager betrachtete den Sprung in der Scheibe und murmelte: „Das nennt sich dann deutsche Wertarbeit. Ist auch nicht mehr, was es einmal war!“ Mit den anderen hetzte er Richtung Keller. Karl Sekam erschien kurz vorher wieder in der Tür. Er hielt die Hände zu Fäusten geballt und machte ein dummes Gesicht, als könnte er nicht einmal bis drei zählen. Bis drei Millionen?, dachte Erik Sager unterwegs spöttisch. Die Tresortür hatte sich geöffnet. Zwar nur einen Spalt breit und war glühend heiß, aber den Rest konnten sie mit ihren behandschuhten Händen erledigen. Sie stemmten die schwere Tür auf und sahen das Geld: die Millionen! Sie waren in Stahlkassetten gebündelt. Jede Stahlkassette beinhaltete einhundert tausend Euro. Flüchtig dachte der nervöse Henry Mallon daran, wie Eifelstadt zu dieser Riesensumme gekommen war: Eine wirtschaftliche Transaktion sondersgleichen. Eigentlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber ein findiger Reporter hatte es dennoch herausbekommen. Eifelstadt war gewählt worden, damit es nicht noch mehr Staub aufwirbelte. Phillip Morris, der Denker, wie man ihn in seinen Kreisen nannte, hatte ausgerechnet, dass nur Eifelstadt in Frage kam. Hier lagerten die drei Millionen in bar ganze zwei Nächte, bis das internationale Konsortium mit der Verteilung beginnen konnte. Längst hatte es Streiks und Demonstrationen gegeben, weil Unbekannte sich in Deutschen Landen einkaufen wollten. Es war nach Meinung vieler schon zu viel Eigentum ans Ausland geraten. Kaum eine große Firma, die nicht unter ausländischer Schirmherrschaft arbeitete. Behaupteten sie zumindest. Und hier die großen Unbekannten, die selbst die findigsten Journalisten nicht enttarnen konnten.
Phillip Morris und seinen Leuten war es egal. Sie hatten nur die Moneten im Kopf und interessierten sich wenig für die Hintergründe. War schließlich nicht ihre Sache. Wichtig blieb, dass sie das Geld erst einmal bekamen! Drei Kassetten konnte jeder auf einmal tragen. Die Dinger waren sehr schwer, aber Ferd Dohmer hatte erklärt, dass er die mit einem Dosenöffner schaffte. Für ihn sei das kein Problem. Jeder sechshunderttausend echte Euro, weil Phillip Morris keinen Cent mehr kassieren wollte als seine Komplizen. Alles sollte gerecht verteilt werden. Da konnte man schon einmal mit einem Büchsenöffner an einer Kassette schuften! Es war das geringste Problem überhaupt. Die drei liefen die rußgeschwärzte Treppe hinauf, durchquerten den Schalterraum und erreichten den Ausgang. Karl Sekam stand da und deutete mit ausgestrecktem Arm zum Himmel. Zuerst sahen sie nur den blakenden Quam. Aber wieso konnten sie bei dem bedeckten Himmel überhaupt den Qualm sehen? Wegen dem Feuer! Aha? Der Wald um die Sternwarte musste lichterloh brennen. Natürlich konnte man das Observatorium von hier aus nicht sehen. Aber dort musste sich eine furchtbare Katastrophe ereignet haben! Die drei sperrten Mund und Augen auf. Karl Sekam sagte: „Phillip hat die Sternwarte in die Luft gesprengt, Jungs. Ich kann es nicht begreifen!“ Ferd Dohmer schluckte schwer. Er fasste sich als erster: „Mir jetzt schnurz-piep-egal! Ich habe gute Arbeit geleistet und will mich jetzt
nicht auch noch um meinen guten Lohn bringen!“ Die anderen gaben ihm vollkommen recht, schüttelten die Köpfe über Karl Sekams Gebahren, der etwas ändern wollte, was nicht mehr zu ändern war, und liefen weiter zum Lieferwagen. An den Fenstern der Nachbarhä zeigte sich nichts. Dachten sie wenigstens. Aber sie konnten deshalb nichts sehen, weil es zu dunkel war. Die Nachbarn waren nämlich allesamt hellwach. Kein Wunder, bei diesem Höllenlärm in dieser Nacht. Da wurden selbst die auf dem Friedhof munter. „Diebe, Räuber, Mörder!“, keifte plötzlich ein altes Weib, schwang einen Stock und stürzte aus dem dunklen Hausgang gegenüber der Bank. Sie erreichte Ferd Dohmer als ersten, weil der am langsamsten war, und drosch auf ihn ein. Doch er hatte im wahrsten Sinne des Wortes ein dickes Fell und konnte einen Stockhieb durchaus vertragen, ohne Schaden zu nehmen. Karl Sekam entsann sich endlich seiner Rolle und entwand der Alten ihren Stock. Sie drohte jetzt nur noch mit dem knorpeligen Zeigefinger, weil der Stock im hohen Bogen davonflog. „Tut mir leid, Oma, aber du solltest dich jetzt wirklich wieder zurückziehen“, knurrte er. „Banküberfälle sind für alte Leute nichts mehr!“ Die Alte ließ sich nicht beeindrucken und keifte weiter, während die anderen Ganoven ihre Kassetten im Lieferwagen verstauten und wegrannten, um den Rest zu holen. Jetzt wurden auch noch andere Rufe laut. Karl Sekam zog die Waffe, die er nicht nur zur Zierde bei sich trug, und gab zwei Warnschüsse ab. Die Leute zogen schleunigst ihre Köpfe ein. Nur die alte Frau blieb, wo sie war.
„Mir kannst du nicht beeindrucken!“, keifte sie. „Mich!“, verbesserte Karl Sekam automatisch. „Nein, mir!“ „Ich meine, das heißt nicht mir, sondern mich!“ „Dich will ja niemand beeindrucken. Warte nur, ich hole meinen Stock wieder. Dann kannst du was erleben!“ Es dauerte eine Weile, bis die alte Frau ihren Stock wieder an sich genommen hatte. In der Zwischenzeit waren die Bankräuber fertig. Sie hatten sämtliche Kassetten verstaut und wollten in den Lieferwagen springen, um davon zu brausen. Es hatte jemand etwas dagegen! Nicht nur die alte Frau, die sich gerade nach ihrem Stock bückte, den sie mit viel Mühe erreicht hatte, sondern drei Maskierte, die aus dem Halbdunkel des dürftigen Straßenlichtes auftauchten und ihre Pistolen zeigten. Karl Sekam fiel im Moment nicht viel ein, außer: „Die haben das Feuerwerk am Observatorium veranstaltet und wollen uns jetzt das Geld abluchsen!“ Da hatte er aber auch noch ein Wörtchen mitzureden! Aus den Krimiserien im Fernsehen hatte er eine ganze Menge gelernt. Und er machte es jetzt wie die gängigen Vorbilder, indem er sich zu Boden fallen ließ, gleichzeitig feuerte, zur Seite abrollte, wieder feuerte, weiterrollte, ein drittes Mal schoss… Er traf nur ein einziges Mal, aber dann nicht zu knapp. Karl Sekam hatte bei dem Coup nicht umsonst Wachtposten bezogen, während seine Kumpane eingebrohen waren. Das hatte seinen Grund, denn Karl Sekam war unter ihnen der Kämpfer. Er war ein grandioser Schütze und hatte einige
Auszeichnungen dafür erhalten. Das zahlte sich jetzt aus. Blitzschnell sprangen die beiden Überlebenden in Deckung. Von dort aus feuerten sie zurück. Mallon, Sager und Dohmer waren so schlau, die Köpfe einzuziehen. Sie wurden nicht getroffen. Aber mit dem Wagen konnten sie nicht abhauen. Weit wären sie nicht gekommen. „Aussteigen!“, brüllte jemand. Ein anderer fügte hinzu: „Euch geschieht nichts, wenn ihr gehorcht!“ Karl Sekam hätte es nicht getan, aber seine Kumpane hingen anscheinend mehr am Leben. Sie ließen sich aus dem Lieferwagen fallen und krabbelten auf allen vieren davon. Selbst Ferd Dohmer brachte das fertig. Man hätte ihm das niemals zugetraut. Aber es ging halt um sein nacktes Leben. Plötzlich waren noch mehr von den Maskierten da. Karl Sekam hätte gern wieder geschossen, aber es hätte überhaupt nichts genutzt. Die Maskierten hatten es nicht auf sie abgesehen, sondern nur auf das Geld. Vier stiegen in den Lieferwagen ein und die anderen verschwanden wieder so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren. Den von Karl Sekam Getroffenen nahmen sie einfach mit. Die alte Frau stand mit ihrem Stock abseits und wog ihn unschlüssig in der Hand. Sie begriff überhaupt nicht, was geschehen war.
Karl Sekam konnte mit ihr fühlen. Er wusste auch nicht, wie ihnen geschehen war. Sie lagen am Boden und mussten begreifen, dass man ihnen soeben drei Millionen Euro abgeluchst hatte, einfach so, im Handstreich. Das war nicht nur zum Weinen, sondern zum Brüllen und Schreien! Aber sie konnten nicht bis zum Morgengrauen hier liegenbleiben, sondern mussten an die Polizei denken, die irgendwann zurückkehrte. Karl Sekam sprang auf und suchte nach seinen Gefährten. Die Alte wurde wieder aktiv, aber es nutzte ihr nichts, dass sie den Stock schwang und unflätige Drohungen ausstieß. Die vier Bankräuber waren schneller. Die Dunkelheit verschluckte sie.
4
Auch Spezialagenten müssen einmal schlafen!, dachte KC9, alias Konrad Clasen, als das Telefon klingelte und er sich müde herumwälzte. Ein Blick zum Fenster. Draußen herrschte noch finstere Nacht. Für einen Mann wie ihn, der es gewohnt war, morgens um neun Uhr erst aufzustehen, war es unzumutbar, um diese Zeit geweckt zu werden. Aber was sollte er machen: Das Telefon hörte erst auf, wenn er abhob! „Ja?“, murmelte er brüchig in die Hörermuschel. „Wer ist da?“ „Na, wer schon? Das hören Sie doch!“ „Verdammt, Clasen, ich habe jetzt wirklich keinen Sinn für Ihre Scherze.“ „Wer sind Sie denn, Sie humorloser Störenfried? Wecken mich mitten in der Nacht auf, um mich zu beleidigen? Macht nichts: Mein Telefon hat sowieso geklingelt!“
„Herrje, Clasen, ich bin es! Aufwachen!“ Konrad Clasen wusste es längst, aber er hatte ein besonderes Verhältnis zu Steinbach, seinem Boss. Deshalb wollte er es diesem heimzahlen, dass er es gewagt hatte, seinen schönen Schlaf zu stören. „Das kann ja jeder sagen!“ „In dreieinhalb Sekunden sind Sie bei mir in der Stiftung. Es ist äußerst brisant!“ Es knackte in der Leitung. Konrad Clasen hieb den Hörer auf die Gabel zurück, dass es krachte. „Scheißjob!“, fluchte er und schaltete das Licht ein. Das stach ganz schön in die Augen. „Was kann denn schon viel iert sein? Hoffentlich hat man die Stiftung endlich in die Luft gejagt!“ Dass es etwas mit Sprengungen zu tun hatte, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal. Es war eine reine Spekulation, geboren aus seinem Wunschdenken. Eine Sekunde war schon um - mindestens. KC9 wurde endlich mobil. Er schnellte aus dem Bett und stürzte sich auf die Kleider wie ein Geier auf frisches Aas. Bei ihm lag alles bereit, weil er nie wusste, wann es Dr. Steinbach einfallen würde, ihn abzuberufen. KC9, alias Konrad Clasen, war ihr Trumpf-As. Steinbach hatte es einmal so formuliert: „Wir sind allesamt Wissenschaftler. Weltfremd, wenn Sie so wollen. Sie aber stehen mit beiden Beinen im Leben. Sie sind hochintelligent, sehr begabt, wissenschaftlich-technisch vorgebildet und ein Draufgänger. Wenn wir Sie nicht engagieren, enden Sie vielleicht eines Tages als Gangster. Das wollen wir doch nicht, oder? Arbeiten Sie für uns, werten Sie in der Praxis das aus, was wir an Grundlagen schaffen.
Die Dinge, die wir entwickeln, eignen sich nicht für den Hausgebrauch, aber in den Händen der richtigen Leute sind sie unschätzbare Waffen. Wir sind die Steinbach-Stiftung und Sie sind unser verlängerter Arm nach draußen!“ Was für Wunderdinge die in der Stiftung schon produziert hatten, davon wusste Konrad Clasen ein Lied zu singen. Paradepferd war der sogenannte Piepmatz. So wurde das Ding jedenfalls von Clasens Freund Peter Bell genannt. Peter Bell mischte meistens mit. Sie galten als unzertrennliche Freunde, obwohl sie sich die meiste Zeit stritten. Vor allem hatte Peter Bell keine Ahnung von der Stiftung. Der Kreis der Eingeweihten musste sich zwangsläufig klein halten, damit die Stiftung selbst niemals gefährdet war. Wenn KC9 eingriff, dann ging es immer um große Fische. Er war kein Mann für Kleinigkeiten, sondern für Angelegenheiten, die nur er - mit der technischen und wissenschaftlichen Unterstützung der Steinbachstiftung in Saarbrücken selbstverständlich – bewältigen konnte. Er war so schnell angezogen wie ein Verwandlungskünstler. Zwar gelang es ihm nicht, die dreieinhalb Sekunden einzuhalten, aber das lag in erster Linie daran, dass er von der Halbergstraße in Saarbrücken aus die halbe Stadt durchfahren musste, um zur Stiftung zu gelangen. Als er das Apartmenthaus Nr. 66 verließ, überlegte er, ob es nicht ein Fehler war, Peter Bell im Ungewissen zu lassen. Aber er würde den Freund auch noch später informieren können, wenn er selber wusste, um was es ging. Er lief zu seinem Auto, klemmte sich hinter das Steuer und brauste los. Steinbach war gewiss schon ungeduldig. Von Müdigkeit war bei Konrad Clasen nichts mehr zu spüren. Die Erregung, die ihn vor jedem Auftrag befiel, hielt ihn auch diesmal gepackt. Steinbach hatte einmal gesagt, dass jeder Held im Grunde genommen ein
Wahnsinniger sein musste. Kein normaler Mensch würde sich auf den Einsatz seines Lebens freuen. Aber solche Menschen wurden ebenfalls benötigt! Konrad Clasen war kein Typ für hinter den Ofen. Er war noch nicht einmal ein Typ für vor den Fernseher. Er hatte seine Erlebnisse in der Wirklichkeit. Und es waren Erlebnisse, bei denen er anderen Menschen half und ihnen keinen Schaden zufügte! Es sei denn, es handelte sich um welche, denen es selber gar nichts ausmachte, andere über die Klinge springen zu lassen. Darin war Konrad Clasen äußerst empfindlich! * Dr. Steinbach war ein bärbeißiger, im Grunde genommen sehr unwissenschaftlich aussehender älterer Herr, der KC9 über die Brille hinweg anschaute und kein einziges Wort zur Begrüßung sagte. Konrad auch nicht! Er trat ein und nahm einfach Platz. Die langen Beine streckte er von sich. Die Arme verschränkte er vor der Brust. Der Doktor schüttelte missbilligend den Kopf. „Ich möchte wissen, wie lange es dauern würde, Ihnen anständiges Benehmen beizubringen!“ „Stars haben immer ihre Allüren, Doktor. Daran müssen Sie sich gewöhnen. Die Leser wollen das so!“ Steinbach runzelte die Stirn, rückte seine Brille zurecht und begann in seiner direkten Art zu erzählen: „Vor zwei Stunden bekam der Polizeiposten in Eifelstadt einen Anruf vom Chef der Sternwarte. Es wurde von Professor Bernhard behauptet, dass sie UFOs gesichtet hätten, die die Sternwarte angriffen. Die Polizei war…“ Konrad zog die Beine an und machte ungläubig:
„Wie bitte?“ „Sie hören schon richtig, KC9! Also, die Polizisten liefen zu ihren Fahrzeugen, da der Anruf recht überzeugend war und von seltsamen Geräuschen begleitet wurde. Sie wollten wissen, was dort oben los war. Die Sternwarte liegt auf dem Bocksberg bei Eifelstadt - oder sollte ich besser sagen: lag? Denn es gibt sie nicht mehr! Dort, wo sie sich befunden hat, existiert jetzt ein rauchender Krater.“ KC9 blies die Wangen auf. „Das ist ja ein Ding!“ Steinbach entgegnete ärgerlich: „Habe ich mir auch gedacht, und deshalb sind Sie hier.“ „Wegen der UFOs? Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, was? Ich glaube, es ist doch besser, ich lege mich wieder ins Bett und versuche…“ „Nichts dergleichen werden Sie tun, KC9 - außer mir zuzuhören!“ „Jawohl, Sir!“ Das ärgerte Steinbach noch mehr. Er musste sich zusammenreißen. „Während die Polizei und die Feuerwehr nach dem Rechten sahen, wurde die Bank von Eifelstadt ausgeraubt. Dort befanden sich die ominösen drei Millionen, die in der Sensationspresse so viel Staub aufgewirbelt haben: besonders in der…“ „Keine Namen!“, warnte KC9 schnell. Steinbach winkte ab. „Ist ja schon gut. So etwas lese ich sowieso nicht!“ „Nun, Sie als Wissenschaftler…“ „Jetzt ist es aber genug, KC9! Sie bringen mich ganz aus dem Konzept!“
KC9 grinste und lehnte sich wieder mit vor der Brust verschränkten Armen zurück. Jetzt hatte Steinbach seiner Meinung nach genug unter der nächtlichen Weckaktion gelitten. Jetzt durfte er wieder ernst werden. „Eine alte Dame hat der Polizei gegenüber behauptet, die eigentlichen Bankräuber wären gar nicht mehr im Besitz des Geldes, denn andere wären plötzlich aufgetaucht und hätten ihnen das Geld abgejagt. Dabei hätte es sogar einen Toten gegeben. Es finden sich auf der Straße vor der Bank tatsächlich Blutspuren. Ansonsten sieht die Bank wie nach einem Bombenattentat aus. Vielleicht sogar schlimmer.“ „Und ich weiß immer noch nicht, was ich bei dieser Angelegenheit tun soll.“ Dr. Steinbach stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und drückte die Fingerspitzen beider Hände zu einem spitzen Dach zusammen. Über den Brillenrand fixierte er Konrad Clasen. „Es geht natürlich nicht um UFOs. Das dürfte jedem vernünftig denkenden Menschen klar sein.“ „Jedoch?“ „Es geht auch nicht um die drei Millionen. Dafür sind Polizei und andere Institutionen zuständig.“ „Sie sehen mich gespannt wie ein Regenschirm!“ „Es geht um die spektakuläre Tat als solche und um die Leute, die dahinterstecken!“ Konrad Clasen hatte auf einmal so eine schlimme Ahnung. Er vergaß, weiterhin Scherze zu machen. „Die Szene des internationalen organisierten Verbrechens!“ „Ja!“ Dr. Steinbach nickte ernst. „Mit diesen Leuten hatten wir schon zu tun. Wissen Sie, was ich glaube, KC9?“
„Was?“ „Das Schicksal hat die Steinbachstiftung entstehen lassen, weil es einen mächtigen Gegner der Menschheit gibt. Dieser Gegner kommt nicht aus dem Weltraum. Das ist ein Hirngespinst. Dieser Gegner kommt aus den Reihen der Menschen selber! Wir sind ein wichtiges Gegengewicht und werden in Zukunft sicherlich noch stärker als in der Vergangenheit mit Terror und Gewalt aus den Reihen der international organisierten Banden zu tun haben.“ „Und wissen Sie, was ich glaube, Dr. Steinbach?“, fragte KC9 grimmig. Er wartete eine Antwort erst gar nicht ab und antwortete selber: „Dass es über den internationalen Verflechtungen krimineller Vereinigungen eine Art Dachorganisation gibt, die entweder die absolute Weltherrschaft oder zumindest das weltweite Chaos im Sinn hat!“ Er beugte sich vor und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch seines Chefs: „Es sind die Hintermänner der Terroristen, die vor kurzem den Atomreaktor in der Lüneburger Heide haben hochgehen lassen! Das zeigte uns, zu was die fähig sind. Und es sind dieselben, die diese drei Millionen nach Deutschland transferierten, um die deutsche Wirtschaft zu unterwandern - wie es in anderen Ländern gewiss ebenfalls geschieht.“ „Mit drei Millionen?“, zweifelte Dr. Steinbach. „Ich glaube, das wäre zu wenig.“ „Wer sagt Ihnen denn, Dr. Steinbach, dass das die einzigen Gelder sind? Ich nehme an, es kommt Häppchenweise in deutsche Lande. Die drei Millionen sind ein einziger Happen, der unseren findigen Journalisten auffiel.“ Konrad Clasen stand auf. „Und was nun, Dr. Steinbach?“ Der Chef der Steinbachstiftung - er war gleichzeitig der Gründer dieser ungewöhnlichen Institution! - stand ebenfalls auf.
„Im Grunde genommen haben Sie sich den Auftrag bereits selber gegeben, KC9. Sie sollen die Zusammenhänge klären! Vergessen Sie dabei nie, dass die Stiftung geheim bleiben muss. Sie dürfen keine Enttarnung riskieren. Außerdem dürfen Sie nicht mit der Unterstützung der Polizei rechnen.“ „Als was trete ich auf?“ „Als Privatdetektiv diesmal - mit unbekanntem Auftraggeber!“ „Und meine Ausrüstung?“ „Sie wird reichhaltig und fantastisch sein - wie immer!“ Dr. Steinbach grinste schief. „Kommen Sie mit, KC9, ich werde sie Ihnen zeigen, damit Sie gleich los fahren können. Peter Bell können Sie ja unterwegs aufgabeln. Er ahnt noch nichts von seinem Glück.“ „Richtung Eifelstadt?“ „Ja, KC9 - Richtung Eifelstadt! Ich wünsche euch beiden jetzt schon viel Glück bei allem. Und vergessen Sie nicht, dass wir Sie gern gesund wieder hier hätten. Der Gegner darf nicht unterschätzt werden. Er ist ein unglaublicher Machtfaktor mit immensen Möglichkeiten und wenig Skrupel!“ Gemeinsam verließen sie das Allerheiligste.
5
Phillip Morris brauchte eine Weile, bis sein aufgewühltes Inneres endlich zur Ruhe kam. Natürlich, das war Unsinn mit den UFOs. Das hatte er sich schließlich selber ausgedacht. Aber jemand hatte den Spieß umgedreht!
Phillip Morris fuhr nach Hause. Er wohnte nur wenige Kilometer von Eifelstadt entfernt im Nachbarort Grünbach. Deshalb war er auch so gut informiert gewesen. Kaum betrat er das Wohnzimmer seines Häuschens, als das Telefon klingelte. Phillip Morris war ein angesehener Bürger des Ortes. Er galt als ein Mann mit Schrullen, der in seinem wildbewegten Geschäftsleben viel Geld gemacht und sich nunmehr zur Ruhe gesetzt hatte. Die Leute indessen, die bei ihm aus und ein gingen, wurden von den Nachbarn in der Regel nie gesehen, da sie Phillip Morris meistens des Nachts besuchten. Er hob den Hörer ab, ohne zu zögern, denn er ahnte, dass es seine Leute sein mussten. Und in der Tat: Karl Sekam war auf der anderen Seite der Leitung! „Ganz kurz, Boss“, sagte er hastig, „ich rufe von einer Telefonzelle am Ortsrand an und habe nicht viel Zeit. Wahrscheinlich wird die Polizei in Kürze alles abgeriegelt haben, während die Fahndungswelle nach den Gewalttätern rollt. Du warst das doch nicht mit der Sternwarte, nicht wahr?“ „Nein!“, antwortete Phillip Morris knapp. Er fragte sich indessen, wieso Karl Sekam so außer sich war. Was war denn noch iert? Karl Sekam sagte es ihm mit wenigen Worten: „Da war eine andere Bande, die uns das Geld abgeluchst hat. Einen legte ich um, aber die haben uns in Ruhe gelassen, haben sich noch nicht mal für die Leiche an uns gerächt.“ „Wie bitte?“, machte Phillip Morris entgeistert. Ja, das wurde ja immer toller. Und dann wurde ihm klar, dass sie das Geld nicht mehr hatten!
„Boss, ich rede kein Blech. Das sind Tatsachen. Die scheinen unseren Plan ziemlich genau gekannt zu haben und wollen uns wahrscheinlich alles in die Schuhe schieben.“ „Kommt sofort her!“ „Ja, wie denn? Die haben den Lieferwagen mitsamt den Moneten!“ „Ich hole euch ab!“ Er knallte den Hörer auf die Gabel und rannte zu seinem Auto. Unterwegs hätte er vor Wut und Enttäuschung losbrüllen mögen. Er, Phillip Morris, den sie den Denker nannten, hatte noch nie ein Gefängnis von innen gesehen - nicht einmal besuchsweise. Das war deshalb so, weil er niemals unnötige Risiken eingegangen war. Er gehörte zu den sogenannten Gentleman-Gangstern, die keine Menschenleben gefährdeten und grundsätzlich sowieso vor Gewalt zurückschreckten. Phillip Morris hätte beispielsweise niemals mit Rauschgift gehandelt oder mit ähnlichen Erzschweinereien! Seine Taten waren meistens spektakulär, ihm niemals nachzuweisen und ohne Ausnahme wohldurchdacht. Bis auf diesmal, wo er seinen ganz offensichtlich Meister gefunden hatte! Die vier Ganoven kamen seinem Wagen zu Fuß entgegen. Als er mit abgeblendeten Scheinwerfern auftauchte, sprangen sie auf die Straße und winkten ihm zu. Phillip Morris hielt und ließ sie herein. Es wurde eng im Fond. Phillip Morris ließ sich die Story noch einmal erzählen. Er nahm nicht an, dass die ihn belogen. Schließlich war die Vernichtung der Sternwarte eine Tatsache.
Sie misstrauten sich nicht. Das wäre auch unsinnig gewesen. Tatsache blieb, dass eine andere Bande mit radikalen Methoden und scheinbar undurchsichtigen Motiven ihre Hände im Spiel hatte. „Wir fahren zu mir!“, entschied Philip Morris, der Denker. „Und dann halten wir Kriegsrat.“ „Wer war das?“, fragte Karl Sekam zähneknirschend. Er konnte es einfach nicht fassen und wollte nicht auf den Kriegsrat warten. Phillip Morris klärte ihn über seine Gedanken auf: „Die eigentlichen Besitzer der drei Millionen!“ murmelte er. „Was?“, entfuhr es den vieren. „Sie haben ihr Geld besser bewacht, als wir angenommen haben. Außerdem haben sie sich nicht auf die Polizei verlassen. Daran taten sie gut.“ „Aber wieso?“, widersprach Henry Mallon und knetete nervös die Finger, bis sie knackten. Ein hässliches Geräusch. Und Erik Sager, der kühle Blonde aus Norddeutschland, fügte mit unnachahmlichem Akzent hinzu: „Dafür hätten die niemals die Sternwarte in die Luft sprengen müssen!“ „t auf, Jungs, und lernt begreifen“, sagte ihr Boss. Er lachte humorlos: „Die drei Millionen sind sicherlich nicht das einzige Geld. Es ist nur ein Teil des Ganzen. Das hätten die Journalisten mit ihrer Bohrtechnik wahrscheinlich auch herausgekriegt. Die Sache hat schon viel zu viel Staub aufgewirbelt meinen die Unbekannten. Deshalb diese Aktion, die sie uns in die Schuhe schieben. Es ist eine Sensation, die alles andere in den Schatten stellt. Außerdem haben die Sündenböcke in uns. Das Manöver ist perfekt, nicht wahr? Zwei Fliegen mit einer Klappe: Alle
Sorgen los und das Geld wieder in der eigenen Tasche!“ „Das ist ein Ding!“, entfuhr es dem dicken Ferd Dohmer. „Äh, hast du daheim was zu futtern?“ Phillip Morris schüttelte nur den Kopf, weil er ob dieser Frage sprachlos war. Er gab Gas. * Bald hatten sie ihr Ziel erreicht. Unterwegs waren sie nicht aufgehalten worden. Sie waren schneller gewesen als die Polizei. Kein Wunder, denn die wussten im Moment überhaupt nicht, wo sie anpacken sollten. Obwohl Phillip annahm, dass es im Moment bereits unmöglich war, das Gebiet um die ehemalige Sternwarte Bocksberg zu verlassen. Der Absperring der Polizei würde sich langsam enger ziehen und sich am Ende nur noch auf Eifelstadt beschränken. Es war ihr Glück, dass sie hier, im Hause von Phillip Morris, Unterschlupf fanden. Dachten sie, aber als das Auto die Einfahrt hoch zum Hof rollte, sahen sie im Haus Licht. „Verdammt!“, entfuhr es Phillip Morris. „Hast du etwa vergessen, das Licht zu löschen?“, fragte Karl Sekam bang. „Nee, Karl, da ist Besuch!“ „Polizei!“, vermutete Henry Mallon und zitterte. „Ich glaube, es ist noch viel schlimmer, mein Freund.“ Das waren die pessimistischen Worte von Erik Sager.
Phillip Morris konnte sich dem nur anschließen. Er löschte die Scheinwerfer und zischte: „Raus!“ Sie stießen die Türen auf und hechteten ins Freie. Nichts geschah. Hatten sie wirklich angenommen, dass man auf sie schießen würde? Das Licht im Haus erlosch blitzschnell. Sie lagen am Boden, auf den kalten Betonplatten, und lauschten in die Nacht hinein. In der Nähe schrie ein Käuzchen. Das war das einzige Geräusch. Im Haus war alles ruhig. Phillip Morris sprang auf und rannte im Zickzack zur Hintertür. Das hätte dem älteren Mann niemand zugetraut. Aber er war ein drahtiger Typ, der im Keller ein regelrechtes Bodybuilding-Zentrum hatte, in dem er sich fit hielt. Zwar war er dabei kein Muskelprotz geworden, aber ein äußerst vitaler Fünfziger. Es kam einfach auf die Trainingsdosierung an! Er hatte die Hintertür noch nicht ganz erreicht, als sie aufsprang. Phillip Morris sah genau vor sich den züngelnden Mündungsblitz einer Waffe. Im letzten Augenblick ließ er sich fallen. Mit der Schulter kam er am Boden auf. Sein Sturz endete in einer großartigen Hechtrolle. Er kam wieder auf die Beine und fing sich mit vorgestreckten Händen an der Hauswand. Auch der zweite Schuss ging dabei ins Leere. Schnelle Schritte, die sich in der Dunkelheit verloren. Phillip Morris war sicher, dass sich niemand mehr im Haus befand. Er verfolgte den oder die Davoneilenden nicht, sondern sprang ins Haus, während er hinter sich den Schrei von Sekam hörte: „Schießt in seine Richtung!“
Henry Mallon widersprach ihm: „Wir treffen uns eher gegenseitig. Es ist zu dunkel. Verdammt, wenn doch nur der Mond sichtbar wäre.“ Den Rest bekam Phillip Morris nicht mehr mit. Er hatte den Schalter für die Außenbeleuchtung erreicht und ließ die Lampen aufflammen. Vier Birnen, die den Hof wie eine Flutlichtanlage erhellten. Ein Schatten, der sich verzweifelt bemühte, rechtzeitig noch den Lichtkreis zu verlassen. Die vier Ganoven, noch immer am Boden kauernd, um nicht von einer verirrten Kugel getroffen zu werden, waren einen Moment lang geblendet. Dann spritzten sie auseinander, weil sie sich wie auf dem Präsentierteller vorkamen. Karl Sekam besaß als einziger den Nerv, seine Waffe einzusetzen und dem sichtbaren Flüchtling einen Schuss hinterher zu setzen. Im gleichen Augenblick hechtete der Mann ins Gebüsch. Sie hörten Rascheln und dann nichts mehr. Die vier rannten in breiter Front hin. Wenn dort jetzt jemand lauerte, der eine MP bei sich hatte, waren sie verloren. Aber damit rechneten sie nicht - jetzt nicht mehr! Sie glaubten eher, dass die Ratten das sinkende Schiff völlig verlassen hatten. In der Tat fanden sie nur ein paar Spuren, die sich rasch verloren. Sie hätten eine Handlampe gebraucht. Der oder die Gegner waren im Wald untergetaucht, denn das Haus von Phillip Morris stand allein und war von keiner Seite aus einsehbar. Der Weg, der zum Haus führte, war ein Privatweg, den außer ihm nur die zwei Bauern in der Nachbarschaft benutzten. Und die hatten gewiss nichts mitbekommen. Das naheste Gehöft war fünfzig Meter entfernt, doch die Landwirte hatten Besseres zu tun, als des Nachts Phillip Morris und seine ungebetenen Gäste zu beobachten. Dies waren haargenau die pessimistischen Gedanken des „Denkers“, als seine
Leute hereinkamen. Sie sagten kein Wort. Das bedeutete, dass sie erfolglos geblieben waren. Phillip Morris bedauerte es zum ersten Male, dass er prinzipiell keine Waffe trug und auch keine im Hause hatte. Er hasste diese brutalen Gangster, die ihm nicht nur das Geld abgeluchst hatten, sondern es auch sonst ganz und gar auf ihn abgesehen hatten. Was hatten sie überhaupt in seinem Haus gewollt? Dies war die zentrale Frage. Auf den Kriegsrat würden sie vorläufig verzichten. Viel dringlicher erschien es, das Haus zu durchsuchen, um einen Hinweis auf die Besucher zu finden. Denn ohne Grund hatten sie dem verlassenen Gebäude bestimmt keinen Besuch abgestattet.
6
Phillip Morris schloss überall die Läden und teilte seine Leute ein. Die Ganoven machten sich an die Arbeit. Alles erschien unverändert, als hätte es die Einbrecher überhaupt nicht gegeben. Auf jeden Fall fehlte nichts. Sie trafen sich im Wohnzimmer wieder. Da kam Phillip Morris blitzartig die Erkenntnis: „Nein, die haben weiß Gott nichts bei mir gesucht. Sie hätten auch nichts mitnehmen können, was für sie interessant gewesen wäre. Es gibt hier nicht einmal Gemälde, die einen Wert besessen hätten.“ „Aber was wollten sie sonst?“, begehrte Ferd Dohmer auf.
Sein Magen knurrte so laut wie ein gereizter Wolf. Es entging seinen Kumpanen nicht. Aber die waren daran gewöhnt. Phillip Morris beantwortete die Frage: „Die wollten nichts mitnehmen, sondern etwas hierlassen!“ Wie ein Mann sprangen sie auf. Sie würden erneut mit der Suche beginnen müssen - diesmal allerdings unter anderen Gesichtspunkten. In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Waren die Gangster zurückgekehrt? Die fünf rannten zur Hintertür. Sie hatten diese noch nicht erreicht, als sie aufgesprengt wurde - mit wütenden Fußtritten. Doch das waren keine Gangster, die mit vorgehaltener Waffe eindrangen und damit eindeutig Hausfriedensbruch begingen, sondern uniformierte Polizisten: Kernige Burschen mit entschlossenen Mienen, durchtrainiert und durchaus willens, einen Kampf zu gewinnen. Eine Spezialeinheit von Ganovenjägern, vor denen jeder Verbrecher zittern sollte. Sie waren eindeutig hier, um dem Denker und seiner Sippschaft im Sinne des Gesetzes den Garaus zu machen! * Kommissar Hänflein und sein Assistent Polizeimeister Peter Erti hatten die Spezialeinheit begleitet. Die harten Burschen dieser Einheit wurden im allgemeinen Jargon innerhalb der regulären Polizei schlicht „Eifelschreck“ genannt. Während der „Eifelschreck“ die fünf Ganoven in Schach hielt und einer die Männer nach Waffen durchsuchte, traten die beiden Kriminalen auf die Bildfläche.
Joseph Hänflein grinste über das verdutzte Gesicht von Phillip Morris. „Es ist recht spektakulär, ich weiß!“, knurrte er den „Denker“ an, „aber Sie haben sich diesmal auch ein recht spektakuläres Vorgehen erlaubt. Damit sind Sie deutlich über das Ziel hinausgeschossen, mein Lieber. Diesmal kriege ich Sie an den berühmten Kanthaken!“ Die Uniformierten fanden nur drei Waffen, die sie einsteckten. Die Ganoven durften sich setzen. Sie waren alle viel zu aufgewühlt, um auch nur ein einziges Wort zu sagen oder sich sogar irgendwie zur Wehr zu setzen. Nur Phillip Morris fasste sich relativ schnell und fand zu seiner gewohnten Ruhe zurück. „Wie soll ich das verstehen, Kommissar Hänflein?“ „Wir bekamen einen Tipp, nachdem die Sternwarte in die Luft gegangen war. Der Tipp stammt aus Eifelstadt. Da haben Sie einen Feind sitzen.“ „Ein anonymer Anruf, wie ich vermute?“ „Gewiss! Ich…“ „Nun, kann natürlich auch von Ihnen erfunden worden sein, um das hier, dieses skandalöse Eindringen mit diesen Barbaren von Polizisten, zu rechtfertigen. Ich bin gespannt, was Sie dazu noch zu sagen haben.“ Kommissar Hänflein blieb gelassen. Er lächelte sogar. „Weiter so, Phillip Morris, so kenne ich Sie und nicht anders. Hätte mich auch gewundert, einen resignierenden alten Mann vorzufinden.“ Auf die Bezeichnung „alter Mann“ reagierte Phillip Morris allgemein empfindlich. Diesmal jedoch beherrschte er sich meisterlich. Er wollte sich keine Blöße geben - vor allem vor seinem wichtigsten Gegenspieler Kommissar Hänflein nicht. Der Polizeibeamte versuchte nun schon seit Jahren, ihm das Handwerk zu legen. Bisher vergeblich.
Phillip Morris dachte an den Gangsterbesuch, und prompt wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Er glaubte zu wissen, was die hier getan hatten: Beweismittel verstaut! Phillip Morris bewahrte Haltung, wenngleich es schwerfiel. Hänflein wandte sich an den Leiter der Spezialtruppe. „Sie können jetzt mit der Durchsuchung beginnen. Achten Sie vor allem auf verborgene Safes und dergleichen…“ Der Mann mit dem kantigen Gesicht und den stahlblauen Augen, etwa im Alter von Phillip Morris und Joseph Hänflein, nickte grimmig und gab den Auftrag an seine Leute weiter. Kommissar Hänflein wartete lächelnd ab. Er erschien siegessicher. Das musste er auch sein, sonst wäre er nicht so hier eingedrungen. Eine Minute später tauchte einer der Polizisten mit einer dicken Aktentasche auf. Phillip Morris sah sofort, dass sie nicht ihm gehörte. „Stand unten im Fitnessraum!“, erläuterte der Polizist. Ein vernichtender Blick aus den Augen von Phillip Morris traf Henry Mallon, der unten alles durchsucht hatte. Aber er hatte annehmen müssen, die harmlos aussehende Aktentasche gehörte seinem Boss. „Schauen Sie doch mal hinein!“, riet der Polizist. Hänflein hatte es vor. Er nahm die Aktentasche in Empfang und öffnete sie. Da waren Papiere, fein säuberlich geordnet. Hänflein griff wahllos hinein und zog einen kleinen Packen hervor. Phillip Morris' Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während sein Herz bis zum Halse pochte.
Was hatten die da gefunden? Die erwarteten Beweise? Hänfleins Gesichtsausdruck erstarrte. Er schluckte schwer. Dann begann er aufgeregt zu blättern. „Nein!“, murmelte er fassungslos. „He, was ist los?“, rief Karl Sekam aus und kam damit seinem Boss zuvor. Phillip Morris sagte: „Die Tasche gehört mir nicht.“ Hänflein reagierte überhaupt nicht auf den Einwand. Er schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf, ordnete den Packen Papiere und steckte ihn wieder in die Tasche. „Sehr leichtsinnig von Ihnen, Herr Morris!“ Er stand auf. Dann rief er mit lauter Stimme: „Sie können die Suche getrost einstellen, denn ich habe bereits alles!“ Er klopfte auf die Aktentasche. „Damit wollten Sie wohl gerade verschwinden? Als hätten Sie etwas von unserem Kommen geahnt! Aber Sie hatten Pech, Herr Morris. Diesmal ist das Spiel aus. Darin haben Sie die genauen Pläne für einige Straftaten aus der Vergangenheit - Straftaten, von denen ich nicht einmal etwas wusste!“ Phillip Morris hatte das Gefühl, eine Welt würde zusammenbrechen. Was waren das für Pläne? Er war sicher, dass er sie noch nie zuvor gesehen hatte und dass er auch von den Straftaten keinen blassen Schimmer besaß. Die wollten ihm nicht nur die Sache in Eifelstadt in die Schuhe schieben, sondern auch noch eine ganze Reihe anderer „Dinger“, mit denen er absolut nichts zu tun hatte. Sorgfältig ausgeklügelt. Wahrscheinlich hatte er für keine der aufgezeichneten Straftaten ein Alibi. Der absolute Bankrott! Die Sensation war so groß, dass kein Mensch mehr
danach fragen würde, woher die drei Millionen gekommen waren! Als hätte Hänflein seine Gedanken erraten, sagte er vor dem Gehen zu Phillip Morris: „Ich hätte niemals gedacht, dass die drei Millionen von Ihnen stammten, obwohl es logisch erscheint! Sie müssen mir noch erzählen, warum Sie Ihr eigenes Geld gestohlen haben!“ Phillip Morris schluckte schwer. Er sagte nichts. Was sollte er auch sagen? Er saß so tief in der Tinte, dass es tiefer überhaupt nicht mehr ging. Selbst seine Kumpane mussten annehmen, dass er sie ganz schön hereingelegt hatte. Nach der letzten Bemerkung des Kommissars würden sie nämlich ebenfalls zu denken beginnen und die Unbekannten schließlich in Zusammenhang mit ihrem Boss bringen. Es gab gegenüber den vier Ganoven nur ein einziges Argument auf der Seite von Phillip Morris: Die Unbekannten, die in das Haus eingebrochen waren! Aber sogar dafür fand sich eine Erklärung: Morris hatte das nur in Szene gesetzt, um vor den Augen seiner Komplizen bestehen zu können! Eine verdammt harte Sache. Wäre es möglich gewesen, hätte Phillip Morris in diesen Minuten ohne mit der Wimper zu zucken Selbstmord begangen. So aber war er schlagartig einer der am besten bewachten und behüteten Männer dieses Landes geworden! Eine zweifelhafte Ehre allerdings!
7
Konrad Clasen, alias KC9, und sein Freund Peter Bell erreichten Eifelstadt in den frühen Morgenstunden. Die Kleinstadt fiel durch Hektik auf. Das war eine Lebensart, die nicht in diese Umgebung te und ihren Ursprung offensichtlich in den nächtlichen Ereignissen hatte.
Konrad hatte Peter über die Zusammenhänge ins Bild gesetzt und brauchte nichts mehr zu erklären. Peter Bell wusste jetzt so viel über ihre Ausgangsposition wie Konrad. Auf dem Marktplatz von Eifelstadt wurde ein Extrablatt verkauft. Die Kleinstädter betrachteten die Ankömmlinge mit dem Saarbrücker Kennzeichen voller Misstrauen. Wieso verirrte sich ein Saarbrücker in ihr Kaff? Dies hier war doch keinen Ausflug wert. Oder begann Eifelstadt sich zu einem Fremdenverkehrsort zu entwickeln, weil hier zweifelhafte Dinge vorgefallen waren? Konrad Clasen und Peter Bell taten gerade so, als würden sie die misstrauischen Blicke nicht sehen. Sie hielten neben dem Jungen, der Extrablätter verteilte und dabei immer wieder schrie: „Extrablatt: Eifeltäter geschnappt! - Riesensensation und Riesenscheiße! Extrablatt!“ Die Lokalzeitung war offenbar recht rührig und hatte den allgemeinen Nachrichten auch noch dieses im wahrsten Sinne des Wortes Sensationsblatt hinzugefügt. Das Geschäft mit den sensationellen Informationen blühte. Auch Konrad Clasen und Peter Bell kauften sich ein solches Blatt. Erfahrungsgemäß konnte man sich gar nicht besser informieren. Manche Journalisten hörten bereits das Gras wachsen, wenn es noch gar nicht gesät war. Um sich ein allgemeines Bild von der Sachlage zu verschaffen, konnten die beiden Agenten gar keinen besseren Weg beschreiten. Sie lasen: „STERNWARTE IN DIE LUFT GESPRENGT!“ Untertitel: „Dreister Bankraub brutaler Verbrecher!“ Der Artikel, zunächst fettgedruckt:
„Eigener Bericht! — In der letzten Nacht ereignete sich der wohl brutalste und dabei dreisteste Banküberfall in der Geschichte dieses Landes. Doch die Polizei fasste die Täter in einer beispiellosen Aktion binnen einer Stunde. Der zuständige Kommissar Joseph Hänflein: Ohne die Spezialeinheit, die wir scherzhaft und mit gutmütigem Spott >Eifelschreck< nennen, hätten wir es dennoch nicht geschafft. Die Verbrecher waren bewaffnet und zu allem entschlossen. Kein Wunder, nach einer solch miesen Tat, die immerhin mindestens drei unschuldige Opfer gekostet hat!“ Im normalen Druck ging es weiter: „Es geschah mitten in der Nacht. Langweiliger Dienst im Observatorium Bocksberg bei Eifelstadt. Durch die Gänge schleicht ein gemeiner Verbrecher. Er hat etwas vor. Nur er selber weiß von der scheußlichen Tat, die er zu begehen bereit ist. Die drei Diensthabenden im Observatorium sind arglos. Mit einem gemeinen Lächeln stößt er die Tür auf. Seine Waffe spuckt Tod und Verderben. Die Opfer liegen in ihrem eigenen Blut. Doch damit nicht genug: Der brutale Mörder, diese Bestie in Menschengestalt mit Namen Phillip Morris, allgemein als guter Bürger unseres Landes angesehen, was aber nur eine schöne Maske ist, hat seine Tat noch nicht vollendet. Er geht zum Telefon und ruft die Polizeidienststelle an. Mit Schauergeräuschen vom Tonband und verstellter Stimme mimt er einen Angriff aus dem Weltraum. Die gewieften Beamten von der Polizeidienststelle Eifelstadt haben diesen wenig geistreichen Trick natürlich sofort durchschaut. Sie wissen: Da ist etwas Entsetzliches iert! Sofort laufen sie zu ihren Einsatzfahrzeugen, um den Unglücklichen in der Sternwarte zu Hilfe zu eilen. Ihr Einsatz wird zu spät kommen! Das erkennen sie spätestens dann, als eine mächtige Detonation die Sternwarte auf dem Bocksberg in Stücke reißt, dass man später nur noch einen tiefen, rauchenden Krater sieht. Eine Druckwelle braust über die nächtlichen Dächer von Eifelstadt, während
sich dort etwas anderes ereignet: Die Sprengung der Sternwarte, dieses scheußliche Verbrechen, das neben drei Menschenopfern einen Sachwert nicht unter zweihundert Millionen Euro verursacht, soll vom Bankraub ablenken: In der Bank von Eifelstadt lagern drei Millionen Euro! An die wollen die brutalen Gangster heran. Sie schrecken vor nichts zurück, sprengen sich den Weg frei, bis sie das Geld an sich gerissen haben. Doch das ist noch nicht alles. Ihr Anführer, der die Sternwarte in die Luft sprengte, legt auch sie herein, indem er durch weitere Komplizen seinen eigenen Leuten das Geld abjagen lässt! Es gab dabei wahrscheinlich einen weiteren Toten oder zumindest einen Verletzten, den gefundenen Blutspuren auf der Straße nach zu urteilen. Wenig später werden die Verbrecher in der herrschaftlichen Villa des Supergangsters Phillip Morris geschnappt. Nur die Gangster mit dem Geld wurden nicht gefunden. Man wird jedoch ihre Namen von Phillip Morris erfahren. Kommissar Joseph Hänflein: >Wir sind zuversichtlich
Konrad Clasen schüttelte sich, während Peter Bell in seiner ihm eigenen Weise rasch einen Vers bildete - wie immer zum Horror seines Freundes: „Viel spannender als Fantasie, ist Wirklichkeit, vergiss es nie! Nicht Wirklichkeit in der Natur, sondern die Presse nur!“ „Amen!“, sagte Konrad Clasen erschüttert. Sonst fiel ihm jetzt nichts mehr ein. Er warf das Extrablatt nach hinten auf den Rücksitz und fuhr an, ehe die Menschenansammlung noch größer wurde. Anscheinend waren die alle neugierig, ob die Leute von Saarbrücken wirklich anders aussahen als die von Eifelstadt. Obwohl: Konrad Clasen und Peter Bell wünschten es sich inbrünstig. Sie bogen vom Marktplatz herunter in eine Seitenstraße und suchten nach einem geeigneten Parkplatz, wo nicht gleich jeder gaffend stehenblieb und sie sich ohne weitere Störung beraten konnten. Es erschien irgendwie unmöglich, weshalb sie nicht mehr weiter suchten und einfach an den Straßenrand fuhren. Konrad Clasen schaltete die Zündung aus und wandte sich an Peter Bell. „Ich nehme an, du harrst jetzt auf meinen weisen Rat?“, fragte der prompt. „Woher weißt du das?“ „Ich sehe es an deiner Ratlosigkeit.“ „Begreife ich nicht. Ich wirke doch immer ratlos!“ Peter Bell runzelte irritiert die Stirn. „He, soll das heißen, dass du es endlich zugibst?“ „Nein, ich wollte damit nur die Ratlosigkeit ansprechen, die dich betrifft. Ich frage mich seit einiger Zeit ernsthaft, wieso ich mit so einem beknackten Typen wie dich durch die Lande reise.“ „Seit wann denn genau?“
„Eigentlich schon seit Jahren!“ „Das ist seltsam!“ „Wieso?“ „Weil ich ähnliche Gedanken hegte. Eigentlich wäre ich längst auf und davon, aber mich hält das Mitleid an deiner Seite.“ „Uff!“, machte Konrad Clasen und gab sich geschlagen. Wenn er nicht aufgab, produzierte der Dichter so viele Sprüche, dass er am Ende nicht mehr wusste, ob er sich wirklich in Eifelstadt befand oder ob sich das nur in seiner Fantasie abspielte. Peter Bell lehnte sich triumphierend zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Also gut, ich bin bereit, mir deine Fragen anzuhören.“ „Sehr liebenswürdig von dir, lieber Peter. Frage Nummer eins: Was ist an der Zeitungsgeschichte wirklich dran?“ „Das kann nur einer wissen.“ „Wer?“ „Na, Phillip Morris natürlich!“ „Fazit?“ „Wir müssen ihn selber fragen!“ „Und wie?“ „Indem wir ihn aus seiner Zelle herausholen.“ „Und warum besuchen wir ihn dort nicht - ganz offiziell?“ „Weil wir uns nicht ausreichend ausweisen können. Kein Mensch würde uns als nachweisbare Normalbürger vorlassen. Die würden höchstens einen Lachkrampf bekommen.“
„Na schön, Peter, dann sind wir uns ja einig!“ Konrad Clasen startete den Motor und fuhr langsam an - langsam deshalb, um die Menschenansammlung nicht einfach umzufahren. Die Eifelstädter machten widerwillig Platz. Sie sahen sich um ihr seltenes Beobachtungsobjekt betrogen. Wie oft kamen schließlich Saarbrücker hierher? Vielleicht waren die beiden gar die ersten? Lag es daran, weil kein einziger Saarbrücker außer den beiden überhaupt wusste, dass es Eifelstadt gab? Die anderen nahmen möglicherweise sogar an, Eifelstadt wäre nur eine Erfindung? „Über was sind wir uns einig?“, fragte Peter Bell ahnungsschwanger. „Dass wir eine großartige Befreiungsaktion starten und unseren guten Phillip Morris aus dem Knast holen!“ „Das ist nicht wahr!“ „Jetzt mache aber mal einen Punkt, Peter. Schließlich hast du das selber vorgeschlagen.“ „Ich habe lediglich auf deine Frage geantwortet und bin dabei logisch vorgegangen.“ „Ja, hat doch niemand bezweifelt. Die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, heißt Phillip Morris.“ „Das ist nicht erlaubt!“ „Wir leihen ihn ja nur aus, Dummerchen. Anschließend bringen wir ihn wohlbehalten in den Knast zurück!“ Peter Bell triumphierte längst nicht mehr: Jetzt hatte er die Runde verloren. Er barg sein Gesicht in den Händen und stöhnte laut und anhaltend. KC9 kümmerte sich nicht darum. Er gab lediglich noch mehr Gas, damit sie Eifelstadt endlich den Rücken kehrten. Er hatte auf einmal das dumpfe Gefühl, die Eifelstädter würden sie sonst
schnappen und ins hiesige Museum stecken, womöglich kunstgerecht ausgestopft, damit man sie so oft und so lange begaffen konnte, wie die Eifelstädter das wünschten… * Das Untersuchungsgefängnis war ein trister Bau aus Bruchsteinquadern und alten Eisengittern vor den Fenstern. Vor dem Gemäuer gab es eine Art Vorgarten, in dem gerade zwei Gefangene arbeiteten, als der Wagen mit den Saarbrückern vorbeirollte. Die beiden Männer in Sträflingskleidung wurden von einem Beamten bewacht, der in diesem Augenblick herzhaft gähnte. Gewiss waren das keine Gefangenen von hier, sondern von der regulären Strafanstalt, wie Konrad und Peter vermuteten. Es spielte kaum eine Rolle. Was sie vorhatten, grenzte ohnedies an Wahnsinn. Denn sie mussten nicht nur hineinkommen, sondern darüber hinaus auch einen Gefangenen befreien, der besonders gut bewacht wurde. Möglicherweise lauerten auch in der Umgebung des Gefängnisses getarnte Polizisten, die alles sehr genau unter Beobachtung hielten. Ja, mit normalen Mitteln wäre es unmöglich gewesen, aber die Dinge, die in den Labors der Steinbachstiftung entstanden, verdienten das Postulat „normal“ längst nicht mehr. Teufeleien, die auf einer besonderen Energiebasis beruhten und deshalb nicht zur Serienherstellung taugten. Dr. Steinbach hatte es Konrad Clasen einmal so erklärt, dass bei Serienanfertigung diese besondere, geheimnisvolle Energie den Weltuntergang beschwören könnte. Eine sehr drastische Annahme. Sie konnten nur hoffen, dass niemand anderes jemals dieser Energieform auf die Spur kam. Tatsache blieb, dass der Steinbachstiftung mit der Beherrschung des Grundkonzeptes ungeahnte Wege offenstanden. Doch sie mussten vorsichtig sein. Niemals durfte das Geheimnis gelüftet werden. Mit solchen Dingen konnte man die Weltherrschaft anstreben, obwohl sie von
der Steinbachstiftung und ihren beiden Helfern nur zu friedlichen Zwecken benutzt wurden. Die erste Vorbeifahrt diente der Orientierung. Rechts vom Gefängnistrakt befand sich ein hohes Tor als einziger Zugang zum Innenhof. Es war ein relativ kleines Gefängnis mit höchstens sechzig Insassen, die vergleichsweise komfortabel untergebracht wurden. Schließlich konnte es auch einem Unschuldigen ieren, dass er hier einmal zur Übernachtung kam, ehe sich seine Unschuld erwies. Verurteilte wurden in diesem Gebäude nicht mehr untergebracht, und jeder galt nach dem Gesetz als unschuldig, über den noch kein Urteil gefällt wurde. KC9 steuerte den Wagen außer Sichtweite. „Bitte nicht!“, flehte Peter Bell noch einmal, obwohl er wusste, dass er seinen Freund nicht umstimmen konnte. Konrad Clasen stoppte den Wagen und wandte sich um. „Du weißt, was auf dem Spiel steht, Peter. Ich habe es dir ausführlich unterwegs erklärt. Hinter der ganzen Schweinerei steht eine internationale Terrororganisation, was Geheimdienst und Polizei offensichtlich noch gar nicht begriffen haben. Wir sind die einzigen, die davon wissen, und uns sind die Hände gebunden. Wir können mit den erdrückenden Beweisen nicht an die Öffentlichkeit treten, sondern mit unseren Maßnahmen nur Zeichen setzen.“ „Indem wir einen aus dem Knast befreien, der eigentlich dorthin gehört? Indem wir selber kriminell werden?“ „Es kommt immer darauf an, was auf dem Spiel steht, mein lieber Peter Bell. Phillip Morris muss uns eine Spur verschaffen, sonst können wir gleich wieder abreisen!“ Peter Bell wusste selber, dass sie keine andere Wahl hatten, aber es ging ihm halt mächtig gegen den Strich. Doch jetzt gab er auf. Er klappte brummig das Handschuhfach auf und brachte das kleine Schaltpult zum Vorschein. Derweil hob KC9 den Rücksitz an und betrachtete das komplizierte Gerät, das darunter verstaut war.
Es sah nicht nur kompliziert aus, sondern war es auch. Obwohl Peter Bell und Konrad Clasen Ingenieure waren, hatten sie keine Ahnung, wie das Gerät funktionierte. Dr. Steinbach nannte es: „Gravitationsverzerrer und -wandler“. Peter Bell hatte eine weniger umständlich klingende Bezeichnung gefunden und sprach damit die spezifischen Arbeitsgeräusche an: „Piepmatz“! Mit einem Blick übersah Konrad Clasen die Bedienungsanordnung. Alles war bereit. Er gab Peter Bell ein Zeichen. Peter Bell brummte etwas Unverständliches. Also war auch er bereit. Sie sicherten nach draußen, weil sie jedes Aufsehen vermeiden wollten. Nein, vom Gefängnis aus konnte sie niemand sehen. Die Straße lag verlassen vor ihnen, und die Bäume des schmalen, brachliegenden Grundstückes neben ihnen hielten ihre Äste wie schützend über sie. „Jetzt!“, knurrte KC9 heiser. Peter Bell reagierte sofort. Er legte den roten Hauptschalter um. Die Zeit war programmiert: maximal eine Minute! Länger funktionierte Piepmatz nicht. Dann war seine unergründliche Energie erschöpft. Es würde Stunden dauern, bis sie wieder aufgeladen war. Bis dahin würden sie das Gerät nicht mehr zum Einsatz bringen können. Es piepste laut und deutlich. Die beiden wussten, dass jetzt im Umkreis von fünfzig Metern ein zeitloses Feld entstand. Das hieß, dass dieses Feld nur auf sie beide, den Wagen und das Gerät wirkte und alle andere Materie verschonte. Das half Energie sparen und die maximale Leistung auszukosten. Die Steuerung war mit dem Umlegen des Hauptschalters ebenfalls umgeschaltet worden. Konrad Clasen brauchte nur am Lenkrad zu ziehen. Schon hob der Wagen sich ein Stück in die Luft. Er war schwerelos geworden innerhalb des Feldes. KC9 gab Gas und ließ den Wagen vorschießen. Dann wendete er in einer engen
Kurve, während die Räder nicht mehr den Boden berührten, zog das Auto, das sich jetzt in eine Art Hubschrauber ohne Rotoren verwandelt hatte, höher und beschleunigte wieder. Sie schossen pfeilschnell auf das Dach des Gefängnisses zu. Drei Sekunden waren vergangen. Peter Bell stoppte es genau ab. Seine Hand lag am Hauptschalter, um ihn sofort zu betätigen, wenn der Piepmatz nicht mehr gebraucht wurde. Jede Sekunde Einsatz war kostbar, damit sie möglichst viel Reserve behielten. Vielleicht brauchten sie diese für eine rasche Flucht? Die Zeitmessung war relativ und bezog sich nur auf die veränderte Zeit innerhalb der Wirksamkeit des besonderen Energiefeldes. Peter Bell blickte auf die Strafgefangenen hinunter, die im Vorgarten arbeiteten. Sie waren scheinbar in der Bewegung erstarrt und wirkten jetzt wie Wachsfiguren. Für sie verstrich praktisch keine Zeit, während das fliegende Auto auf dem Dach landete. Peter Bell schaltete gleichzeitig den Piepmatz aus. Das hässliche Geräusch erstarb. Fünf Sekunden hatten sie benötigt. Da sie volle Kapazität gefahren waren, mussten sie jetzt wieder Energie aufladen lassen, sonst kamen sie insgesamt gar nicht mehr auf die noch zu erwartenden fünfundfünfzig Sekunden. Eine Minute Gesamtvorgabe war ohnedies eher vage. Sie mussten äußerst sparsam bleiben, denn mitunter schwankte das Energievolumen und ihnen blieb bei voller Ausnutzung nur noch eine halbe Minute! Dr. Steinbach hatte KC9 ausreichend gewarnt, und KC 9 hatte es an seinen Freund weitergegeben. Sie mussten mit dieser Unsicherheit leben, so großartig die Erfindung der Stiftung auch war! Gebannt starrten sie hinaus. Von unten konnte man sie jetzt nicht sehen. Der Rand des schwarzen Flachdaches verbarg jede Sicht. Das Gebäude war das höchste weit und breit. Man würde sie nur entdecken,
wenn jetzt plötzlich jemand auf der Gefängnismauer herumturnte oder gar hier herauf auf das Dach kam. Ein kleiner Ruck ging durch das Fahrzeug. Die beiden schreckten zusammen. „Was war das?“, fragte Peter Bell bang. „Verdammt!“, entfuhr es KC9. „Das Dach ist zu morsch! Es ist nicht gebaut für einen so schweren Wagen.“ Peter Bell hatte seinen Galgenhumor längst zurück erhalten, nachdem er es aufgegeben hatte, sich gegen die Aktion zu wehren. „Aber damit muss man doch rechnen, wenn man ein Flachdach eindeckt: Dass mal ein deutscher Mercedes darauf landet!“ „Uff!“, machte Konrad Clasen mal wieder, öffnete den Wagenschlag und stieg vorsichtig aus. Ein Blick zu den Rädern: An einer Seite waren sie etwas eingesunken! Sie hinterließen auf dem Teerbelag deutliche Spuren und würden den Leuten, denen es demnächst auf den Kopf regnen würde, unlösbare Probleme aufgeben. Nur eine einzige Luke führte auf das Dach hinaus. Die beiden schlichen hin, immer darauf bedacht, nicht auch noch mit den Schuhen einzusinken, was gottlob nicht geschah. KC9 lupfte die Luke etwas an. Sie war nicht verriegelt. Ihr Glück! Es war nicht so erhebend, dort hinunterzuschauen, denn darunter war das Treppenhaus. Es tat sich ein Abgrund über fünf Stockwerke auf. Außerdem gab es keine Leiter und auch sonst keine Gelegenheit für einen Abstieg. KC9 hob die Luke weiter an und entdeckte unten einen patrouillierenden Beamten.
In jedem Stockwerk gab es einen umlaufenden Steg. Treppen führten von Steg zu Steg. So war von unten, im Erdgeschoß, praktisch jedes Stockwerk und jede Tür einsehbar! Ein Konzept, das in vielen Gefängnissen praktiziert wurde. Ein einziger Beamter genügte, wenn man ihn richtig platzierte. KC9 entdeckte auch die Beobachtungszentrale im obersten Stockwerk. Sie bestand aus einem Glaskasten, von dem man eine gute Aussicht hatte. Auch dort saß ein Beamter. Peter Bell beugte sich vor und riskierte ebenfalls einen Blick hinunter. „Bloß zwei?“ „Optimist!“, knurrte KC9. „Immerhin müssen wir die beiden ausschalten, ehe wir uns auf die Suche machen.“ „Und du glaubst, Phillip Morris so leicht zu finden?“ „Wir brauchen nur in die Liste der Neuzugänge zu schauen. Die Liste ist sowohl in der Zentrale dort drüben als auch unten in der Wachstube.“ „Schlaumeier, was?“ „Selbstverständlich!“, gab KC9 ungerührt zurück. In diesem Augenblick sah der Beamte im Glaskasten auf. Er blickte Konrad Clasen und Peter Bell genau ins Gesicht. Sogleich schnellte seine Hand zum Alarmknopf! Konrad Clasen war eine Winzigkeit schneller. Seine Hand erreichte den in die Hosennaht eingearbeiteten Kontakt. Drahtlos wurde die Maschinerie mit Namen Piepmatz in Gang gesetzt. Sofort stoppte die Bewegung des Wachhabenden. Die Hand blieb in der Luft hängen.
Für ihn stand die Zeit still, während sie für die beiden Agenten weiterlief sofern sie nicht den Umkreis von fünfzig Meter verließen! Eigentlich war es so, dass das Feld ihre Handlungen durch Zeitverzerrung tausendfach beschleunigte, während sonst alles normal blieb. KC9 und sein Freund schwangen sich durch die Luke hinunter. Sie schwebten schwerelos über dem Abgrund und stießen sich gezielt ab. Mit grotesken Bewegungen korrigierten sie unterwegs den Flug, damit sie genau die Eingangstür zu dem Glaskasten trafen. Damit hätten sie jede Prüfung beim Astronautentraining bestanden! Sie hätten sich im Weltraum gut zurechtgefunden! KC9 berührte die Eingangstür mit der Hand. Damit übertrug der Effekt sich auch auf die Tür. Er konnte sie aufreißen. Ansonsten wäre sie wie festgeschweißt gewesen. Beide Agenten drangen in das Innere ein. Peter Bell packte den Wachhabenden unter die Achseln und riss ihn hoch, damit er den Alarmknopf nicht erreichte. KC9 tat zwei Dinge fast gleichzeitig: Er schaltete das Feld aus und schoss den Nadler ab, eine Waffe, die einer kleinen Pistole nicht unähnlich sah. Aber sie war mit winzigen Nadeln geladen. Ein Magazin fasste davon ganze tausend Stück. Drang eine solche Nadel in den Körper eines Menschen, löste sie sich sofort auf und erzeugte ein lähmendes Gift. Je nach Trefferlage und je nach Konstitution des Getroffenen dauerte es Stunden, bis der Gelähmte wieder zu sich kam. Nach einer kurzen Bewusstlosigkeit fühlte er sich zunächst wie im Traum. Wenn er dann vollends erwachte, gab es keine Nachwirkungen. Das Gift war völlig ungefährlich. Der Körper des Wachhabenden wurde schlaff. Peter Bell ließ ihn in den Sitz gleiten.
„Wie viel Zeit?“, fragte KC9. Peter Bell zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht, kann es nur schätzen. Vielleicht weitere fünf Sekunden?“ „Dann bleiben uns nur noch zwanzig. Danach funktioniert unser Piepmatz nicht mehr; oder wir versuchen, die zwanzig Sekunden zu strecken, indem wir das Feld schwächen?“ „Auf jeden Fall müssen wir noch einmal hinauf, und vor allem müssen wir mit dem fliegenden Auto wieder von hier weg“, knurrte Peter. KC9 nahm sich die Bücher vor und fand auch die Neueingänge: „Phillip Morris, Zelle achtzehn!“, murmelte er halblaut vor sich hin. „Das liegt ein Stockwerk tiefer.“ „Verdammt! Auch das noch!“ Sie suchten die Zentralschalter ab. Von hier oben konnte man jede Zelle verriegeln. Man konnte sie auch einzeln entriegeln. Es machte jedoch Lärm, und den mussten sie unter allen Umständen vermeiden, denn es gab schließlich im Gebäude verteilt noch mehr Wachbeamten. Sie schlichen an die Tür. „Du bleibst hier, Peter, und achtest auf mein Zeichen!“, entschied KC9. Peter Bell nickte ihm zu und steckte einen kleinen Empfänger in das linke Ohr. KC9 schlich hinaus und drückte hinter sich leise die Tür zu. Sein Blick ging in die Runde. Die Luke zum Dach stand noch offen! Ein Fehler, den sie jetzt nicht mehr korrigieren konnten. Es würde weitere wertvolle Energie verbrauchen. Es war zwar nicht gesagt, dass sie nur eine halbe Minute zur Verfügung hatten, aber danach wurde es äußerst ungewiss. Und wenn sie sich dann mitten in der Luft befanden, stürzten sie in den Tod, weil das Energiefeld sie nicht mehr trug!
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KC9 lauschte gebannt. Es gab die Hoffnung, dass niemand die offene Luke bemerkte oder dem einfach keine Bedeutung beimaß. Unten waren hallende Schritte. Ansonsten war es ruhig. KC9 schlich zum Niedergang und von dort aus in das nächste Stockwerk. Die Plattform im Erdgeschoß blieb leer. Doch da kam der Wachmann zurück. Er hatte die Stirn gerunzelt und blickte zur Luke empor. Das schien ihm nicht zu en. Schon begann er, die Galerie ringsum abzusuchen. Es nutzte nichts, dass KC9 sich in Deckung duckte. Der Strafvollzugsbeamte würde ihn entdecken. Blitzschnell richtete KC9 sich auf und schoss! Die Nadel hatte eine genügende Reichweite. Nur die Treffsicherheit nahm sehr schnell ab, je weiter das Ziel entfernt war. KC9 hatte Glück. Ehe der Beamte los brüllen konnte, wurde er von der kaum sichtbaren Nadel getroffen und brach zusammen. KC9 War dennoch alles andere als zufrieden. Es war eine Frage von Sekunden, bis der Zusammenbruch bemerkt wurde. So schnell er konnte, rannte er an den Zellentüren entlang, bis er die Nummer achtzehn erreicht hatte. „Jetzt!“, zischte er in das Mikrophon an der Armbanduhr.
Der winzige Sender übertrug es in den Empfänger in Peter Bells Ohr. Großartig, diese Steinbachstiftung!, dachte KC9. Da hörte er von unten einen überraschten Ausruf. Man hatte den Zusammengebrochenen entdeckt, jetzt schon. Mehrere Beamte liefen herbei. Sie mussten zunächst annehmen, ihrem Kumpel wäre es nur übel geworden. Aber dann würden sie doch Verdacht schöpfen und vorsichtshalber Alarm geben. KC9 malte sich lieber nicht aus, was dann ieren würde. Sie würden ganz schön in der Falle sitzen. Sah ganz danach aus, als hätten sie sich diesmal gründlich übernommen. Ganz kurz betätigte KC9 den Kontakt an der Hosennaht: Lange genug, um das Öffnungsgeräusch der Verriegelung nur für seine Ohren hörbar werden zu lassen. Eine weitere Sekunde konnte er abstreichen. Aber das war noch nicht so tragisch. Er wollte die Zelle öffnen. Es ging nicht! Neben dem Zentralverschluss gab es noch ein zusätzliches Schloss, das man nur mit dem enden Schlüssel öffnen konnte. Für jedes Stockwerk war ein Beamter zuständig - normalerweise. Aber hatte man nicht schon vom Personalmangel im Strafvollzug gehört? Es nutzte nichts: KC9 hatte keine Ahnung, wer den Schlüssel bei sich trug! Ein Gedanke durchzuckte ihn: Oben die Beobachtungszentrale! Dort musste es die Schlüssel geben. KC9 lief zum Aufgang zurück. Ein kurzer Blick nach unten. Die Beamten kümmerten sich rührig um ihren Kollegen.
Die Zeit drängte wie noch nie. Mit fliegendem Atem erreichte Konrad endlich wieder das Glashaus. „Was ist los?“, zischte Peter Bell, als er hineinstürmte. „Ich brauche noch einen Schlüssel!“, keuchte KC9. Peter Bell stellte keine Fragen mehr und half lieber suchen. Der Schlüsselkasten war abgeschlossen. Sie durchsuchten die Taschen des Bewusstlosen. Aha, da war der Schlüssel für den Kasten. Sie öffneten ihn und fanden das Gesuchte! KC9 hatte nicht einmal Zeit zum Aufatmen. „Gib mir Deckung!“, bat er knapp und stürmte hinaus. Peter Bell nickte, aber das konnte sein Freund nicht mehr sehen. Er ging zur Tür und duckte sich soweit, dass er von unten nicht gesehen wurde, aber die Szene im Auge behalten konnte. Gerade sagte einer der Beamten: „Mensch, da stimmt doch was nicht. Ich glaube fast…“ Er entdeckte die offene Dachluke. Der Beamte richtete sich ruckartig auf. „Vielleicht hat jemand von da oben…?“ Er vollendete den Satz nicht, sondern sprintete sofort los. Auch die anderen wichen auseinander. Peter Bell konnte sich nicht um seinen Freund kümmern. Er wusste nur, dass man auf KC9 und auch auf ihn schießen würde, sobald sie sich zeigten. Das ganze waghalsige Unternehmen war gefährdet. Er schnellte sich vor zum Geländer und schoss mit seinem Nadler hinunter. Jetzt war sowieso alles egal.
Der heran stürmte wurde als erster getroffen. Er riss die Arme hoch und stürzte. Die andren Beamten erwarteten die Gefahr aus der offenen Luke, weshalb sie Peter Bell zu spät sahen. Der Agent schoss schnell und präzise - und traf jeden. Wenigstens, sofern er sich im Erdgeschoss und im Schussbereich befand! * In der Wachstube, die anscheinend auch als eine Art Aufenthaltsraum diente, befand sich noch ein einziger Beamter, den Peter Bell nicht erreichen konnte. Der Mann sah die vier leblosen Kollegen und gab sofort Alarm. Wenn man bedachte, dass sich noch Beamte in der Verwaltung und in der Küche befanden, konnte man erkennen, wie brenzlig es jetzt wurde. Der Beamte von der Wachstube spähte aus der Deckung mit entsicherter Pistole herauf. Peter Bell erkannte ihn rechtzeitig und musste sich zurückziehen, wollte er keinen Schuss vert bekommen. Währenddessen heulten auf dem Dach die Sirenen. Das Untersuchungsgefängnis wurde zu einem einzigen Höllenhaus. KC9 indessen arbeitete schnell und präzise. In Rekordzeit erreichte er die Zelle achtzehn. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Phillip Morris musste es geahnt haben. Er stand bereit und stürzte sich sofort auf seinen Befreier, kaum dass die Tür sich bewegte. KC9 hatte jedoch den Nadler schussbereit und brauchte nur noch abzudrücken. Phillip Morris machte ein ungläubiges Gesicht und wurde voll getroffen. KC9 fing ihn auf. So gut es ging steckte er den Nadler in die Tasche. Dann schulterte er Phillip Morris gekonnt. Der Mann war ziemlich schwer, obgleich er kein Gramm Fett zu viel besaß. „Peter!“, brüllte KC9 unkonventionell, da er jetzt nicht mehr so leicht zum
Mikrophon an der Armbanduhr kam. Es war auch gleichgültig. Die Sirenen wimmerten und bewiesen, dass sie längst entdeckt waren. Unangenehm blieb der Gedanke, dass der Wachhabende in seinem Glashaus die beiden Agenten so genau gesehen hatte und sich mit Sicherheit in spätestens ein paar Stunden erinnern würde. Mit der Beschreibung und in dieser Umgebung mussten die beiden Agenten sich schon sehr anstrengen, wollten sie nicht eingefangen werden wie Schwerverbrecher. „Scheißjob!“, fluchte KC9 - nicht zum ersten Mal. Er drückte den Kontakt in der Hosennaht und stieß sich mit seiner Last ab. Schon schoss er empor. Doch er hatte es nicht richtig berechnet und würde die Luke verfehlen. Stattdessen würde er mit voller Wucht gegen die Decke donnern. Peter Bell sah es und flog quer heran. Er hatte ein kleines Gerät in der Hand, das eine miniaturisierte Ausgabe des Bedienungspaneels im Handschuhfach darstellte. Eine Fernbedienung für differenzierte Korrekturen. Damit und mit einer weiteren Manipulation des Energiefeldes bremste er den Flug seines Freundes, dem es daraufhin gelang, bis zur Luke zu kommen. Sekundenbruchteile vor Peter Bell! Sie stiegen nach oben und schlossen die Luke. Peter Bell schaltete das Feld kurz ab, während sie zum Wagen rannten. KC9 hatte Phillip Morris auf den Schultern und trug ihn wie eine Schaufensterpuppe. Es schien den Agenten wenig zu beeinträchtigen. Kaum war das Feld erloschen, als die Sirenen wieder wimmerten. Vorübergehend waren sie nur ein allesumfassendes Brummen gewesen. KC9 bugsierte den Befreiten auf den Rücksitz und warf sich hinter das Steuer. Es herrschte Alarm, ja, und das traf nicht nur auf das Untersuchungsgefängnis zu: Über den Dächern der Stadt brauste ein Hubschrauber heran!
Dem würde es nicht schwer fallen, den Mercedes auf dem Dach des Gefängnisses zu entdecken. Er würde zuerst schießen und dann erst fragen, wie, um alles in der Welt ein Auto auf das Dach eines fünfstöckigen Gebäudes kommen konnte! Sie durften nicht länger zögern. Peter Bell schaltete den Piepmatz ein. Die Rotoren des Hubschraubers stoppten augenblicklich. Das Sirenengeheul wurde zu einem supertiefen Brummen. Das unheimliche Piepsen übertönte alles. KC9 bewies, dass er ein guter Pilot war, indem er den fliegenden Mercedes hochriss und über den Rand des Gefängnisdaches hinabstürzen ließ. Peter Bell raubte es den Atem, als KC9 das seltsame Fluggefährt knapp über der Straße abfing und dann davonbrauste, bis sie außer Sichtweite waren. Da war die Hauptstraße. Es herrschte nicht viel Verkehr. Auf dem Bürgersteig standen anten wie versteinert und am Boden festgeklebt. Sie konnten jetzt auf nichts mehr Rücksicht nehmen. Insgesamt waren die zwanzig Sekunden längst überschritten. Sie durften das Feld nicht mehr länger aufrechthalten. Peter Bell brauchte dazu nicht die Empfehlung seines Freundes. Er schaltete das Feld aus. Für die Straßenanten erschien es so, als sei das Fahrzeug plötzlich aus dem Nichts materialisiert! Aber der menschliche Geist ist sehr flexibel. Er verdrängt, was er nicht begreifen kann. So bildeten die anten sich ein, dass der Wagen schon vorher da gestanden, aber dass sie ihn halt eben übersehen hatten. Es gab nur das kleine Handikap, dass der Motor nicht lief. KC9 holte das rasch nach und wollte auf die Hauptstraße einbiegen. In diesem Augenblick rasten Streifenwagen herbei. Sie schienen von allen Seiten
gleichzeitig zu kommen. Nur zehn Meter von den Saarbrückern entfernt befand sich eine Abzweigung. Zwei Fahrzeuge von der Polizei stellten sich quer und blockierten den gesamten Verkehr. KC9 und Peter Bell waren gezwungen, vor der Sperre zu stoppen. Die Polizisten sprangen aus ihren Fahrzeugen und rannten herbei. Sie würden jedes Fahrzeug genauestens überprüfen. Dann gab es eine Razzia in der gesamten Umgebung. Niemand wusste genau, wieso es im Untersuchungsgefängnis Alarm gab, aber man nahm von vornherein an, dass es sich um Phillip Morris handeln musste. Ein Blick zum Gerichtsgebäude neben dem Untersuchungsgefängnis zeigte KC9, dass auch dort der Teufel los war. Die ganze Stadt war in Aufruhr. Und ausgerechnet ihrem Wagen würde man sich als erstes zuwenden. Dabei würde man den bewusstlosen Phillip Morris im Fond kaum übersehen können! Peter Bell schaltete das Feld ein, ohne vorher sich mit KC9 abzusprechen. Dafür wäre auch gar keine Zeit mehr gewesen! KC9 reagierte Sekundenbruchteile später. Die Polizisten erstarrten scheinbar mitten im Sprung. Wenn man sich die Zeit nahm, sie genau zu betrachten, merkte man, dass die Zeit für sie nicht völlig stillstand, sondern nur stark verlangsamt wurde. Oder umgekehrt: Die Zeit verging in der Umgebung nur für die Begriffe der beiden Agenten langsamer. Sie selbst mussten den Polizisten so schnell erscheinen, dass ihre Bewegungen praktisch nicht mehr sichtbar waren. Auch nicht, als der Wagen wieder zum Fluggefährt wurde!
Das Schwerkraftfeld war vergleichbar mit einem Magnetfeld, das jedoch die Fähigkeit hatte, die Zeit gewissermaßen „zu verbiegen“. Es war damit keine wirkliche Zeitreise möglich, aber ein Effekt, der für die beiden Agenten sehr nützlich war. Es rettete sie vor dem Zugriff und vor der Gefangennahme. Sie hätten es anschließend sehr schwer gehabt, den Beamten plausibel zu machen, dass sie keinesfalls deshalb den Verbrecher Phillip Morris befreit hatten, damit er der wohlverdienten Strafe entging. Niemand hätte ihnen geglaubt. So flogen sie vor der Verantwortung im wahrsten Sinne des Wortes davon.
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Sie fegten über die Straßensperre und landeten wieder. „Zwei Sekunden!“, keuchte Peter Bell, als er nach der geglückten Landung sofort wieder ausschaltete. KC9 gab Vollgas. Sie brausten mit durchaus konventioneller Motorkraft davon. Aber die Polizisten waren nicht von gestern. Sie fragten sich nicht lange, wieso der Wagen plötzlich verschwunden war. Sie sahen nur das davonbrausende Fahrzeug und wollten die Verfolgung aufnehmen, denn wer so schnell fuhr, hatte was auf dem Kerbholz. „Verdammt!“, zischte KC9. Zu Peter Bell gewandt, fragte er: „Wieviel Zeit insgesamt?“ „Wir haben fünfundzwanzig Sekunden hinter uns, Konrad. Herrgott, und die Flucht ist noch nicht beendet. Wenn die eine Großaktion machen, kreisen sie uns ein. Und dann gute Nacht. Wir kommen nicht mehr aus der Stadt hinaus.“ „Wir müssen die restlichen fünf Sekunden mit voller Energie noch verbrauchen.
Dann wird es kritisch“, sagte KC9 erstaunlich ruhig. „Also, worauf warten wir?“ „Jetzt schon?“, erkundigte Peter Bell sich ungläubig. „Wir sollten versuchen, mit konventioneller Kraft möglichst weit zu kommen, bevor wir…“ KC9 unterbrach ihn: „Bevor wir was? Bevor wir total eingekreist sind und unter aller Augen verschwinden? Begreife, Peter, dass wir schon viel zu viel Aufsehen erregt haben. Wenn wir es jetzt noch übertreiben, wird jeder wissen, dass wir Möglichkeiten haben, die alle üblichen Techniken übertreffen. Man wird dann nicht nur nach uns, sondern letztlich auch nach unseren Mitteln fahnden. Eine schreckliche Vorstellung, nicht wahr? Auf jeden Fall wird es uns entscheidend im Kampf gegen die unbekannte Organisation lähmen. Und das wollen wir nicht, oder?“ Peter Bell schaltete zähneknirschend die Anlage ein. In das aufschwellende Piepsen sagte er tonlos: „Auf dass wir unterwegs abstürzen, weil KC9 es nicht anders will!“ Unterwegs ließ er die Digitaluhr nicht aus den Augen. Die Sekunden verrannen viel zu schnell! KC9 steuerte das Fluggefährt mit Volldampf aus der Straßenschlucht und ließ es über die Dächer hinweg sausen. Bis zum Stadtrand waren es immerhin sieben Sekunden Flug. Schneller ging es nicht. Damit war die kritische Zeit angebrochen. Sie waren schon zwei Sekunden über der absolut sicheren Zeit. Jetzt konnten sie jeden Augenblick abstürzen, weil plötzlich das Feld versagte! KC9 blieb äußerlich völlig gelassen. Konzentriert bediente er die normalen Einrichtungen des Autos, die jetzt nicht nur zum Steuern auf der Straße, sondern auch zur Flugsteuerung dienten. Außerhalb der Stadt ging es zunächst einen steilen Hang hinauf. Dann kam ein
Waldgebiet. Weit dahinter, viele Kilometer entfernt, kam Eifelstadt und der Bocksberg mit der ehemaligen Sternwarte, die zu wahrhaft traurigem Ruhm gelangt war. Peter Bell dachte gerade, dass auch sie einen hübschen Krater hinterließen, falls das Feld jetzt erlosch. „Fünfunddreißig Sekunden!“, sagte er brüchig, und noch während er sprach, waren es schon mehr. Sie jagten den Abhang hinauf, über den Wald hinweg und fanden unten eine Lichtung. Darauf stürzte KC9 sich wie ein Habicht auf eine Maus. Die Räder berührten den Grasboden der Lichtung, und Peter Bell schaltete ab. „Vierzig Sekunden!“, brummte er und ließ sich zurücksinken. „Ein Rekord, nicht wahr?“, ließ KC9 ungerührt vernehmen. „Dachte mir doch, dass wir es schaffen. Hast du denn daran gezweifelt?“ „Ja!“, krächzte Peter Bell erschöpft. „Ich werde nie mehr gemeinsam mit dir einen Fall übernehmen. Nächstens lässt du mich in Frieden mit diesen Sachen. Ich will noch ein wenig mein Leben genießen, auch wenn du das nicht begreifst!“ Peter Bell galt als der Ruhigere und auch Bequemere der beiden. KC9 konnte sich vorstellen, dass Peter Bell schon zufrieden war, wenn er nur seine Gedichte und Romane schrieb. Peter Bell hatte unter Pseudonym schon einige Romane veröffentlicht - der unterschiedlichsten Art. Unter anderem sogar Gruselromane. Für KC9 war es völlig unmöglich, sich ein Leben als Romanschreiber vorzustellen. Er schüttelte sich angewidert in Gedanken daran. Was er von Peter Bells Schreibkünsten hielt, wusste der Freund zur Genüge. Der
harmloseste Ausdruck war noch: „Kitsch!“ Sie waren dennoch Freunde und wussten beide, dass Peter Bell auch weiterhin mit von der Partie sein würde. Auch wenn er jetzt anders redete! „Was nun?“, fragte KC9 und wandte sich Phillip Morris zu. Der schlief tief und fest und hatte von alledem nichts mitbekommen. „Ein unbeschreiblich Glücklicher“, brummte Peter Bell und schüttelte den Kopf. „Nur einer übertrifft ihn: Konrad Clasen. Der ist so bescheuert, dass er es längst nicht mehr merkt. Sonst würde er nicht so tolldreiste Dinger drehen. Oder hat man schon einen normalen Menschen gesehen, der sich so benimmt?“ Peter Bell hieb sich mit der flachen Hand mehrmals verzweifelt gegen die Stirn, als wollte er damit das Wesen von Konrad Clasen begreifen lernen. KC9 betrachtete ihn eine Weile grinsend. Dann sagte er: „Ich hoffe, du bist jetzt wieder da?“ Peter Bell sah nur noch eine einzige Möglichkeit, sein Gemüt wieder ins rechte Lot zu bringen: Indem er einen Reim fabrizierte, auch wenn er seinen Freund damit bis aufs Blut reizte. Denn KC9 konnte kaum etwas aus der Ruhe bringen. Eine Gefahr konnte noch so groß sein: KC9 behielt die Nerven und machte weiter. Nur wenn Peter Bell Gedichte von sich gab, flippte er sozusagen regelmäßig aus. Als Peter Bell ihm mal mit einer Ballade drohte, versprach Konrad ihm, dass er ihn dabei erschlagen würde. Kein Gericht der Welt könnte ihn schließlich für diese Tat verurteilen, da er zu dieser Zeit einfach nicht mehr zurechnungsfähig war. Während KC9 die Augen verdrehte, klang es durch den Fahrgastraum mit
dramatischer Stimme: „So höret, Leut', und lasst euch sagen, was das Schicksal hat geschlagen: Zu kämpfen an des Helden Seit', ist nur für den die wahre Freud', der selber auch zum Helden taugt und so im Unverstand ergraut!“ Diesmal reagierte Konrad Clasen nicht mit: „Amen!“, sondern mit einem total verzweifelten, langgezogenen: „Nein!“ und händeringend. Peter Bell drohte ihm mit der Faust und sagte anklagend: „Was du meinem Nervenkostüm wieder angetan hast, obwohl ich von vornherein dagegen war, müsste dich mindestens zehn Strophen kosten. Aber ich will noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen. Obwohl du meine Gutmütigkeit wahrlich nicht verdient hast!“ KC9 hielt ein. Er stutzte. „Soll das etwa heißen, dass du nie mehr Gedichte aufsagen wirst, wenn ich in der Nähe weile?“ „Davon war selbstverständlich keine Rede!“ KC9 schnitt eine schmerzliche Grimasse. „Ich glaube, du hast recht, Peter. Ich werde dich nie mehr auffordern, mit mir gemeinsam einen Fall zu lösen.“ Peter Bell winkte mit beiden Händen ab. „Davon will ich nichts mehr hören. Ich werde dich doch nicht ganz allein… Nein, wer bin ich denn? Wer soll denn auf dich Wahnsinnigen aufen, wenn nicht ich? Da kannst du ruhig grinsen!“ „Na, ich meine bloß, dass du vorhin ganz anders geredet hast.“
„Ich habe vorhin nur an mich gedacht. Jetzt denke ich wieder an dich und an deine Hilflosigkeit. Ohne mich rennst du glatt in dein Verderben!“ „Was erwartest du von mir?“ „Dass du den Mund hältst! Oder meinst du, ich will mich so lange mit dir streiten, bis Phillip Morris erwacht?“ KC9 schürzte die Lippen. „Du hast schon wieder recht, Peter, obwohl ich es ungern zugebe. Am besten, ich mache es mir bequem und schlafe eine Runde.“ „Schlafen?“ „Na, bei den Anstrengungen, die hinter uns liegen? Da hat man doch ein wenig Ruhe verdient.“ „Ja, bist du denn überhaupt nicht nervös?“ „Jetzt, wo wir in Sicherheit sind?“ Konrad Clasen machte es sich bequem und war Sekunden später eingeschlafen. Peter Bell schüttelte ergeben den Kopf. Er widmete sich dem Bedienungspaneel. Die digitale Anzeige stand nach wie vor auf vierzig Sekunden. Das bedeutete, dass sie das Energiefeld zur Zeit nicht einsetzen konnten. Das bedeutete weiterhin, dass sie in der Falle saßen. Er warf auch einen Blick hinaus. Das bestätigte ihm seine Befürchtung: Kein einziger Weg führte von der Lichtung. Ringsum standen Bäume, die sich sanft im Wind neigten, der durch ihre Wipfel strich. Es gab Buschwerk, das die Lichtung umgab. Peter Bell stieg aus und untersuchte den Boden. Maulwurflöcher, in denen die Räder des Autos versinken würden.
Wie weit war der nächste Weg überhaupt entfernt? Sie mussten hier stehenbleiben, nicht nur bis dieser Phillip Morris erwacht war, sondern vor allem, bis ihr Piepmatz wieder eingesetzt werden konnte. Und sie hatten ein weiteres Handikap zu überwinden: Phillip Morris durfte nichts über ihre Möglichkeiten erfahren. Also konnten sie den Piepmatz nicht einsetzen, wenn er bei vollem Bewusstsein war. Peter Bell setzte sich auf den Beifahrersitz und ließ die Tür offen. Er schloss die Augen und dachte noch einmal über ihre Situation nach. Dabei kam er zu einem deprimierenden Schluss: Sie hatten keine Möglichkeit, Phillip Morris in sein Gefängnis zurückzubringen, wie sie es vorgehabt hatten. Dafür hatten sie zu viel Staub aufgewirbelt. Außerdem war ihr Wagen bekannt wie ein bunter Hund. Jeder hatte wahrscheinlich inzwischen das Kennzeichen auswendig im Kopf. Ein Blick zu dem schlafenden Konrad Clasen. Ich habe zwar eine Menge Fantasie, sonst könnte ich keine Krimis schreiben, aber ich weiß trotzdem nicht, wie du uns aus der Patsche helfen willst. Da darf ich äußerst gespannt sein!
10
KC9 erwachte genauso übergangslos wie er eingeschlafen war, und er brauchte nicht einmal Sekundenbruchteile, um wieder genau zu wissen, was geschenen war und wo sie sich befanden. Ein Grund mehr für seinen Freund Peter Bell, den Kopf zu schütteln. „Das hat angeblich nur Napoleon gekonnt!“, behauptete er.
KC9 entgegnete: „Nicht wahr?“ Damit war für ihn dieses Thema abgehandelt. Er drehte sich nach Phillip Morris um, doch der schlief noch immer friedlich wie das sprichwörtliche Murmeltier. „Kann sein, dass er sich nur verstellt“, überlegte KC9 laut. „Na ja, wollen wir es wagen?“ Peter Bell tippte auf die Digitalanzeige: „Inzwischen ist der Zeitfaktor zurückgegangen und fast auf Null.“ „Nun, besser kann es kaum kommen, nicht wahr? Hast du die Kennzeichen ausgewechselt?“ Peter Bell nickte. „Ja, wir sind neuerdings aus Mayen. Das ist nicht übermäßig weit entfernt und eine gute Tarnung.“ KC9 machte einen völlig sicheren Eindruck. Aber das machte er eigentlich immer - außer wenn Peter Bell seine Verse zitierte. „Jetzt müssten wir nur noch die Automarke wechseln.“ Peter Bell zuckte die Achseln. „Das ist uns leider nicht gegönnt. Da streikt selbst der Piepmatz.“ KC9 grinste still und machte Peter Bell das Startzeichen. Seine Hände umklammerten das Lenkrad. Draußen herrschte die bekannte Lautkulisse des Waldes. Vögel und andere Tiere wagten sich wieder näher heran. KC9 hatte sich gar nicht die Mühe gemacht, die Umgebung zu inspizieren. Er wusste auch so, dass es unmöglich war, ganz normal die Lichtung zu verlassen.
Es blieb nur der Weg durch die Luft. Und den würden sie jetzt auch beschreiten! Die Lautkulisse des Waldes verstummte. Gleichzeitig piepste das Aggregat unter dem Sitzpolster im Fond. Die beiden Agenten hatten keine Zeit, sich um ihren Gefangenen zu kümmern. KC9 riss das Steuer zu sich heran. Der Wagen schnellte nach oben wie von einem Katapult abgefeuert. Die Insassen spürten keinen Andruck. Das war das Besondere an dem Gravitations- und Zeitfeld. Der Wagen schoss nach vom. KC9 blickte über die Baumwipfel hinweg - und entdeckte einen Waldweg. Das war genau das, was sie brauchten. Der Wagen brach durch die Baumwipfel, die den Weg fast überdachten. Er zerfetzte mit seiner Masse kleinere Zweige. Äste zerkratzten den Lack. Darauf durften sie keine Rücksicht nehmen. „Drei Sekunden!“, keuchte Peter Bell. Der Wagen stürzte tiefer und wurde von KC9 abgefangen. Die Räder berührten leicht wie eine Feder den Waldweg. Peter Bell schaltete ab. Das Piepsen verstummte und machte wieder der allgemeinen Geräuschkulisse Platz. Peter Bell tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn. „Insgesamt vier Sekunden, Konrad. Das ist nicht nur eine Meisterleistung, sondern ein Rekord.“ „Übung allein macht den Meister!“, behauptete KC9 und grinste stärker.
Peter Bell knallte das Handschuhfach zu und schnippte mit den Fingern. „Meinetwegen kann es losgehen. Diese Richtung, vermute ich. Oder willst du doch nicht mehr nach Eifelstadt?“ „Selbstverständlich! Warum sollte ich meine Meinung ändern?“ „Und was tun wir in Eifelstadt?“ „Liegt das nicht auf der Hand?“ „Du bist ein Kameradenschwein, Konrad. Du hast doch was vor, nicht wahr? Und warum darf ich das nicht wissen?“ „Weil du gewiss wieder dagegen wärst. Ich brauche dich nicht einzuweihen, weil ich es auch allein tun kann. In der Zwischenzeit kümmere dich bitte um unseren Gast. Der ist sicherlich schon wach und hält nur deshalb die Augen so krampfhaft zu, weil er uns belauschen will.“ KC9 ließ den Motor an. Dann lenkte er den Wagen über den holprigen Waldweg. * Konrad Clasen hatte zwar nicht wirklich eine Ahnung, ob er in die richtige Richtung fuhr, aber allgemein konnte er sich gut auf seinen Orientierungsinstinkt verlassen, der ihm sagte, wohin er sich wenden musste. Allerdings wurde der Weg immer schlimmer. Manchmal sah es so aus, als würden sie nicht mehr weiterkommen. Das Fahrwerk wurde über Gebühr strapaziert. KC9 machte sich nichts daraus. Er wollte den Wald verlassen. Da konnte er keine Rücksichten auf den Wagen nehmen. Zwischenzeitlich hatte Peter Bell sich herumgedreht und deutete mit seinem Nadler nach hinten. Er hätte ungern auf Phillip Morris geschossen, denn ein bewusstloser Morris nutzte ihnen gar nichts. Mit der Linken rüttelte er an der Schulter des „Denkers“.
„Los, aufwachen! Ich dachte, man nennt Sie den Denker? Dann denken Sie mal an: Wir wissen, dass Sie wach sind!“ Phillip Morris schlug die Augen auf und schnitt eine beleidigte Miene. Da fiel sein Blick auf die Waffe. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. Vorsichtig erhob er sich. „Na, wie fühlt man sich so?“, fragte Peter Bell beinahe fröhlich. „Danke, ganz gut, aber ein wenig in meiner Freiheit eingeengt.“ „Sollte für Sie ja nicht neu sein, nachdem Sie im Gefängnis gesessen haben.“ „Aha, dann habe ich also doch nicht alles geträumt? Sie haben mich herausgeholt? Wie und warum?“ „Das Wie vergessen wir rasch wieder. Es interessiert hier nicht. Hauptsache, wir waren erfolgreich, nicht wahr?“ „Bleibt das Warum. Ich darf gespannt sein.“ „Wir haben ein paar Fragen an Sie, Herr Morris.“ „Dann fragen Sie doch einfach.“ „Sehr vernünftig. Ich sehe jetzt, wieso man Sie den Denker nennt. Ein heller Kopf.“ „Sie nicht so, was?“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Sonst würden Sie nicht so viel dummes Zeug reden.“ KC9 lachte schadenfroh. Das brachte ihm einen Rippenstoß seines Freundes ein. Peter Bell knurrte angriffslustig: „He, ich dachte, wir wollten zusammenhalten? Jetzt schlägst du dich schon auf
die Seite dieses Ganoven?“ „Höre ich Ganove?“ Phillip Morris rümpfte die Nase. „Was seid ihr denn für Kerle? Wie nennt man die Leute, die andere aus dem Gefängnis befreien, um ein paar Fragen zu stellen? He, was geschieht eigentlich mit mir, wenn ihr eure Antworten gefunden habt? Legt ihr mich dann um?“ Peter Bell tat erschrocken. „Ja, sehen wir denn aus wie Mörder?“ „Nun, nachdem ihr die Sternwarte in die Luft gesprengt habt und außerdem…“ Peter Bell musste lachen. „Ach so, Sie glauben, dass wir das waren? Tut mir leid, aber zu dieser Zeit lag ich still in meinem Bett daheim und schlief tief und fest. Vielleicht sollten Sie sich einmal an meinen Freund hier wenden?“ KC9 hob drei Finger. „Ich schwöre, dass ich ebenfalls im Bett lag, bis mich das Telefon in unangenehmer Weise weckte und man mir von einer gewissen Sternwarte erzählte, die man in die Luft zu sprengen pflegte.“ „Wie denn, was denn? Ihr gehört gar nicht zu dieser Truppe? Ich glaube, ich träume. Ein Trick der Polizei? Eine vorgetäuschte Befreiungsaktion, um von mir die Informationen zu bekommen, die man sich erhofft? Herrschaft Zeiten, ich kann euch über diese Kerle nichts erzählen - außer dem, was ich schon gesagt habe.“ „Na, was haben Sie denn schon gesagt?“ Phillip Morris streichelte sein Kinn und betrachtete Peter Bell, als würde er ihn jetzt erst sehen. „Oh, ich beginne zu begreifen.“ „Wird auch langsam Zeit, Mann!“, schimpfte Konrad Clasen respektlos.
„Ihr gehört zu einer dritten Gruppierung. Ihr seid weder Mitglieder dieser Terroristen noch Mitglieder der Polizei. Geheimdienst oder so etwas Ähnliches?“ „So etwas Ähnliches!“, Peter Bell nickte bestätigend. „Uns interessieren weder Vorstrafen noch Gesetzesstrafen, sondern nur die Leute, die alles inszenierten. Was wissen Sie darüber? Am besten erzählen Sie uns mal haargenau, was Sie überhaupt wissen. Stören Sie sich nicht daran, dass Sie es auch der Polizei schon erzählt haben. Wir können uns leider nicht an die wenden, weil die nichts von uns wissen dürfen.“ „Ausländische Macht?“ „Nee, inländisch“, knurrte Peter Bell. „Sie werden also nicht etwa zum Vaterlandsverräter oder so.“ „Also gut, Jungs!“ Phillip Morris erzählte tatsächlich - von Anfang an. Von seinem Verdacht, dass das Geld nach Eifelstadt kommen würde und sogar detailliert von seinem „Sternwarten-Plan“. Ausführlich berichtete er über die Durchführung - und von der anschließenden Detonation. Als er endete, erreichten sie gerade die Straße, nachdem KC9 mehrmals befürchten musste, dass sie nicht mehr weiterkamen. Dreckig und zerkratzt bog der Mercedes auf die Eifelstraße. „Jetzt werden die unser Auto sowieso nicht mehr erkennen!“, meinte Peter Bell. „Vom Lack und der ursprünglichen Form ist nicht mehr viel übriggeblieben.“ „Pessimist!“, schnauzte KC9 ihn an.
11
Endlich waren sie wenigstens grob im Bilde. Sie fuhren in Eifelstadt ein und wunderten sich zunächst, dass es nicht längst auch hier Straßensperren und
dergleichen gab. Schließlich wurde vor Stunden Phillip Morris entführt. KC9 hatte nicht gesagt, was er vorhatte. Deshalb saß Peter Bell wie auf glühenden Kohlen. Er glaubte sich von allen Eifelstädtern beobachtet, aber als die das Mayener Kennzeichen am Auto sahen, verloren sie prompt ihr Interesse. Für sie waren Mayener einigermaßen vertraut. Gewissermaßen Menschen der gleichen Sorte, von denen man nichts Außergewöhnliches erwarten durfte. KC9 hielt direkt neben einer Telefonzelle. Sie stand vor altmodischen Gebäuden und wirkte dadurch reichlich deplaziert. „Bin gleich zurück“, behauptete Konrad Clasen und stieg aus. Die beiden Männer blickten ihm erstaunt nach. „Was hat er vor?“, erkundigte der Denker sich. Peter Bell spielte mit dem Nadler und zuckte die Achseln. „Da müssen Sie ihn schon selber fragen. Mit mir spricht er nicht mehr über seine Pläne…“ KC9 kam nach einem kurzen Telefongespräch zurück, startete den Motor und fuhr wieder in Richtung Ortsrand. „Ich habe eben der Polente erzählt - mit verstellter Stimme, versteht sich -, dass wir zu der Gruppe gehören, denen das Geld…“ „Das ist nicht wahr!“, fuhr Peter Bell fassungslos dazwischen. KC9 fuhr ungerührt fort: „…denen das Geld gehört! Die Sternwarte hätten wir in die Luft gesprengt, um ein Exempel zu statuieren. Wir warnen vor jeder weiteren Pressekampagne. Die Beweise, die angeblich gegen Phillip Morris und seine Kumpane sprechen, wurden von uns im Namen der Terrororganisation untergeschoben. Jetzt wurde er von uns befreit, um aller Welt zu zeigen, zu was wir in der Lage sind. Und dann noch einmal die Warnung, weiterhin nicht mehr in aller Öffentlichkeit nach den Geldgebern zu fragen.“
„Aber damit hast du genau das Gegenteil erreicht“, rief Peter Bell erregt. „Die Polizei wird schon in dieser Minute die Presse informieren, und in spätestens zehn Minuten können wir dein Ultimatum über Radio hören!“ KC9 lachte amüsiert. „Schlaues Köpfchen, Peter!“ „Kein Wunder, Konrad: Dein Genie färbt manchmal ab. Aber, einmal im Ernst, glaubst du denn wirklich, dass es uns Vorteile bringt?“ „Wieso nicht?“ Der Denker war ruhig geblieben und hatte nur gelauscht. Jetzt würde ihm schlagartig klar, welche neue Situation für sie entstanden war: „Deshalb darf ich mich verabschieden? Weil ich ohnehin nicht weit kommen dürfte? Das habt ihr euch ja schön ausgedacht, ihr beiden. Die Polizei wird trotz allem bemüht sein, mich einzufangen. Die haben auch etwas gegen mich in der Hand, wegen dem sie mich verurteilen können: Den Bankraub, wie er ursprünglich geplant war! Das kostet mich mindestens zwei Jahre.“ „Jedem das seinige.“ KC9 zuckte die Achseln. „Dafür, dass Sie ein Leben lang als Denker aktiv waren, haben Sie sich zwei Jahre absolute Ruhe redlich verdient, oder?“ „Und wenn ich jetzt aussteige?“ „Brechen Sie sich das Genick“, meinte Peter Bell lakonisch und deutete auf den Tacho. „Wir fahren immerhin mit fünfzig Sachen.“ „Sofort anhalten, ich mache das nicht mehr mit!“ Phillip Morris schwang wütend die Fäuste. KC9 bremste tatsächlich. „Nein, geben Sie wieder Gas!“, entfuhr es dem erschrockenen Phillip Morris. „Na, was denn jetzt? Wollen Sie aussteigen oder nicht? Sie sollten sich besser
erst entscheiden, bevor Sie reden, und mich nicht so verwirren. Ich bin im Denken nicht so schnell wie Sie geübter Denker. Das müssen Sie verstehen, und dem müssen Sie Rechnung tragen.“ Phillip Morris barg sein Gesicht in den Händen und sagte gepresst: „Sie haben uns alle drei ans Messer geliefert. Die Terroristen werden uns für das, was Sie getan haben, mindestens umbringen. Hoffentlich tun sie es schnell und lassen uns nicht vorher noch leiden.“ KC9 lachte unbeschwert. „Sie haben eine lebhafte und sehr schmutzige Fantasie, mein Lieber. Gehen zu oft ins Kino, was?“ „Ich schaue mir nur im Fernsehen die Nachrichten an.“ „Na, kein Wunder, dass Sie so verdorben sind, wenn Sie ihr zartes Gemüt mit so viel Scheußlichkeiten füttern.“ „Er hat recht!“, erklärte Peter Bell tonlos. „Er hat verdammt recht, unser Denker: Die Terroristen haben alles inszeniert, um endgültig von sich abzulenken, und du hast mit dem Anruf ihre Pläne total durchkreuzt. Ja, bist du denn wahnsinnig?“ „Natürlich! Hast du das noch nicht bemerkt?“ „Du brauchst auch noch Witze zu machen.“ „Tja, Peter, wie gesagt: Du wärst dagegen gewesen. Deshalb habe ich es allein gemacht. Ein Anruf genügte…“ Er schnippte mit den Fingern. „…zack, melden sich die Terroristen bei uns, und wir brauchen sie nicht zu suchen.“ Phillip Morris ließ die Arme sinken. Es war ihm gelungen, seine Beherrschung zurück zu gewinnen. „Das eine will ich euch beiden sagen: Wenn noch einmal jemand versuchen sollte, mich aus dem Knast zu befreien, kann er was erleben!“
Dies war der Augenblick, in dem eine Gewehrkugel auf der Beifahrerseite einschlug, dabei ein bildschönes Loch verursachte, durch den Innenraum des Wagens zwitscherte wie eine besoffene Hornisse und auf der anderen Seite noch ein weiteres rundes Loch stanzte. Die beiden Löcher lagen sich direkt gegenüber. Peter Bell reagierte mit der Schnelligkeit eines trainierten Artisten. Jede Bewegung erfolgte automatisch und war mit den Augen kaum zu verfolgen: Er klappte das Handschuhfach auf und schaltete den Piepmatz ein. KC9 reagierte nicht langsamer. Sie waren ein eingespieltes Team, das sich nicht erst noch umständlich abzusprechen brauchte. Die eine Kugel war nur ein Vorläufer gewesen. Es folgte eine MG-Garbe! Peter Bell warf einen Blick hinaus, als der Wagen, vom Energiefeld getragen, in die Höhe schoss. Die Räder drehten sich frei in der Luft. Der Motor tuckerte im Leerlauf. Das Gaspedal hatte keinen Einfluss mehr darauf, sondern war umfunktioniert. Peter Bell sah die Maschinengewehrgarbe, die im Zeitlupentempo über die Straße schwebte und den Mercedes knapp verfehlte. Sie ging unter ihm hinweg! KC9 überlegte nicht. Er handelte instinktiv, indem er den Wagen herumriss, über den Straßengraben zischen ließ und hart in die Buschreihe dahinter setzte. Peter Bell stieß die Tür auf. Sie hatten zwei Sekunden verbraucht. Mehr nicht! Die zwei Sekunden waren noch nicht einmal ganz voll geworden. Aber sie zählten leider als Ganzes. Hauptsache, sie befanden sich jetzt hinter den Gegnern! KC9 und Peter Bell sprangen gleichzeitig aus dem Wagen. Die Terroristen wunderten sich nicht lange, dass der Wagen plötzlich verschwunden war - von einer Sekunde zur anderen. Peter Bell schoss auf den Maskierten am MG. KC9 nahm einen der anderen beiden aufs Krn, schickte jedoch nur einen ins Land der Träume: Der hatte einen Revolver in der Rechten. Der andere erschien auf den ersten
Blick unbewaffnet. Er fuhr herum und starrte die beiden Agenten entgeistert an. Er glaubte offenbar zu träumen. Dann senkte sich sein Blick auf die beiden Waffen, die ihm fremdartig vorkommen mussten. Er hatte ganz gewiss noch nie in seinem Leben einen Nadler gesehen. Es war auch zweifelhaft, dass seine Organisation ein solches Verteidigungsinstrument jemals benutzen würde, denn es war denen einfach zu human: Man konnte weder verletzen noch töten! Auch dieser hier war maskiert. Die schienen alle unheimliche Angst davor zu haben, erkannt zu werden. Wieso eigentlich? KC9 ging auf den Kerl zu und fragte dabei zerknirscht: „Was seid ihr für ein mieser Verein? Internationales Verbrechen, eh? Schnell reich werden, ohne zu arbeiten?“ Der Typ lachte hysterisch. „Du verdammter Narr. Uns wird keiner entkommen. Bald werden wir die Welt beherrschen. Wir schlagen die Menschheit mit ihren eigenen Waffen.“ „Du machst mich verdammt neugierig. Was meinst du mit eigenen Waffen? Etwa Gewalt?“ „Ja, aber nicht allein!“ „Ich verstehe, Bübchen: Ihr benutzt nur Gewalt, um zu erschrecken. Sie ist nicht echt. Die Leichen bilden wir uns auch nur ein, was?“ Abermals lachte der Kerl hysterisch. Er sprach unzweifelhaft mit Eifelakzent: „Du verdammter Idiot. Du begreifst genauso wenig wie all die anderen. Dann hör einmal gut zu: Geld regiert die Welt. Ist nicht neu, was? Soll heißen: Wer die
Wirtschaft beherrscht, beherrscht auch die Politik. Er braucht dann nur noch den nötigen Willen zum Sieg und darf natürlich keine Skrupel kennen.“ KC9 nickte. „Ich begreife sehr wohl, Bürschelchen. Ihr stört die wirtschaftlichen Zusammenhänge und pumpt freigiebig Geld nach. Damit erkauft ihr euch über Strohmänner Anteile. In Wirklichkeit gehört alles eurer hohen Führung. Je mehr Anteile ihr habt, desto leichter wird es, den Teufelskreis zu beschleunigen.“ KC9 ging in die Knie und hielt dem Burschen seinen Nadler unter die Nase. „Zwei Dinge sind mir jetzt noch schleierhaft: Warum dieses Theater hier in Eifelstadt und auf dem Bocksberg? War es nötig, gleich die ganze Sternwarte in die Luft zu sprengen, nur damit Phillip Morris vor den Kadi kommt?“ Der Maskierte lachte nur. Konrad Clasen schüttelte tadelnd den Kopf. „Ich habe verstanden, dass ihr von euch ablenken wollt, aber…“ Da fiel es KC9 wie die berüchtigten Schuppen von den Augen. Ruckartig erhob er sich. Er deutete mit dem Nadler auf den Maskierten, der vor ihm am Boden lag. „Dann habe ich eigentlich nur noch eine Frage, Bursche: Wieso bist du eigentlich so offen mir gegenüber? Warum hast du nicht einfach geschwiegen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr sonst auch immer solche Werbung veranstaltet!“ „Auch das will ich dir sagen, und ich sehe dir an, dass du endlich begriffen hast, um was es uns hier geht: Ich rede mit dir, weil ich euch gern auf unserer Seite wüsste. Mann, wie habt ihr das gemacht? Seid mit dem Auto auf der Straße. Wir schießen - und plötzlich steht ihr hinter uns! Wo liegt der Haken? Was ist der Trick? So etwas könnten wir gebrauchen.“ „Kann ich mir denken“, knurrte KC9 zornig. „Aber daraus wird nichts. Wir haben hier alles vorbereitet, weil wir mit einem Attentat rechneten.“ Das war natürlich gelogen. „Außerdem seid ihr längst erkannt. Wir sind nicht allein,
sondern hinter uns steht eine mächtige Organisation, die euch noch den Rang ablaufen wird. Wartet es ab. Wir beide sind nur kleine Lichter, und wir kennen unsere Bosse genauso wenig wie ihr eure!“ Das genügte dem Maskierten. Er rollte blitzschnell zur Seite. Seine Rechte fuhr unter die Achsel. Er rollte weiter, so dass KC9 und sein Freund zum zweiten Male danebenschossen. Und dann hatte der Maskierte einen Revolver in der Hand und drückte seinerseits ab. Das heißt, er versuchte es, aber die beiden Agenten hatten sich eingeschossen und trafen ihn mit zwei Nadeln gleichzeitig. Die Hand mit dem Revolver sank schlaff herab. „Sie können kommen, Morris!“, rief KC9 in den Wald. „Hier besteht keine Gefahr mehr. Die waren nur zu dritt.“ Er beugte sich zu dem Maskierten hinab und tat, was er die ganze Zeit schon liebend gern getan hätte: Er zog die Maske des Terroristen hoch. Phillip Morris tauchte in diesem Augenblick aus dem Gebüsch auf. Er verhielt sich misstrauisch. Sein Blick fiel auf das bleiche Gesicht des schlafenden Terroristen. Phillip Morris ließ einen überraschten Laut hören. Seine Augen drohten schier aus den Höhlen zu quellen. Seine Rechte deutete auf den Jungen: „Das - das ist der Sohn meines - meines Nachbarn!“ Konrad Clasen und Peter Bell schauten ihn nicht gerade geistreich an. Aber KC9 sah hier seine Theorie bestätigt, die er sich während des kurzen Gesprächs zurechtgelegt hatte!
12
Sie brachten den Wagen genauso auf die Straße zurück, wie sie die Straße verlassen hatten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, und sie bedienten den Piepmatz, als sei Phillip Morris überhaupt nicht vorhanden. „Na?“, fragte KC9, als sie wieder auf dem Weg nach Eifelstadt waren, „sind wir jetzt richtig vorgegangen oder nicht? Hatte ich recht oder nicht?“ „Natürlich hast du recht“, gab Peter Bell zu, „aber ich auch!“ „Wieso?“ „Wir hatten Erfolg, zugegeben, aber wir könnten jetzt genauso gut tot sein.“ KC9 wiegte bedenklich mit dem Kopf: „Leben heißt das Leben riskieren. Alles andere bringt nichts und macht nur unnötig ängstlich.“ „Lieber ängstlich und in Sicherheit“, brummte Peter Bell ärgerlich, „als mutig und tot!“ „He, was war das eben?“ fragte Phillip Morris fassungslos. Es hatte den Anschein, als hätte er jetzt erst die Sprache wiedergefunden. „Was denn?“, erkundigte Peter Bell sich unschuldig. „Na, das komische Piepsen?“ „Das war dasselbe wie vorher!“, bekam Phillip Morris Antwort. „Dasselbe wie…? Herrgott, das ist nicht fair, mich so auf den Arm zu nehmen. Da piepst es plötzlich, während Sie im Handschuhfach herummachen, und das Auto fängt an zu fliegen.“ Peter Bell machte ein entgeistertes Gesicht und blickte Phillip Morris mit großen Augen an. „Was war das? Ein fliegendes Auto? Jetzt wollen Sie mich aber wohl auf den Arm nehmen, was?“
„Aber ich – ich habe doch…“ Peter Bell tippte sich vielsagend an die Stirn. „Fliegendes Auto? Wer hat denn so etwas schon mal gesehen? Das sind doch Hirngespinste. Nee, Sie scheinen da etwas zu verwechseln. Meinen Sie einen Hubschrauber? Kam der vorhin vorbei? Wird Sie vielleicht suchen, was?“ Phillip Morris rollte mit den Augen. „In Ihrem Handschuhfach habe ich…“ „Herrgott, Herr Morris, jetzt ist es aber genug. Der Knast hat Ihre Seele verwirrt, wie mir scheint. Ein Handschuhfach ist ein Handschuhfach. Da piepst nichts und fliegt nichts.“ Phillip Morris zog den Kopf ein und knirschte mit den Zähnen. Er kochte innerlich. Beinahe erwartete Peter Bell, dass im nächsten Augenblick Rauch und Dampf hochkräuselten. Aber Phillip Morris sagte nichts mehr. * Sie fuhren in die Stadt hinein und hielten an einer dr selten gewordenen Telefonzellen. „Na los, Denker!“ „Was denn?“ „Ist doch klar, Denker, oder nicht?“ „Ich heiße Phillip Morris: M-o-r-r-i-s! Und sagen Sie nicht Denker zu mir. Das klingt aus Ihrem Munde so ironisch. Außerdem ist überhaupt nichts klar.“ KC9 deutete auf die Telefonzelle. „Na, das hier meine ich. Ist doch gar nicht so schwer, Denker.“
„Ich habe soeben gesagt, dass ich…“ Phillip Morris ruckte auf einmal auf wie von einer Tarantel gebissen. „Soll - soll das vielleicht heißen, dass ich anrufen soll?“ „Na, endlich hat er es begriffen.“ Kopfschüttelnd wandte KC9 sich an seinen Freund. Peter Bell blinzelte ihm zu. Phillip Morris war am Ende. Das sah man ihm an. Er ballte die Hände zu Fäusten und hieb auf die Rückenlehne des Fahrersitzes. „Wer denn, zum Teufel, soll denn von mir angerufen werden? Und warum?“ KC9 wandte sich um und tätschelte beruhigend seine Schulter. „Nur immer die Ruhe, mein Freund. Der eine sieht weiße Mäuse und der andere fliegende Autos. Haftkoller nennt man das heutzutage. Schlimme Sache, das! Ordnen Sie Ihre Gedanken und kommen Sie selber darauf: Sie müssen das Präsidium anrufen oder meinetwegen das Untersuchungsgefängnis.“ KC9 rieb sich mit den Fingern längs der Nase. „Moment Mal, es könnte auch direkt das Amtsgericht sein.“ Er stieß den Zeigefinger Phillip Morris gegen die Brust. „Auf jeden Fall rufen Sie an und behaupten, sich von den Befreiern befreit zu haben. Sie beschreiben dabei die hübsche Stelle mit den Maskierten und behaupten richtig, dass es sich bei denen um gesuchte Terroristen handelt. Obwohl noch niemand weiß, dass sie überhaupt Terroristen sind. Das Weitere ist dann das Problem der normalen Justiz. Einverstanden?“ „Ich soll…?“ „Nein, Sie brauchen jetzt nicht alles zu wiederholen, Herr Morris. Es genügt, wenn Sie sich beeilen, bevor die Eifelstädter begriffen haben, wer Sie sind!“ Phillip Morris ergriff den drohenden Zeigefinger des Agenten, blickte dem in die Pupille, mit allen Anzeichen eines beabsichtigten Mordes, ließ dann aber doch wieder los und stieß den Wagenschlag auf.
Als er den Wagen umrundete, trat er einmal gegen den linken Vorderreifen und das zweite Mal gegen die Stoßstange. Das war seine Art, seinen Zorn abzureagieren. „Ganoven sind auch nur Menschen“, zitierte Peter Bell halblaut. „Quäle keinen Ganoven zum Schmerz, denn er spürt wie du den Scherz!“ „He, was war das denn?“ „Stegreiflyrik!“, klärte Peter Bell seinen Freund auf. „Dachte ich mir doch: Genauso hört es sich auch an. Aber heißt es nicht zuerst Scherz und dann erst Schmerz?“ „Wie kommst du darauf?“ „Ist ja schon gut. Ich weiß ja: dichterische Freiheit und so!“ „Danke für das Verständnis!“ * KC9 stützte seinen Kopf in die Hand und beobachtete Phillip Morris während seines Telefonates. Gern wäre er mit hinausgegangen, um jedes Wort zu hören. Aber er fand es besser, wenn er Morris vertraute. Außerdem hatte er für genügend Wut im Bauch des Ganoven gesorgt. Der würde jetzt der Polizei gründlich die Meinung sagen und dann den Hörer auf die Gabel zurückknallen. Die würden gar nicht auf die Idee kommen, an einen anderen Anrufer zu glauben als an Phillip Morris. Also würden sie sofort losbrausen, um sich davon zu überzeugen, ob die Angaben auch stimmten. Und dann knallte Morris tatsächlich den Hörer auf die Gabel und stampfte aus der Zelle. Es war genauso, wie KC9 es vorausgesehen hatte. Er ließ den Motor an. Morris stieg hinten ein und hieb die Tür zu, dass der Wagen wackelte. KC9 fuhr an und bog in die nächste Seitenstraße ein, um nicht doch noch der
Polizei zu begegnen. „Tut mir leid, Herr Morris, dass ich Sie so gereizt habe. Sehen Sie jetzt ein, dass es besser war?“ Morris legte den Kopf in den Nacken und blickte angelegentlich gegen den Autohimmel. „Man nennt mich den Denker. Seit ich euch beide kenne, finde ich das ungerecht, denn wenn ich der Denker bin, müsste man euch Genies nennen, und das widerstrebt mir kolossal.“ Er blickte wieder nach vorn. „Und was jetzt?“ „Kommt darauf an, was Sie denen in Ihrer Wut erzählt haben?“ „Inhaltsgemäß folgendes: Die Terroristen wollten von mir ablenken, indem sie mir alles in die Schuhe schoben. Sämtliche mir vorgeworfene und angeblich bewiesene Straftaten gehen in Wahrheit auf ihr Konto. Sie befreiten mich, weil ich sie nicht nur durchschaut, sondern auch erkannt habe. Bei der Vernehmung sagte ich nichts davon, weil die Beweise fehlten. Die Terroristen gehören einer internationalen Gruppe an, die viel Einfluss besitzt. Sie befreiten mich, um mich völlig mundtot zu machen, damit ich sie nicht verriet. Davor hatten sie am meisten Angst. Deshalb mussten sie auch ihren ursprünglichen Plan verwerfen und ihre Anonymität verlassen. Dabei spielte ich auf Ihren Anruf an, Konrad!“ KC9 deutete mit dem Daumen auf ihn und sagte zu Peter Bell: „Hast du gehört, Peter? Er sagt jetzt schon Konrad zu mir! Das nenne ich wahre Freundschaft.“ Phillip Morris faltete die Hände vor seinem Bauch und wirkte auf einmal satt und zufrieden. Dann sagte er ruhig: „Der Konrad war ein guter Bub, kugelrund und kerngesund, bis eines Tages er dann sprach: Ich will nicht mehr, o weh und ach! Ich will nicht mehr der Klügste sein, wo's doch der Denker ist allein!“ Konrad Clasen war so verblüfft, dass er beinahe zu steuern vergaß. Peter Bell konnte ihm gerade noch zu Hilfe eilen.
„Nein!“, stöhnte Konrad Clasen. „Das zur Warnung“, meinte der Denker und zupfte von seiner Jacke ein Stäubchen, das dort gewiss nicht vorhanden war. „Ich kann nämlich auch dichten. Ist 'n Hobby von mir, müssen Sie wissen. Wer eine Achillesferse hat, sollte sie wohl hüten, damit keiner kommt, um hinein zu pieksen!“ Peter Bell lachte schallend. Er schlug sich klatschend auf die Schenkel und wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Es ging ganz auf Kosten von KC9, dessen Wut keine Grenzen mehr fand. Er hörte nicht einmal die Polizeisirenen auf der Hauptstraße, sondern gab Gas, als gelte es, eine Rallye zu gewinnen. Die Eifelstädter sprangen erschrocken in Deckung, als der angebliche Mayener wie ein wildgewordenes Bison durch die viel zu engen Straßen preschte.
13
Außerhalb von Eifelstadt gab es Kriegsrat, zumindest im Ansatz, und das war so: KC9 parkte den Mercedes, nachdem er sich abgeregt hatte, und drehte sich herum. „Schlage vor, wir fassen noch einmal kurz zusammen, was wir über die Motive unserer Freunde wissen. Daraus wird sich dann vielleicht die nächste Handlung ableiten lassen.“ „Soll das heißen, du weißt nicht mehr weiter?“, fragte Peter Bell ungläubig. KC9 grinste ihn an. „Traust du mir das etwa zu?“ Peter Bell winkte ab.
„Also gut, fangen wir an.“ Allerdings waren sie damit am Ende genauso weit wie am Anfang ihrer Erörterungen. Gab es sonst noch was, das sie vielleicht übersehen hatten? KC9 grinste seinen Freund an. Aber dann begann auch der Denkapparat von Peter Bell zu arbeiten, und er fand die Lösung selber. Phillip Morris knurrte abgrundtief, und als er dann auch noch nickte, war klar, dass er ebenfalls wusste, worauf Konrad Clasen hinaus wollte. Peter deutete mit dem Daumen auf ihn. „Glaubst du wirklich, dass wir ihn dort finden, Konrad?“ „Sei einmal ein Optimist, Peter, und hoffe! Wenn nicht, werden wir eine Menge Schwierigkeiten haben, denn es wird die Sache erheblich verkomplizieren.“ * Phillip Morris kannte sich in der Umgebung gut aus. Er kannte auch gewisse Schleichwege, über die man Abkürzungen erreichte. Über eines waren sie sich alle drei im Klaren: Weder KC9 noch Morris hatten mit Kommissar Hänflein direkt telefonieren können, der ja immerhin als Leiter der direkten Polizeiaktion gegen Morris fungierte. Es gab zwar auch noch andere, die sich mitverantwortlich für den Fahndungsteil fühlten, aber wieso waren nur diese erreichbar gewesen? Vielleicht hatte die auffällige Abwesenheit von Hänflein wirklich einen gewichtigen Grund? Das war ihr Ansatz! „Es ist nicht mehr weit!“, murmelte Phillip Morris brüchig. Er schaute ängstlich nach draußen.
„Sie müssen es ja wissen“, knurrte Peter Bell. „Schließlich wohnen Sie hier!“ KC9 stoppte den Wagen. Phillip Morris fragte: „Glaubt ihr wirklich, dass Kommissar Hänflein sich in meinem Haus befindet?“ „Wo denn sonst?“ „Ihr habt recht, Jungs. Er muss annehmen, dass ich nach meiner spektakulären Flucht irgendwann ins traute Heim zurückkehre. Wo soll ich sonst hin? Hier habe ich Geld, Kleidung und alles, woran ich hänge. Er spekuliert darauf.“ „Na, dann wollen wir ihn nicht enttäuschen!“, sagte KC9 und machte eine einladende Geste. „Was denn?“, brauste Phillip Morris auf. „Soll ich etwa allein gehen?“ „Wer soll Sie denn am Händchen führen? Mann, ich denke, Sie sind erwachsen?“ „Nein, so haben wir nicht gewettet, ihr beiden. Ich hole für euch nicht die Kastanien aus dem Feuer.“ „Für uns? Wer behauptet das? Nein, nur für Sie selbst! Erst wenn Hänflein mit dem Fall nicht mehr betraut ist, haben Sie überhaupt eine Chance, mit lächerlichen zwei Jährchen oder noch weniger aus der Sache herauszukommen. Sehen Sie, Herr Morris, für dieses kleine Geschenk müssen Sie schon etwas tun. Überlegen Sie mal, was Sie alles auf dem Kerbholz haben. Wäre doch eine Schande, Sie nicht mehr bis zu Ihrem Lebensende auf freiem Fuß zu sehen, nicht wahr? Mir kommen glatt die Tränen, wenn ich nur daran denke!“ „Glaube ich unbesehen“, knurrte Phillip Morris wütend. „Da sagt man von mir, ich sei der Denker!“ „Das Thema hatten wir schon!“, erinnerte KC9 ungerührt. „Ich schlage vor, wir warten nicht mehr länger mit unserer Aktion, sonst ist der Vogel ausgeflogen.“
„Wie stellen Sie sich die Sache vor?“ KC9 zuckte die Achseln. „Sie gehen selbstsicher, mit den Händen tief in den Taschen vergraben, zu Ihrem Haus. Nichts rührt sich. Sie treten ein und lassen Ihre Story los.“ „Story?“ „Ja, Sie müssen sehr glaubwürdig sein, Herr Morris: Erzählen Sie denen, dass Hänflein ein Verräter ist, der mit Ihnen gemeinsame Sache macht und Ihnen zur Flucht verhalf!“ „Was denn, damit die mich umlegen?“ „Ganz im Gegenteil, Herr Morris: Man wird Sie schützen!“ „Und ihr?“ „Wir sind in der Nähe. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir wollen doch schließlich die Zentrale finden, nicht wahr?“ „Mit mir als Köder?“ „Wollen Sie oder wollen Sie nicht?“ Phillip Morris stieß den Wagenschlag auf und machte sich brummig auf den Weg. * Die Worte von Konrad Clasen hallten in ihm nach, als er sich dem Haus näherte. Er kam von der Rückseite. Wahrscheinlich erwartete man ihn hier eher als von vorn. Der mit Betonplatten ausgelegte Hof, der das herrschaftliche Haus mit dem restlichen Grundstück verband und bis zur Doppelgarage stieß, lag vor ihm. Phillip Morris brachte es sogar fertig zu grinsen. Er versenkte die Hände tief in den Taschen - wie empfohlen – und betrat den Hof.
Er war fest überzeugt, beobachtet zu werden, obwohl er nichts und niemanden sehen konnte. War Hänflein wirklich da? Wenn nicht, hatte er im wahrsten Sinne des Wortes Pech. Dann würden die beiden Agenten ohne ihn weitermachen müssen. Phillip dachte gar nicht daran, pessimistisch zu werden, und ging mit festem Schritt zur Hintertür. Er erreichte sie und öffnete. Natürlich nicht abgeschlossen! Also doch! Phillip Morris trat ein. Die Tür schwang hinter ihm zu. Er ging den Flur entlang zur Wohnzimmertür, die einladend weit offenstand. Kaum hatte er sie erreicht, als hinter ihm eine Stimme ertönte: „Guten Tag, Herr Morris!“ Sie klang zynisch und war Phillip Morris nur allzu bekannt. Er blieb stehen und wandte sich nicht um. In sein Blickfeld rückten zwei Maskierte. Sie hatten ihn im Wohnzimmer erwartet. Kommissar Hänflein hingegen befand sich im kurzen Flurstück. „Mit Ihren Freunden, wie ich sehe? Und wo sind Ihre Kollegen von der Polizei?“ „Sie überraschen mich, Phillip Morris. Sollten Sie alles durchschaut haben auch meine Rolle?“ „Sie überraschen mich auch, Hänflein!“ Phillip Morris lächelte die Maskierten an. Sie reagierten irritiert. Phillip Morris schüttelte tadelnd den Kopf.
„Begreifen Sie nicht, Hänflein, dass Ihr Spiel aus ist?“ „Wie soll ich das verstehen? Sind Sie nicht allein gekommen oder was?“ „Ich meine die Tatsache, dass ich überhaupt kam. Warum haben Sie den Maskierten nicht erzählt, wieso Sie in meinem Haus auf mich warten persönlich?“ „Das habe ich!“ Hänflein hatte plötzlich einen schlimmen Verdacht, aber der reichte noch nicht, Phillip Morris von hinten zu erschießen. Phillip Morris kannte das Risiko sehr wohl, aber er wusste auch, dass er in den Maskierten Misstrauen geweckt hatte – jetzt schon. Wenn Hänflein ihn jetzt niederschoss, würde er sich verantworten müssen. Weniger vor der Polizei, die er verraten hatte, sondern vielmehr bei der Organisation, was viel schlimmer gewertet werden musste. „Oh, Hänflein, ich glaube kaum, dass Sie dabei die Wahrheit gesagt haben. Wie heißt es doch so schön: In der Wahrheit liegt die eigentliche Gefahr für den Betrüger!“ Phillip Morris trat blitzschnell beiseite. Die Maskierten folgten seiner Bewegung mit der Waffe, aber sie schossen nicht. Es stand außer Zweifel, dass man hier auf ihn gewartet hatte, um ihn zu töten, weil er inzwischen zu einer Gefahr geworden war. Vielleicht hätten sie ihn vorher noch versucht auszuhorchen, wer wirklich bei seiner Flucht geholfen hatte, aber anschließend hätte er sterben müssen. Phillip Morris hatte dennoch den Eindruck, die Sache kühl im Griff zu haben. Jetzt bewies es sich, warum er den Spitznamen „Der Denker“ trug! Hänflein hatte direkt hinter Morris gestanden. Die Maskierten sahen jetzt sein kreidebleiches Gesicht und die zitternde Waffenhand.
Einer der Revolver deutete prompt auf Hänflein! Weitere Maskierte traten hinzu. Jetzt waren es insgesamt sechs. Alle, die sich im Haus befanden, um Morris abzufangen? „Was hat das zu bedeuten?“, fragte einer mit hinter der Maske dumpf klingender Stimme. Phillip Morris glaubte, diese Stimme schon einmal gehört zu haben, aber er konnte sich irren. Drei Waffen waren jetzt auf Hänflein gerichtet. Er ließ zögernd seine Dienstpistole sinken. „He, merkt hier denn niemand, dass der Denker uns hereinlegen will?“, begehrte er auf. Er hatte Angst, panische Angst. Das wurde für jeden deutlich. Feigling!, dachte Phillip Morris verächtlich. Durch deine Feigheit machst du mir leichtes Spiel. Es macht kaum noch Spaß, dich denen ans Messer zu liefern. Das Duell der Killer: Phillip Morris hatte sich geschworen, es in Gang zu setzen. Sie waren nur zu dritt gegen eine ganze Organisation. David gegen den Riesen Goliath. Da konnten nur noch List und Tücke helfen! Er lachte halblaut. „Sieh mal einer an, Hänflein. Angst? Vor mir?“ Abermals lachte er. „Oder vor dem, was ich zu sagen habe? Du bist ein verdammter Narr. Wie konntest du denn glauben, dich gegen eine so mächtige Organisation auflehnen, ja, sie sogar übers Ohr hauen zu können?“ „Rede keine Operetten, sondern spucke aus, was du zu sagen hast, Morris!“, knurrte der maskierte Anführer und bedrohte ihn mit der Waffe. Phillip Morris ignorierte es. Er betrachtete angelegentlich seine Fingernägel und sagte ruhig:
„Hänflein hat mir ein kleines Geschäft vorgeschlagen, nachdem ich so tief in der Klemme saß. Seine Beteiligung in diesem Geschäft erschöpfte sich zunächst in meiner Befreiung. Das hat er großartig inszeniert. Oder habt ihr geglaubt, es wäre so leicht, aus dem Untersuchungsgefängnis zu entkommen?“ Er strahlte Ruhe und Sicherheit aus, während Hänflein plötzlich zu winseln begann: „Das - das ist doch überhaupt nicht wahr! Ich - ich war doch die ganze Zeit über hier. Das - das könnt ihr doch alle bezeugen, nicht wahr?“ Der Anführer schnauzte ihn an: „Ja, natürlich warst du hier - aber erst nachdem Morris ausgebrochen war. Du wolltest ihn persönlich erledigen, falls er kommt, damit er nicht mehr quatschen kann. Jetzt ist mir das klar. Aber du hofftest, dass er nicht wieder auftaucht.“ Er wandte sich an Phillip Morris. „Was solltest du für ihn tun?“ „Och, eigentlich nicht viel. Er schätzt mein Köpfchen. Immerhin habe ich nur einmal verloren: Durch euch. Und auch nur deshalb, weil ich von eurem Vorhandensein überhaupt nichts ahnte.“ „Heraus mit der Sprache!“, schnappte der Anführer. Phillip Morris verschränke die Arme vor der Brust. „Ich sollte meine Verbindungen spielen lassen und eine kleine Armee ausgebuffter Jungs zusammentrommeln, nachdem die Wellen sich geglättet hätten.“ „Und wozu?“ Er lächelte freundlich: „Um euch den Garaus zu machen. Er wollte mir sagen, wo sich eure Zentrale befindet und…“
„Was sollte dein Anruf im Präsidium?“ „Tja, das war der erste Schritt, meine Herren. Das heißt, es war natürlich der zweite, denn zuerst rief ich mit verstellter Stimme an. Das wisst ihr sicherlich auch - genauso wie Hänflein. Ich musste ihn in Sicherheit wiegen und so mimen, als wollte ich alles so gestalten, wie er es sich vorstellt - aus reiner Dankbarkeit.“ „Und jetzt?“ „Und jetzt habe ich erkannt, dass es besser ist, dem Stärkeren zu dienen.“ Er deutete eine gekonnte Verbeugung an. „Das heißt, wenn meine Dienste überhaupt gefragt sind. Ich stehe Ihnen mit jahrelanger Erfahrung zur Verfügung.“ „Was glaubst du, was wir jetzt mit dir tun?“ Er zuckte die Achseln und sagte wahrheitsgemäß: „Ich habe keine Ahnung. Als ich her kam, entschied ich mich für euch. Sonst hätte ich lieber das Weite gesucht. Vielleicht finde ich hier den Tod? Dann geht es wenigstens schneller. Verloren hätte ich ohnedies. Ihr seid halt zu mächtig für den Denker.“ „Du verdammtes Schwein!“, schrie Hänflein und riss die Pistole hoch, um auf Phillip Morris zu schießen. Drei Waffen krachten gleichzeitig und trafen den verräterischen Kommissar. Ohne einen weiteren Laut von sich zu geben, sank der falsche Polizist zu Boden. So endet eine traurige Karriere, dachte Phillip Morris erschüttert: Natürlich traurig! Er sah auf. „Mitkommen!“, befahl der Anführer und winkte ihn zur Tür. Sie wollten ihn entführen? Verdammt, dieser Kronrad kriegt immer recht. Ist das ein Hellseher oder was?
Der wird mir allmählich unheimlich, und sein Freund Peter ebenfalls. Tun manchmal wie die kleinen Jungen, die sich streiten müssen, dabei haben sie es faustdick hinter den Ohren. Für wen arbeiten die wirklich? Wieso nehmen es zwei Leute allein gegen eine solche Organisation auf? Nein, die sind überhaupt nicht allein: Ich bin mit ihnen, auch wenn ich jetzt nicht mehr so viel zu tun brauche: Ich brauche nur zu überleben.
14
Die beiden Saarbrücker pirschten sich in Indianermanier heran. Dass dabei ihre Garderobe zum Teufel ging, durfte sie jetzt nicht stören. Es ging um Wichtigeres. Aus wohlgewählter Deckung beobachteten sie das Haus. Außerhalb schien sich kein Wachtposten zu befinden. Phillip Morris war im Haus verschwunden. Gebannt warteten die beiden ab. Wie würden die Dinge sich entwickeln? Erwartungsgemäß? Sie lauschten. Und da hörte KC9 mit seinem superfeinen Gehör ein Geräusch, das nicht in die umgebende Lautkulisse te. Auch Peter Bell wurde aufmerksam. Sie rührten sich allerdings nicht vom Fleck, sondern versuchten herauszufinden, von wo das Geräusch erklang. Seitlich versetzt. Sie mussten sich herumdrehen, um die Ursache zu sehen. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr für sie: Auch in dem Wäldchen gab es Wachen, um auf Phillip Morris zu warten. Die beiden Agenten waren entdeckt!
Wie auf ein Kommando spritzten die beiden Freunde plötzlich auseinander und wirbelten gleichzeitig herum. Ihre Nadler lagen wie hingezaubert in ihren Händen. Es handelte sich um zwei Terroristen. Sie waren maskiert wie alle anderen. KC9 kam das allmählich lächerlich und übertrieben vor, aber er machte sich jetzt keine Gedanken darüber, sondern schoss. Seine Nadel traf den Gegner auf seiner Seite. Der hätte nur den Finger krumm zu machen brauchen, als KC9 noch auf dem Bauch gelegen hatte. KC9 war dennoch schneller gewesen - und dadurch erfolgreicher. Sein Gegner brach zusammen. Peter Bell hatte in derselben Sekunde Erfolg. Sie zwinkerten sich zu, standen auf und gingen nachsehen, ob die beiden wirklich allein gekommen waren. Sie waren! Dann kümmerten sie sich nicht mehr um die Schlafenden. „Ts, ts!“, machte KC9. Peter Bell wusste, dass jetzt etwas Lästerhaftes folgen würde, und er täuschte sich nicht: „Legen sich hin zum Pennen - und das während des Dienstes. Also nein, heutzutage gibt es keine Dienstmoral mehr unter den Terroristen!“ Peter Bell verzog das Gesicht. Solange man noch Witze machen konnte, lebte man noch. Aber im Grunde genommen war das Thema viel zu ernst, um es auch noch zu glossieren. KC9 kannte solche Beschränkungen jedoch nicht. Er lästerte über wen er wollte
und fragte oftmals auch nicht, ob der Zeitpunkt end war. Genau das war ja das Fatale mit ihm! Peter Bell wusste es, verdrängte es aber, weil in diesem Augenblick drüben im Haus die Schüsse fielen. Wer hatte gewonnen: Phillip Morris oder der betrügerische Polizist? Sie waren beide plötzlich sehr nervös und sicherten öfter als vorher nach allen Seiten. Die Terroristen verließen das Haus durch den Hinterausgang, aber nicht alle. Es kamen nur zwei. Sie führten Phillip Morris mit sich. Der Denker wirkte ganz gelockert. Angst schien er keine zu haben. Hoffentlich vertraute er seinen neuen Freunden nicht zu sehr! Das waren Peters Gedanken, als sie sich aufstemmten und sich leise zurückzogen. Erst in gebührender Entfernung richteten sie sich ganz auf und begannen zu rennen. * Keuchend erreichten sie den Wagen. „Wieso nur zwei? Wieso nicht alle?“, fragte KC9 nachdenklich. „Weil du recht hast, Konrad, und weil die zur Zentrale fahren! Wahrscheinlich wissen die wenigsten, wo die sich befindet. Und da darf halt nicht jeder mit, damit das so bleibt.“ „In Ordnung, Peter Bell, das wollte ich von dir hören. Ich dachte schon, bei mir wäre der bloße Wunsch Vater des Gedankens. Wir müssen die also nur verfolgen, um zur Zentrale zu kommen. So einfach und gleichzeitig so schwer ist es.
Von hier aus kommen wir nicht ungesehen zur Straße. Wir wissen auch nicht, in welche Richtung die gefahren sind. Und noch etwas: Wir werden von Terroristen gesucht. Sie werden den Wagen trotz allem Dreck und trotz des anderen Kennzeichens erkennen. Das traue ich ihnen zu.“ Peter Bell winkte mit beiden Händen ab. „Ich weiß, ich weiß! Du willst mich nur dazu überreden, wieder den Piepmatz einzusetzen. Also gut, ich kann nichts dagegen tun.“ „Wie viele Sekunden haben wir schon auf dem Schuldkonto?“ „Die Uhr zeigt zehn!“, sagte Peter Bell, nachdem er das Tarnfach geöffnet hatte. „Nicht gerade rosig. Wir benötigen Zeit, damit sich die Energie mehr aufladen kann.“ „Zeit ist das einzige, was wir überhaupt nicht haben!“ Damit hatte KC9 haargenau das Problem angesprochen. * Phillip Morris fühlte sich nicht wohl – gerade so wie ein Opfertier. Und das war er letztlich auch. Obwohl er diesen Weg freiwillig beschritt. Die beiden Saarbrücker hätten ihn nicht dazu zwingen können. Er hing seinen Gedanken nach, während der Wagen quer durch den kleinen Ort fuhr und ihn auf der anderen Seite verließ. Es ging eine steile Straße hinauf. Phillip Morris wähnte die hiesige Zentrale der Verbrecherorganisation in einsamer Gegend. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich im Ort befand. Hier kannte jeder jeden. Es wäre aufgefallen, hätten sich irgendwo ungewohnte Aktivitäten entwickelt. Seine Vermutung schien zuzutreffen. Phillip Morris grinste seine beiden Bewacher an. Einer saß hinter dem Steuer und war in erster Linie damit beschäftigt, den Wagen zu lenken. Der andere saß hingen neben ihm, mit der drohenden Waffe in der Faust. Er erwiderte das Grinsen.
Davon ließ Phillip Morris sich nicht täuschen. Er wusste, dass der Mann sofort schießen würde. Aus einem einzigen Grund allein schon: Er hatte die Maske abgelegt! Jetzt sah Phillip Morris ganz genau, mit wem er es zu tun hatte: Mit dem Ortsvorsteher der kleinen Gemeinde Grünbach in der Nähe von Eifelstadt: Günter Pritz! Der hinter dem Steuer war in diesem Ort unbekannt. Sie hatten die Masken nur abgelegt, weil sie gezwungen waren, durch den Ort zu fahren. Sie wollten nicht unnötig auffallen. Phillip Morris hatte sich ganz klein machen müssen, um nicht gesehen zu werden. Sie hatten in dieser Beziehung Glück und kamen unbeobachtet aus dem Ort heraus. Phillip Morris setzte sich bequemer hin und fragte ruhig: „Was macht ihr mit der Leiche des guten Joseph Hänflein?“ Der Ortsvorsteher grinste. „Er bleibt liegen.“ „Aha, damit jeder annehmen muss, ich hätte ihn über den Haufen geschossen, was? Mit drei verschiedenen Waffen?“ „Das wird man vielleicht gar nicht näher untersuchen. Die Sache liegt doch auch so schon klar auf der Hand. Man glaubt von behördlicher Seite aus, dass Hänflein allein in deinem Haus wartete.“ „Gut ausgedacht, ihr beiden. Wie soll es eigentlich weitergehen mit mir?“ „Rate mal!“ „Ihr seid auch nur zweite Garnitur. Deshalb bringt ihr mich jetzt zur Zentrale, wo der eigentliche Boss seine Entscheidungen trifft. Bin sehr gespannt auf die Zentrale, wie ich zugeben muss. Obwohl es mir dort vielleicht an den Kragen geht.“
Er zuckte gleichmütig mit den Achseln und fuhr fort: „Wisst ihr, ich bin sowieso nicht mehr der Jüngste und habe mein Leben gelebt. Mit euch spiele ich ein riskantes Spiel, aber ich hatte ohnedies nur die Wahl zwischen…“ „Das wissen wir bereits, Phillip Morris. Du hörst dich gern reden, nicht wahr?“ „Und ihr habt Angst, mir mit euren Reaktionen mehr zu verraten als euch lieb ist!“ Phillip Morris nickte lächelnd. „Könnt euch nicht daran gewöhnen, dass ich in Zukunft vielleicht auf eurer Seite kämpfe, was? Ja, ich rechne damit, obwohl die Chancen schlecht stehen. Das zeigt allein die bildschöne Hänflein-Leiche. Solange man mich überall sucht, nutze ich euch als Mitarbeiter wenig.“ Er beugte sich vor und fügte leiser und im Verschwörerton hinzu: „Aber wenn ihr mich umlegt, nutze ich euch auch nichts, denn einer Leiche kann man nicht mehr so viel in die Schuhe schieben! Für euch wird es das Beste sein, mein Leben zu schützen, wo ihr nur könnt. Dann habt ihr einen Sündenbock und einen Ideenlieferanten für künftige Maßnahmen. Euer Boss ist ein schlauer Kopf, der das sicherlich alles zu schätzen weiß!“ Der Ortsvorsteher spielte nervös mit der Waffe. Phillip Morris wusste die Zeichen zu deuten und lehnte sich zurück. Künftig hielt er den Mund. Er dachte an den unbekannten Boss der Verschwörer. Sicherlich kannte er den Typ nicht. Und er dachte an noch etwas: Welcher seiner Leute war der Verräter? Er hatte einen Verdacht, aber den wollte er erst aussprechen, wenn es sich bestätigt hatte. Er rechnete damit, dass der Verräter Henry Mallon hieß! Deshalb war der Mann auch so übertrieben nervös erschienen. Und noch etwas sprach für die Theorie, dass es überhaupt einen Verräter gab:
Die Tatsache, dass die Terroristen nicht auf die vier Bankräuber geschossen hatten, als die Geldübernahme erfolgt war. Obwohl Karl Sekam für einen Toten gesorgt hatte, war das Feuer nicht wirkungsvoll erwidert worden. In der Eile hätte man schließlich den Verräter erschießen können, aber den brauchte man schließlich als Belastungszeugen gegen Phillip Morris und seine Komplizen! Phillip Morris würde bei nächster Gelegenheit fragen, aber nicht die beiden, die ihn zur Zentrale brachten, sondern den zuständigen Mann. Er wollte sich nicht mehr mit Schmidtchen abgeben, sondern wollte gleich zu Schmidt. Die beiden hier waren sowieso nichts weiter als Marionetten. Phillip Morris schüttelte in Gedanken den Kopf. Enorm, wenn man bedachte, wie erfolgreich die Verbrecherorganisation in dieser Umgebung war, wenn sogar der Ortsvorsteher ein praktizierendes Mitglied darstellte. Und dann waren sie beinahe schon am Ziel!
15
Phillip Morris hatte zwar nicht gerade eindeutige Wegweiser oder Hinweisschilder vermutet, aber zumindest irgendein Anzeichen dafür, dass sie sich so nahe am Ziel befanden. Der Wagen war irgendwo von der schmalen Hauptstraße ab und auf einen Feldweg gebogen. Über Wiesen und Felder ging es zum Wald. Damit war die Eifel reich gesegnet. Weit und breit gab es kein Haus.
Der Waldweg wirkte gepflegt. Wenn sich hier die Zentrale befand, dann war der Förster sicherlich auch mit von der Partie. Phillip Morris konnte durch nichts mehr überrascht werden. Ihm erschien es zurzeit, als wäre die halbe Eifel in der Hand von Verbrechern, und allzu weit her geholt war das sicherlich nicht. Der Wald wurde dunkler und der Weg schmaler. Auf einmal bremste der Fahrer ab und zog ein kleines Kästchen aus der Tasche. Er drückte einen Knopf. Sie brauchten nur Sekunden zu warten. Da teilten sich vor ihnen die Büsche, wie von Zauberhand bewegt. Dahinter kam ein schräg in die Erde verlaufender Schacht zum Vorschein. Die Rampe war steil, konnte den Wagen aber gut aufnehmen. Der Fahrer legte den ersten Gang ein und ließ den Wagen auf die Lücke zurollen. Er kurbelte das Fenster ein Stückchen auf. Von draußen ertönte das Zwitschern von Vögeln und das Rauschen des Windes. Aber da war noch ein Geräusch! Der Fahrer hörte es ebenfalls. Sofort bremste er wieder. Er schaltete sogar den Motor ab. Mit bleichem Gesicht wandte er sich an seinen Kumpan. Der zuckte die Achseln. Sie lauschten alle drei: Da war ein Auto! Waren sie verfolgt worden? Noch während sie darüber nachdachten, verstummte das Geräusch. Es knackte irgendwo im Unterholz. Dann kam etwas genau auf sie zu, obwohl sie nichts sehen konnten. Die beiden Gangster rissen die Waffen herum. Sie waren äußerst erregt.
Ein Rudel Rehe kam zum Vorschein, schlug erschrocken einen Haken und verschwand auf der anderen Seite des Weges. Abermals sahen die Gangster sich fragend an. Phillip Morris dachte an die beiden Saarbrücker und schwitzte. Herrje, die waren vielleicht leichtsinnig. Was hatten sie denn wieder vor? Phillip Morris war ganz sicher, dass die irgendwelche technischen Tricks auf Lager hatten, obwohl sie es nicht zugeben wollten. Zwar weigerte sich sein Verstand, alles zu akzeptieren, was er mit den beiden erlebt hätte, aber die Tatsachen konnten nicht geleugnet werden. Und was war jetzt? Es konnte eben wirklich nur einen einzigen Verfolger geben und das waren die beiden Saarbrücker! Es war nichts mehr zu hören. „Ich gehe nachsehen!“, knurrte der Fahrer und stieß den Wagenschlag auf. „Nein, bleib doch hier!“, beschwor der Ortsvorsteher ihn. „Die Anlage hat eine ausreichende Überwachung. Wir haben nichts zu befürchten. Vielleicht befindet sich außer uns noch ein Liebespärchen im Wald? Wenn sie der Anlage zu nahe kommen, fallen sie auf. Wir können sie dann über Bildschirm beobachten. Wenn du aber zu Fuß unterwegs bist, bin ich mit Morris allein.“ „Du hast recht!“ Der Fahrer schlug die Tür zu und ließ den Motor wieder an nicht bevor er wieder gelauscht hatte. Alles nach wie vor ruhig. Der Wagen tuckerte in die Öffnung und rollte die steile Rampe hinunter. Das Herz von Phillip Morris schlug unwillkürlich schneller. * Unten herrschte blendende Helligkeit.
Es erschien ihm, als wäre die Öffnung ein Höllenschlund, der sich gierig über ihm schließen wollte, um ihn nie mehr freizulassen. Er hatte auf einmal Angst, eine unerklärliche, weil kreatürliche Angst! Was war das für eine Einrichtung, inmitten der Eifel entstanden und anscheinend mit sagenhafter Technik ausgerüstet? Der schräg in die Erde verlaufende Schacht endete in einer Tiefe von zirka zehn Metern. Noch während sie unterwegs waren, schloss sich oben der Zugang. Am Ende der Rampe öffnete sich eine geduckte Halle, die an eine Tiefgarage erinnern ließ. Es befanden sich zwei Fahrzeuge hier, und es gab mehrere Stahltüren, die aus der Halle führten. Nun, eine Supertechnik ist nicht gerade erforderlich, dachte Phillip Morris. Aber es bleibt unleugbar, dass man enorme Anstrengungen unternommen hat, um die Anlage zu bauen. Und sie scheint schon eine Weile zu existieren, denn die Mauern sehen nicht gerade neu aus. Möglicherweise wurde die Anlage noch vor der Sternwarte erbaut? Die Organisation hat den Bau des Observatoriums offenbar nicht verhindern können. Kein Wunder, dass denen die Sternwarte auf dem Bocksberg ein Dorn im Auge war. In diesem Augenblick gellte der Alarm durch die Anlage! Es war eine heulende Sirene, die ein Geräusch produzierte, das einem durch Mark und Bein ging. „Verdammt!“, entfuhr es dem Ortsvorsteher Günter Pritz! Und der rothaarige Pritz reagierte am schnellsten. Er stieß die Tür auf und sprang mit drohender Waffe hinaus. Der Alarm bedeutete, dass jemand unberechtigterweise in die Anlage eingedrungen war.
Aber wo? Er ließ den Blick in die Runde gehen. Nichts und niemand zeigte sich. Auch sein Kumpan stieg aus. Phillip Morris schienen sie zu vergessen. Eine der Stahltüren wurde aufgerissen. Zwei Männer, die zweifelsohne aus Eifelstadt stammten, kamen zum Vorschein. Sie wirkten aufgeregt. „Da muss jemand auf der Rampe sein! Ist hinter euch hereingeschlüpft, obwohl wir nichts auf unserem Schirm sahen. Die müssen eine Art Ortungsschutz besitzen. Aber die Anzeigen beweisen, dass die auf der Rampe sind.“ „Die?“ „Wahrscheinlich zwei!“ „Wir hörten vor dem Herunterkommen Motorengeräusch und dachten schon an einen Verfolger. Herrgott, ich hätte doch nach dem Rechten sehen müssen!“ „Wo habt ihr euren Gefangenen?“ „Im Auto!“ Einer der Männer rannte herbei und winkte Phillip Morris mit vorgehaltener Pistole aus dem Wagen. „Ja“, meinte Günter Pritz, „bring du Phillip Morris hinein in die gute Stube, während wir uns um unsere Gäste kümmern.“ „Ist nicht notwendig: Das Tor oben ist verriegelt und nur aus der Zentrale zu öffnen. Wir verlassen die Tiefgarage und lassen Gas hinein. Nachher können wir unsere Gäste immer noch fragen, wer sie sind und was sie von uns wollen.“ „Höflich wie wir sind, empfangen wir unsere Gäste stets in allen Ehren!“ Günter Pritz lachte dreckig. Dann liefen sie mit ihrem Gefangenen zur offenen Tür und zwängten sich aus der Halle hinaus. Phillip Morris blickte verzweifelt zurück. Er sah niemanden, war jedoch davon überzeugt, dass die beiden Saarbrücker da waren. Sie hatten sich nach ihrem
blitzschnellen Eindringen bestimmt in eine der Nischen rechts und links der Rampe gestellt. Die Nischen dienten dazu, herunterfahrenden Fahrzeugen auszuweichen, wenn hier stärkerer Verkehr herrschte. Für Phillip Morris der Beweis, dass es sonst keinen anderen Zugang zur Zentrale gab. Somit saßen die beiden Agenten hoffnungslos in der Falle. Die Verbrecher konnten sich getrost Zeit lassen! Die Tür wurde verriegelt. Dann wurde Phillip Morris mitgeschleppt. „Kennst du die beiden?“, herrschte Günter Pritz ihn an. Phillip Morris zuckte die Achseln. „Warum antwortest du mir nicht?“ „Ihr glaubt mir ja doch nichts.“ „Wer kann denn das sein?“, fragte ein anderer. „Von der Polizei? Dann hätte Hänflein uns…“ „Vergiss nicht, dass der ein Verräter war!“, warf Günter Pritz ein. „Da habt ihr es!“, rief Phillip Morris triumphierend aus. „Ich kann euch sagen, um wen es sich handelt. Nicht, weil ich es genau weiß, sondern weil Hänflein mir gegenüber Andeutungen gemacht hat: Er hat in den Reihen der Polizei bereits Helfer. Er wollte die Zentrale hier übernehmen und über die ganze Umgebung Macht ausüben. Der Übergang sollte nicht plötzlich erfolgen, sondern allmählich vorbereitet werden. Er behauptete großspurig, dass es ihm gelungen sei, innerhalb kürzester Zeit auch ältere Mitglieder aus der Organisation davon zu überzeugen, dass…“ Günter Pritz unterbrach ihn. Sein Gesicht war plötzlich ziemlich blass: „Es - es spricht alles dafür! Nehmt Betäubungsgas, Jungs. Wir werden an die beiden Eindringlinge einige Fragen zu richten haben!“
16
Phillip Morris wurde von Günter Pritz und noch einem zur Zentrale geschleppt. Das war genau das, worauf er die ganze Zeit über gewartet hatte. Die Zentrale lag am Ende des langen Ganges aus Betonwänden. Eine Stahltür öffnete sich. Jetzt würde er den geheimnisvollen Boss kennenlernen. Phillip Morris war überzeugt davon. Sie traten ein. Die eine Wand war mit Bildschirmen total ausgefüllt. Einige Schirme brannten. Es wurde der Eingang gezeigt und auch die Rampe mit Tiefgarage. Günter Pritz schien doch mehr zu sagen zu haben als Morris vermutet hatte. Er trat an die Anlage heran, während der andere Mann Morris weiterhin in Schach hielt. Dort erstattete ihm die Einmann-Stammbesatzung Bericht: „Wir haben alles beobachtet, aber niemanden eindringen sehen. Die scheinen gewisse Möglichkeiten zu haben!“ „Und warum habt ihr den Alarm ausgelöst?“ „Sieh die Infrarotortung, Günter! Die beiden Typen befinden sich auf der Rampe. Das ist offensichtlich.“ In einer der Nischen!, wiederholte Phillip Morris in Gedanken - und dann sah er es ebenfalls auf dem Infrarotschirm. Die beiden rührten sich nicht vom Fleck. Es wurden auch Geräusche übertragen. Phillip Morris hörte das Gas, das aus unsichtbaren Düsen zischte.
„Es dauert nur ein paar Sekunden, dann haben wir sie“, murmelte Pritz. Sein rotgelocktes Haar sah von hinten aus wie züngelndes Feuer. „Verdammt noch mal, dieser Hänflein kostet uns einfach zuviel.“ „Ich traue der Sache nicht!“, gab der Mann zu, der Morris in Schach hielt. „Ich denke daran, dass Hänflein angeblich noch warten wollte, jetzt aber die beiden Typen nachschickt.“ „Quatsch!“, fuhr Pritz ihn an. „Hänflein ist tot! Wir haben ihn umgelegt. Das erweist sich jetzt als kapitaler Fehler. Wir hätten ihn betäuben sollen, dann könnten wir ihn ausfragen. Und die beiden Typen aus seinen Reihen sind nur aufgetaucht, weil sie ahnen, dass Hänflein enttarnt ist.“ „Vielleicht arbeitete er nicht auf eigene Rechnung, sondern für die Polizei?“ Pritz lachte schallend: „Hänflein doch nicht! Der war doch durch und durch korrupt und hat seinen Polizistenjob nur dazu benutzt, möglichst viel Geld zu verdienen und dabei möglichst wenig aufzufallen. Verschiedene Delikte, die er in Zivil beging, hat er als Polizist aufklären sollen. Oftmals mit Erfolg, weil er Unschuldige ins Gefängnis brachte! Hänflein war ein Schwein und sogar für uns ungeeignet, wie sich jetzt herausstellt.“ Das waren ja nette Aussichten für Phillip Morris. Diesem Hänflein hätte er das nie zugetraut. Wirkte richtig harmlos, der Kommissar, und hatte doch alle aufs Kreuz gelegt - vor allem seine Vorgesetzten. Das gab es also tatsächlich! Doch jetzt war seine zweifelhafte Karriere ein für alle Male vorbei. Pritz knurrte: „Ich muss mit dem Boss sprechen, ehe wir die beiden aus der Nische pflücken!“ Die Infrarotaufnahme zeigte, dass die beiden Eindringlinge zusammengebrochen waren.
Phillip Morris schluckte schwer. Er hatte erwartet, den geheimnisvollen Boß hier zu treffen, und sah sich jetzt enttäuscht. War es so, wie Konrad schon vermutet hatte? Dass die eigentlichen Drahtzieher international arbeiteten und dabei stets im Hintergrund blieben? Hier sah Phillip Morris den Beweis und würde nach Lage der Dinge seinen beiden Saarbrücker Freunden noch nicht einmal den entscheidenden Hinweis liefern können. Er schluckte abermals, während Günter Pritz an der Anlage herum manipulierte. Da flammte ein bislang leerer Bildschirm auf. Darauf erschien ein Zeichen: Zwei spiralförmig gewundene Schlangen, deren Leiber sich knapp hinter den Köpfen überkreuzten und somit ein Dreieck bildeten. Das Zeichen hatte einen dunklen Hintergrund. Darin befand sich noch ein Symbol: Ein liegender Goldbarren mit der Aufschrift: ARGOT! War das ein Name? Wie Schuppen fiel es Phillip Morris von den Augen. Er begriff schlagartig: Schlangen und Barren bedeuteten ein A und ARGOT nannte sich die internationale Verbrecherorganisation. Schlangen standen für Gift, und wie Gift wirkte auch die Organisation in der internationalen Gesellschaft. Wie Gift wirkte es auf Menschen, um sie zum Schlechten zu bekehren und zu Verbrechern ohne Skrupel zu machen. Wie Gift würde ARGOT die Welt heimsuchen und schließlich besiegen. Und der Goldbarren war das Symbol für Reichtum und Macht. Aber Schlangen standen nicht nur für Gift, sondern auch für Falschheit und Heimtücke! Darin waren die Argoten unschlagbare Meister! Die ARGOTEN! Ein Begriff, den Phillip Morris in diesen Sekunden zum ersten
Mal erfuhr, der aber längst und viele Jahre schon seine Gültigkeit hatte unter Ausschluss der Öffentlichkeit! Das Zeichen blieb, während eine verzerrte und blecherne Stimme aufklang: „Ich bin im Bilde, Argoten, weil ich alles beobachten kann, was eure Bildschirme zeigen. Ich weiß auch, was ihr über Phillip Morris zu sagen habt: Ihr seid verdammte Narren! Merkt ihr denn nicht, dass er euch gegenseitig aufhetzen will? Man nennt ihn nicht umsonst den Denker. Ihr habt Hänflein zu Unrecht getötet. Fesselt ihn an einen Stuhl und holt die Bewusstlosen, damit sie hier in der Zentrale verhört werden. Ihr werdet alle Mittel anwenden, um sie zum Reden zu bringen. Skrupel können wir uns keine leisten. Beeilt euch und gebt euch Mühe, sonst werdet ihr für euer Versagen büßen! Ihr wisst, dass unsere Organisation ARGOT sich sehr schnell von Versagern trennt!“ Die beiden Männer waren kreidebleich geworden. Ihr ganzer Hass traf Phillip Morris, der jetzt Blut und Wasser schwitzte. Sie banden ihn wortlos an einem Stuhl fest, rückten diese in die Ecke, wo er niemanden behindern konnte, und stürmten hinaus. Phillip Morris blickte auf die Bildschirme. Tränen verschleierten seinen Blick Tränen der Angst! * Aber dann wurde er plötzlich wieder ruhiger. Er hatte längst verloren, aber es konnte ihm noch viel schlimmer ergehen. Diese Verbrecher würden sich furchtbar an ihm rächen. Zuvor würde er denen zeigen, dass er erst aufgab, wenn er nicht mehr lebte. Er schielte nach der Stammbesatzung an den Kontrollen. Die waren anderweitig beschäftigt und achteten nicht auf ihn. Hoffentlich war er auch außerhalb des unmittelbaren Erfassungsbereichs der Kameras. Er musste es riskieren:
Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm, hin und her zu schaukeln, bis er auf den Füßen stand. Der Stuhl behinderte ihn, doch jetzt zeigte sich der Vorteil seines Trainings, das er immer im Keller seines Hauses genossen und das seine Jugend erhalten hatte. Trotz der hemmenden Fesseln hüpfte er zur Überwachungsanlage hinüber. Niemand achtete auf ihn. Doch, einer: „He!“, rief die verzerrte Stimme und klang nicht nur am Monitor, sondern in der gesamten Anlage auf. „Sofort zuschlagen! Dieser Phillip Morris wird die Anlage zerstören! Sofort zuschlagen, sage ich!“ Er hatte kaum zu Sprechen begonnen, da war es eigentlich schon zu spät. Morris hatte sein Ziel erreicht. Mit unglaublicher Zerstörungswut begann er mit seinem Werk, indem er sich einfach herumdrehte und die Stuhlbeine in das Bedienungspaneel rammte. Er hatte das vorher genau abgeschätzt. Deshalb ging es icht nur schnell, sondern war auch entsprechend präzise. Es gab einen Kurzschluss innerhalb der Paneele, der wie eine Detonation wirkte und eine Druckwelle erzeugte, die Phillip Morris nicht nur vor dem Zugriff durch die Einmamnn-Stammbesatzung bewahrte, sondern auch selber zu Boden stieß. Aber jetzt war die Anlage vorerst ausgefallen. Phillip Morris bemühte sich, wieder hochzukommen, weil er weitermachen wollte… * KC9 und Peter Bell waren dem Wagen gefolgt und hatten rechtzeitig ihren Mercedes mit Hilfe des Piepmatzes in dichtes Dickicht platziert. Dabei hatten sie die Rehe aufgescheucht. Dann hatten sie sich zu Fuß herangepirscht und im letzten Augenblick das Energiefeld eingeschaltet, um ungesehen in die kleine Lücke zu schlüpfen, ehe der Eingang sich vollends schloss.
Sie verursachten den Alarm und versteckten sich in der Nische. Gas wollte man also gegen sie einsetzen? Die beiden Freunde grinsten und steckten sich Filter in die Nasenlöcher. Für die Steinbachstiftung war es eine Kleinigkeit gewesen, solche Filter zu entwickeln. Solange die Gas einsetzten, das nicht die Augen angriff, waren sie ausreichend geschützt. Es zischte aggressiv wie von einem Bündel gefährlicher Giftschlangen. Die Filter hielten, was sie versprachen. Die Freunde rechneten mit der Infrarotüberwachung und ließen sich prompt zu Boden sinken, als wäre das Betäubungsgas erfolgreich. Kurz darauf rauschte es ringsherum: Die Klimaanlage sorgte wieder für reine Luft! Und dann kamen die Gangster, um sich ihrer vermeintlich bewusstlosen Gefangenen anzunehmen! Günter Pritz war nicht dabei. Er war zurückgeblieben, um nur ja nichts von etwaigen Gasresten abzubekommen, und hatte lieber einen anderen Gangster mitgeschickt. Sie rannten durch die Tiefgarage, als die Stimme des unbekannten Chefs über Lautsprecher zu ihnen drang: „Sofort zuschlagen! Dieser Phillip Morris wird die Anlage zerstören! Sofort zuschlagen, sage ich!“ Die beiden Verbrecher gehorchten prompt. Ihre Gefangenen wähnten sie sicher. Bewusstlose konnten nicht mehr fliehen. Doch Konrad Clasen und Peter Bell waren anderer Meinung. Sie sprangen blitzschnell aus ihrer Deckung und rannten die Rampe hinunter. Es war ihnen egal, ob sie jetzt über die Überwachungsanlage beobachtet wurden oder nicht.
Die beiden Verbrecher wurden von ihren Nadeln erwischt, bevor sie die Tiefgarage verlassen hatten. Jetzt war wenigstens die Stahltür offen geblieben. Die Freunde rannten hin und drangen in den Betongang ein. Rechts und links waren Türen aufgegangen. Alle Gangster, die sich zurzeit in der Anlage aufhielten, wollten sich hintereinander in Richtung Zentrale stürzen. Keiner schaute in die Richtung, aus der die eigentliche Gefahr für sie kam. Das Licht flackerte zudem verdächtig. Also war Phillip Morris bereits erfolgreich gewesen. „Ein Teufelskerl!“, murmelte KC9 grinsend und schoss mit seinem Nadler. Fünf Kerle brachen bewusstlos zusammen. Jetzt gab es nur noch einen außerhalb der Überwachungsanlage, der bei wachem Bewusstsein war und der auch die drohende Gefahr erkannte: Günter Pritz! Er war der Chef dieser Zentrale und der gesamten Eifelorganisation. Er war der wichtigste Mann, der jedes Mitglied kannte. Er entwischte seinen Verfolgern knapp und erreichte die Zentrale, in der sich die Einmann-Stammbesatzung schon Phillip Morris angenommen hatte. Er stürzte sich auf Phillip Morris, entriss ihn dem anderen und hielt ihn wie ein Schutzschild vor sich. Seine Pistole hielt er an die Schläfe des bibbernden „Denkers“. „Halt, oder Phillip Morris ist des Todes!“ Die beiden Freunde glaubten ihm aufs Wort. Phillip Morris hin hilflos in seinemt Stuhl und blickte auf. In seinem Gesicht spiegelte sich die seltene Mischung von Wiedersehensfreude und Todesangst wider.
Die beiden Freunde wollten keine Zeit verlieren. Sie schalteten drahtlos das Energiefeld ein. Die Bewegung von Phillip Morris erstarrte scheinbar. Der Beweis, dass der Mercedes mit dem Felderzeuger nahe genug stand und die unbekannte Energie wirkte. Die beiden Freunde stürmten vor und schossen auf Günter Pritz. Dann schalteten sie das Feld wieder aus. Eine Affäre von weniger als einer Sekunde! Günter Pritz brach mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck zusammen. Aus der Überwachungsanlage kräuselte dichter Rauch. Konrad Clasen schoss auf die Einmann-Stammbesatzung. Der Mann war gar nicht bewaffnet, aber sie hatten keine Zeit, sich näher mit ihm zu beschäftigen. Peter Bell beugte sich über Morris, der mitsamt dem Stuhl hin gestürzt war, und befreite ihn von seinen Fesseln. „Kommen Sie, Phillip, wir dürfen keine Zeit verlieren!“ „Wieso?“ „Es gibt noch mehr Mitglieder dieser Organisation. Kann sein, dass jeden Augenblick noch welche hier auftauchen. Dann brauchen wir nicht unbedingt noch hier zu sein.“ „Was habt ihr vor?“ „Ganz einfach, Phillip: Wir fahren zurück zu Ihrem Haus. Von dort aus rufen Sie das Präsidium an und schildern den Fall. Sie erklären auch genau, wo sich die Zentrale befindet. Alles Weitere ist nicht mehr unsere Sache, sondern Sache der Polizei und vielleicht auch Sache des Geheimdienstes.“ Phillip Morris brauchte Sekunden, um das Blut wieder durch seine Glieder zirkulieren zu lassen. Dann rannte er mit seinen beiden Saarbrücker Freunden
hinaus. Aber der Eingang oben war verriegelt! Sie rannten zurück und wollten den Eingang von der Zentrale aus öffnen. Aber wie, wenn die Energieversorgung der Überwachungs- und Steuerungsanlage zum Teil ausgefallen war? Sie fanden nach einigem Suchen ein Telefon, das sogar funktionierte. KC9 änderte den ursprünglichen Plan. Phillip Morris hängte sich an die Strippe und tätigte seinen Anruf von hier aus. Er wies auch darauf hin, dass er ohne fremde Hilfe nicht mehr aus der Anlage heraus kam! Man versprach ihm genügend Streifenwagen, die sich sofort auf den Weg machten. Phillip Morris blieb mit den Wagen telefonisch in Verbindung, um sie im entscheidenden Augenblick dirigieren zu können. Ohne seine Hilfe würden sie den Eingang zur Anlage vielleicht doch nicht finden. Bevor es soweit war, erzählte er den Saarbrücker Agenten alles, was er erlebt und gesehen hatte.
Epilog
„Also ARGOT!“, murmelte KC9. „Wir werden uns diesen Namen für die Zukunft merken müssen, denn gewiss werden wir noch öfter mit denen zu tun bekommen. Die Organisation hier in der Eifel, von wo aus wahrscheinlich ganz Deutschland überrollt werden sollte, haben wir zerschlagen. Es bleibt dennoch viel zu tun, solange die Organisation ihre Mitglieder über die ganze Welt verstreut hat.“ Phillip Morris nickte und sagte bitter: „Günter Pritz weiß gewiss nicht, wer sein eigentlicher Boss ist, niemand weiß
es.“ KC9 zuckte die Achseln: „Das war zu erwarten, sonst wäre es ja auch viel zu einfach, die Organisation ganz zu besiegen.“ „Der internationale Terror geht weiter“, knurrte Peter Bell. „Uns bleibt es überlassen, entscheidende Schläge auszuführen – wie hier in der Umgebung von Eifelstadt.“ Die Streifenwagen waren bereits am Waldrand. Phillip Morris war vollauf damit beschäftigt, ihnen Anweisungen zu geben. Und dann gab es oben eine dumpfe Explosion. Man legte den Ausgang gewaltsam frei. KC9 und Peter Bell reichten Phillip Morris zum Abschied die Hände. „He, wohin mit euch beiden?“ „Vielleicht werden wir uns irgendwann noch einmal begegnen?“, orakelte KC9 geheimnisvoll. „Sie dürfen inzwischen ruhig alle Lorbeeren für sich in Anspruch nehmen, Phillip. Bitte erwähnen Sie uns überhaupt nicht. Es wäre uns wirklich lieber.“ „Wie wollen Sie hier hinauskommen, ohne gesehen zu werden?“ „Das lassen Sie mal ganz unsere Sorge sein, mein Freund. Es wird uns schon gelingen. Verlassen Sie sich drauf.“ Phillip Morris glaubte ihnen aufs Wort. Er blickte ihnen nach, irgendwie traurig, als sie in Richtung Tiefgarage eilten. Gern hätte er sich mit den beiden noch unterhalten. Es blieb ja nicht einmal die Zeit, den Sieg zu feiern. Da kamen die Polizisten herein gestürmt. Von den beiden Saarbrückern hatten sie auf ihrem Weg hierher offensichtlich
nichts bemerkt. Als hätten diese sich einfach so in Luft aufgelöst, dachte Phillip Morris mit einer gelinden Gänsehaut. Irgendwie waren ihm die beiden plötzlich unheimlich – mit allem, was sie ihm bereits demonstriert hatten… Dann hatte er keine Gelegenheit mehr, sich länger mit diesem Thema zu beschäftigen, denn die Polizei nahm in völlig in Anspruch. Er musste denen eine ganze Menge erzählen und blieb dabei größtenteils bei der Wahrheit. Nur einen gewissen Konrad Clasen mit seinem Freund Peter Bell, beide aus Saarbrücken, ließ er völlig aus dem Spiel, wie gewünscht. Nach ihnen wurde er ja auch gar nicht gefragt. Phillip Morris jedenfalls wurde der Held der Stunde, ja, der gesamten Saison! Nur eines bedauerte er dabei: Er war jetzt so bekannt, dass er niemals mehr einen Coup landen konnte - und sei der auch noch so harmlos. Auf der anderen Seite durfte er froh darum sein – wenn man bedachte, welche Schwierigkeiten ihm der letzte Coup gebracht hatte! Ende
Die toten Frauen
von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 120 Taschenbuchseiten. Ein Frachter mit grauenerregender Ladung erreicht den Hafen. Und die Ermittler stehen vor einem Rätsel. Von den Opfern dieser unheimlichen Mordserie ist nicht viel geblieben – und das wenige muss ausreichen, um die Täter zu überführen! Packender Kriminalroman von Alfred Bekker. Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker © by Author © dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.
Alle Rechte vorbehalten. www.AlfredBekker.de
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1
Der Frachter JAMAICA BAY hatte den Hafen von Manhattan gerade verlassen. Unsere Aktion war sorgfältig und bis ins letzte Detail geplant, aber aus irgendeinem Grund hatte das Schiff eine Viertelstunde früher abgelegt und befand sich jetzt auf halbem Weg nach Coney Island. Megafonstimmen ertönten und vermischten sich mit den Motorengeräuschen von Schnellbooten. Ich konnte kaum verstehen, was sie sagten, was daran lag, dass ich mich zusammen mit einigen anderen G-men an Bord eines Helikopters befand, der sich im Anflug auf die JAMAICA BAY befand. Agent Brad Thomas, einer der Helikopter-Piloten des FBI Field Office New York, ließ die Maschine auf dem Ladedeck nieder gehen. Die Besatzung an Deck wirkte wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen. Eine MPi knatterte. Das Mündungsfeuer leckte blutrot aus dem kurzen Lauf einer Uzi heraus. Ein paar Projektile schlugen dicht über mir in die Außenpanzerung des Helis ein. Ein weiterer Schuss blieb im Spezialglas der Scheibe stecken. Der Heli setzte auf. Ich stürzte durch die offene Außentür hinaus. Die Dienstwaffe hielt ich mit beiden Händen. Ich riss die SIG Sauer P226 hoch und feuerte kurz hintereinander fünf Schuss aus dem Magazin.
2
Ich duckte mich, feuerte erneut. Dicht hinter mir befanden sich meine Kollegen Milo Tucker und Fred LaRocca. Alle an diesem Einsatz beteiligten FBI-Agenten trugen Kevlar-Westen und waren über Headset miteinander verbunden. Der Kerl, der mit der Uzi auf uns geschossen hatte, ballerte jetzt nahezu ungezielt in der Gegend herum. Er schwenkte die Waffe seitwärts, während er vorwärts stolperte. Seine Komplizen schwenkten ebenfalls die Waffen. Automatische Pistolen, Pump Guns und MPis unterschiedlicher Fabrikate waren darunter. Tonnenweise Sondermüll befand sich an Bord der JAMAICA BAY, einem Frachter, der seine beste Zeit sicherlich hinter sich hatte. Im Verlauf von monatelangen Recherchen war das FBI Field Office New York einer Organisation auf die Spur gekommen, die Giftmüll illegal entsorgte. Dieser Zweig des organisierten Verbrechens, auch Müll-Mafia genannt, hatte längst mit den traditionellen Betätigungsfeldern des organisierten Verbrechens wie dem Drogen- und Waffenhandel gleichgezogen. Die Gewinnspannen waren enorm, wenn giftige Industrieabfälle, die eigentlich teuer hätten entsorgt werden müssen, einfach auf einem von Strohmännern angekauften Industriegelände abgestellt oder in ein Entwicklungsland ausgeschifft wurden, wo die Vorschriften weniger streng waren. Durch eine Abhöraktion hatten wir von der illegalen Fracht der JAMAICA BAY erfahren. Zeitgleich mit unserem Einsatz liefen an einem halben Dutzend anderer Orte Durchsuchungs- und Verhaftungsaktionen. Schüsse peitschen an uns vorbei. Mehrere Schnellboote der Küstenwache und der Hafenpolizei hatten inzwischen längsseits der JAMAICA BAY angelegt. Sowohl FBI-Agenten als auch Beamte von Hafenpolizei und Küstenwache stiegen an Bord. Spätestens jetzt war für die Bewaffneten an Deck der JAMAICA BAY klar, dass sie keine Chance hatten. Der Kerl, der mit der MPi auf uns geschossen hatte, ergab sich. Ein Mann mit einer Pump Gun gab einen letzten, schlecht gezielten Schuss in unsere Richtung ab, bevor er in einer Ladeluke verschwand. Die anderen waren vernünftiger und hoben die Hände. Clive Caravaggio, der zweite Mann unseres Field Office und Einsatzleiter bei
dieser Aktion, stieg zusammen mit seinem Partner Orry Medina und anderen Gmen über die Reling der JAMAICA BAY. Bald darauf klickten die ersten Handschellen und den Verhafteten wurden die Rechte vorgelesen. Milo und ich stürmten die Treppe hinauf zur Brücke. Fred LaRocca war uns dicht auf den Fersen. Milo riss die Tür auf, ich stürzte mit der SIG in beiden Händen hinein. Kapitän, Steuermann und ein Bewaffneter befanden sich auf der Brücke der JAMAICA BAY. Der Bewaffnete war ein breitschultriger Kerl mit roten Haaren, über dessen linker Schulter eine Uzi hing. Er griff zur Waffe, riss die äußerst zierliche Maschinenpistole herum und drückte ab. Ich feuerte einen Sekundenbruchteil früher als er. Die erste Kugel aus meiner SIG erwischte ihn an der Schulter und riss ihn zur Seite. Er taumelte. Sein eigener Schuss wurde verrissen. Anstatt mich zu perforieren, stanzten die relativ kleinkalibrigen Uzi-Projektile eine Spur von kleinen Löchern in die Wand und ließen schließlich auch noch eine Scheibe zerspringen. Der Rothaarige taumelte zwei Schritte zurück, prallte gegen eine Wand und riss seine Waffe noch einmal hoch, während er zu Boden rutschte. Ich ließ es nicht dazu kommen, dass seine MPi noch einmal losknatterte. Mein zweiter Schuss traf ihn mitten im Oberkörper. Regungslos sackte der Rothaarige vollends zu Boden. Seine Augen waren starr, der Mund halb geöffnet. Ich trat näher und stellte fest, dass er nicht mehr lebte. „Er hat dir keine andere Wahl gelassen“, stellte Milo fest. Kapitän und Steuermann standen wie angewurzelt da. Fred LaRocca tastete sie kurz ab und stellte beim Steuermann eine Waffe vom Kaliber neun Millimeter sicher. Der Kapitän war unbewaffnet. „Sie sind verhaftet“, erklärte mein Kollege Milo Tucker ihnen. „Alles, was Sie von nun an sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden, falls Sie nicht
von Ihrem Recht zu schweigen Gebrauch machen...“ „Wir werden uns nicht äußern, bevor wir nicht mit einem Anwalt gesprochen haben“, erklärte der Kapitän. „Das ist Ihr gutes Recht“, sagte Milo. „Aber Sie sollten auch bedenken, dass es juristisch sehr viel günstiger für Sie ausgehen kann, wenn Sie sich zu einer frühen Aussage entschließen. Denn irgendjemand unter den schätzungsweise fünfzig oder sechzig Verhaftungen, die im Moment gerade durchgeführt werden, wird reden.“ „Fragt sich nur, wer sich zuerst dazu entschließt“, ergänzte ich.
3
Alle Maschinen wurden auf Stopp geschaltet. Aber bis ein Schiff wie die JAMAICA BAY ihre Fahrt spürbar verlangsamte, dauerte es eine Weile. Glücklicherweise hatten wir Unterstützung durch die Hafenpolizei. In deren Reihen gab es Mitarbeiter, die ein Schiff von dieser Größe führen konnten. Da sich sowohl der Kapitän als auch der Steuermann weigerten, uns in irgendeiner Form zu unterstützen, blieb uns nichts anderes übrig, als zu warten, bis zwei dieser Beamten auf der Brücke eintrafen und die Führung des Schiffes übernahmen. Wir führten die Gefangenen ab. Auf dem Hauptdeck wurden sie von Kollegen in Empfang genommen, die sie auf Boote der Hafenpolizei verfrachteten. Unser Kollege Clive Caravaggio kam uns entgegen. „Das dürfte einer der größten Schläge gegen die Müllmafia seit mindestens einem Jahr sein“, meinte er. „Wir wollen den Tag nicht vor dem Abend loben“, erwiderte ich. „Erst wenn sich die vermuteten Giftfässer tatsächlich an Bord der JAMAICA BAY befinden, haben wir eine juristische Handhabe – und dann fragt sich immer noch, ob uns
nur ein paar kleine Fische ins Netz gegangen sind, oder wir endlich auch an die Hintermänner herankommen, die diese miesen Geschäfte aufziehen!“ „Das werden wir schon“, versprach der flachsblonde Italoamerikaner. Er machte plötzlich ein angestrengtes Gesicht. Offenbar bekam er eine Meldung über sein Headset. „Was ist los, Clive?“, hakte Milo nach. „Mindestens einer der Kerle verschanzt sich noch unter Deck“, berichtete Clive. Ich hob die Augenbrauen. „Der Kerl, der versucht hat, unseren Helikopter mit seiner Uzi aus der Luft zu holen?“, hakte ich nach. Clive nickte. „Ganz genau.“ Dumpfe Laute dröhnten jetzt aus dem Inneren der JAMAICA BAY. Schussgeräusche. „Ein paar Kollegen sind ihm bereits unter Deck gefolgt…“, erklärte Clive. „Hört sich an, als bräuchten die ein bisschen Unterstützung!“, mischte sich Milo ein. Im nächsten Augenblick meldete sich einer der Kollegen über Headset. Er hieß Whit Pacey, war seit zwei Monaten vom FBI Field Office Florida zu uns versetzt worden. Aber Agent Pacey kam gar nicht mehr dazu, seinen Bericht abzugeben. Noch ehe er den ersten Satz vollendet hatte, hörten wir alle den Knall über die Headsets. Dann war Stille. Ich sah, wie Clive unwillkürlich die Hand zur Faust ballte. „Verdammt“, murmelte er.
4
Ich stieg die Treppe hinunter, die Dienstwaffe in der rechten. Meine Kollegen Milo Tucker und Fred LaRocca folgten mir. Etwas später folgten noch die Agenten Jay Kronburg und Leslie Morell. Mit den Dienstwaffen im Anschlag arbeiteten wir uns in den engen Gängen des Zwischendecks vor. An insgesamt fünf Positionen waren Kollegen von uns ins Innere der JAMAICA BAY eingedrungen, um den Uzi-Schützen aufzuspüren. „Ich frage mich, warum dieser Kerl hier so ein Theater veranstaltet", raunte Milo mir zu. „Sich jetzt noch da unten einzuigeln, grenzt doch schon fast an eine Art Amoklauf!“ Milo hatte Recht und genau dieser Punkt hatte auch mich stutzig gemacht. Natürlich hatten wir es auch immer wieder mit psychopathischen Tätern zu tun, denen es wichtiger war, ihren eigenen Tod wirkungsvoll zu inszenieren, als zu überleben. Gestörte Persönlichkeiten, für die Polizisten oder G-men letztlich nur die Rollen von Statisten in einer selbstmörderischen Inszenierung einnahmen. Aber im Bereich der organisierten Kriminalität kam dieser Tätertyp nur in Ausnahmefällen vor. Normalerweise ergaben sich Täter, wenn sie gestellt wurden und tatsächlich keinerlei Chance mehr bestand, aus der Situation herauszukommen. Ein großartiges Blutbad anzurichten machte auch im Hinblick auf die juristische Behandlung des Falles keinen Sinn, denn wenn sie auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft aus waren, mussten sie sich kooperativ verhalten. Das Verhalten des Uzi-Schützen mache also nur unter der Voraussetzung Sinn, dass er tatsächlich glaubte, noch irgendeine Fluchtoption zu haben. Oder es ging um die Vernichtung von Beweismitteln… In jedem Fall war es wichtig, dass wir diesen Job so schnell wie möglich erledigten. Der einzige ungefähre Anhaltspunkt für den gegenwärtigen Aufenthaltsort des
Uzi-Killers war die letzte Position von Agent Whit Pacey. Wir hatten sein Handy angepeilt. Das Signal kam aus einem der großen Lagerräume im Bauch der JAMAICA BAY. Über Headset erreichte uns eine Meldung unseres indianischen Kollegen Orry Medina, der sich dem Hauptladeraum zusammen mit ein paar weiteren Kollegen von der entgegengesetzten Seite näherte. Wir arbeiteten uns weiter vorwärts, sicherten uns gegenseitig und erreichten schließlich den Hauptladeraum. Er war gefüllt mit Fässern unterschiedlicher Größe. Ein unangenehmer, stechender Geruch hing in der Luft. Wir fanden Agent Whit Pacey. Er lag auf dem Boden zwischen zwei Fässern, die schon ziemlich verrostet waren. Milo und ich ließen den Blick schweifen und hielten dabei die Dienstwaffen mit beiden Händen. Fred LaRocca kümmerte sich um Agent Pacey. Er lebte nicht mehr. Ein halbes Dutzend Schüsse hatten ihn durchsiebt. „Verdammt“, murmelte Fred. Er gab eine kurze Meldung per Headset an die Einsatzleitung. In diesem Moment nahm ich eine Bewegung war. Der Uzi-Schütze tauchte hinter einem der Fässer hervor. Die Maschinenpistole knatterte los. Milo und ich schossen annähernd im selben Moment zurück. Der Uzi-Schütze taumelte zurück. Sein Körper zuckte unter unseren Treffern. Er schlenkerte mit dem Lauf seiner Waffe unkontrolliert herum, während sich gleichzeitig weitere Schüsse lösten. Projektile stanzten sich in die Blechwände des Laderaums. Teile der Beleuchtung zersprangen und Glassplitter von Neonröhren regneten zu Boden. Offenbar trug der Uzi-Schütze unter seiner Kleidung eine Kevlar-Weste. Er ließ Milo und mir keine Wahl, als unablässig abzudrücken. Erst ein Treffer am Kopf schaltete ihn aus. Er taumelte gegen eines der Fässer. Eine letzte Sequenz von Schüssen löste sich aus dem kurzen Lauf der Uzi und durchlöcherte zwei Fässer. Aus den Einschusslöchern quoll eine gelbliche Flüssigkeit hervor. Dann strauchelte der Uzi-Schütze zu Boden. Milo und ich näherten uns vorsichtig. Fred LaRocca folgte uns. „Wir haben ihn!“, meldete ich über Funk an Orry und die anderen weiter.
Wir fanden den Uzi-Schützen schließlich reglos am Boden liegen. Das Blut, das aus der Wunde an seinem Kopf austrat, vermischte sich mit der übel riechenden gelblichen Flüssigkeit, die aus den durchlöcherten Fässern heraus quoll. Seine Augen blickten starr und tot zur Decke. Ich steckte die Waffe ein, packte ihn an den Füßen und zog seinen Körper aus der anwachsenden gelben Lache heraus, während Milo über Funk Unterstützung anforderte.
5
„Er hat uns keine Chance gelassen“, sagte ich zehn Minuten später an Clive gewandt. „Es war fast so, als ob der Kerl es darauf angelegt hat, dass wir ihn erschießen!“ „Es macht euch auch niemand einen Vorwurf, Jesse!“, stellte Clive klar. Über Funk meldete sich ein Kollege der Hafenpolizei. Das Schiff war unter Kontrolle, sollte jetzt drehen und anschließend zurück nach Manhattan fahren. Kollegen der Scientific Research Division, des zentralen Erkennungsdienstes aller New Yorker Polizeieinheiten, waren von Anfang an Teil der Operation gewesen. Mehrere Chemiker untersuchten stichprobenartig den Inhalt der Fässer, um abschätzen zu können, welche zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen zu treffen waren. Außerdem sahen sich mehrere Erkennungsdienstler des FBI auf der JAMAICA BAY um, darunter unsere Kollegen Sam Folder und Mell Horster. Tom Gallego, der Einsatzleiter der SRD-Kräfte sprach uns an. Er trug einen Schutzanzug gegen austretende Giftstoffe. Eine Atemmaske hing ihm um den Hals und war jederzeit einsatzbereit. „Es wäre gut, wenn der Laderaum so schnell wie möglich geräumt würde“, erklärte Gallego an Clive Caravaggio gerichtet. „Wir wissen noch nicht, was hier alles an Chemikalien lagert – aber so, wie es aussieht handelt es sich um hochtoxische, stark ätzende Stoffe. Es ist gut möglich, dass da noch einige üble
Überraschungen ans Tageslicht kommen, wenn wir die Fässer öffnen.“ „In Ordnung“, stimmte Clive zu. „Wir überlassen Ihnen das Feld, Tom.“ Wir kehrten an Deck zurück und ich war froh, wieder frei durchatmen zu können. Mitarbeiter der SRD brachten die Leichen des Uzi-Schützen und unseres Kollegen Whit Pacey an Deck. Unser Beruf bringt gewisse Risiken für Leib und Leben mit sich und man kann nie ganz ausschließen, in einem gefährlichen Einsatz wie diesem umzukommen. Aber ich werde mich wohl nie daran gewöhnen, dass Kollegen in Ausübung ihres Dienstes umkommen. Zwei Monate war Agent Pacey in unserem Field Office tätig gewesen. Nur zwei Monate… Einige der Kugeln, die ihn getroffen hatten, waren von der Kevlar-Weste abgefangen worden. Aber es gab auch einen Kopftreffer, der mit Sicherheit tödlich gewesen war. Unser Kollege Leslie Morell durchsuchte die Kleidung des getöteten UziSchützen. Der Blouson, der seinen Oberkörper bedeckte, war durch die Einschüsse zerfetzt. Darunter kam der graue Stoff einer Kevlar-Lage zum Vorschein. Leslie stellte einen Führerschein sicher, der auf den Namen Jack Smith ausgestellt war. „Ich würde nicht damit rechen, dass dieser Mann seine wahre Identität angegeben hat“, meinte Leslie. Falls der Name Jack Smith falsch war, so hatte dieser Mann ihn mit der Absicht gewählt, nicht aufzufallen. Auf den ersten Blick war der Führerschein nicht als Fälschung erkennbar. „Ich frage mich, was dieser Mann sich davon versprochen hat, sich buchstäblich bis zum letzten Atemzug gegen eine Verhaftung zu wehren“, meinte Milo. „Ich vermute, dass er nichts zu verlieren hatte“, gab ich zurück.
„Ein dicker Fisch?“ „Jedenfalls jemand, der nicht auf irgendeine Art von Entgegenkommen durch die Justiz hoffen konnte, Milo.“ „Wahrscheinlich hat der darauf spekuliert, sich irgendwo in den zahllosen Luken und kleinen Nebenstauräumen versteckt halten zu können, um dann vielleicht doch eine Chance zur Flucht wahrzunehmen.“ Auf jeden Fall erwartete ich, dass der Mann, der sich Jack Smith nannte, ein umfangreiches Dossier in den über das Datenverbundsystem NYSIS zugänglichen Daten über Kriminelle vorweisen konnte.
6
Eine Dreiviertelstunde später legte die JAMAICA BAY an Pier 17 an. Dort warteten bereits weitere Einsatzkräfte der SRD auf ihren Einsatz, darunter auch der Gerichtsmediziner Dr. Brent Claus. Außerdem Spezialisten, deren Aufgabe es war, möglichst schnell zu analysieren, was genau sich in den Giftfässern befand, die die JAMAICA BAY auf kriminelle Weise hatte entsorgen sollen. Wir gingen an Land. An Bord des Frachters hatten wir jetzt nichts mehr verloren. Nun schlug die Stunde der Experten und Wissenschaftler. Es musste haarklein rekonstruiert werde, wie Agent Pacey gestorben war. Von Clive erfuhren wir, dass die ersten Verdächtigen, die an anderen Orten im Zusammenhang mit der JAMAICA BAY zeitgleich festgenommen worden waren, bereits im Field Office angekommen waren. Darunter auch Brian Mondale, der Geschäftsführer einer dubiosen Im- und Exportfirma. Staatsanwalt Jay Kirkland war ebenfalls bereits eingetroffen, um deutlich zu machen, dass derjenige, der sich ohne Verzögerung dazu entschloss, das Schweigen zu brechen, mit Vorteilen rechnen konnte. Wir wurden zurück zum Field Office in der Federal Plaza 26 beordert.
Als wir dort eintrafen, hatten die Verhöre des Kapitäns und des Steuermanns der JAMAICA BAY bereits begonnen. Der Rest der Besatzung befand sich in Gewahrsam und zum Teil musste erst die jeweilige Identität mühsam festgestellt werden. Manche der Festgenommenen sprachen sehr schlecht Englisch. Es handelte sich um Seeleute, die unter wirklich abenteuerlichen Bedingungen angeheuert worden waren und kaum über die nötigsten Kenntnisse verfügten. Das Gros schien von den Philippinen und aus Mittelamerika zu stammen, aber die Neigung dieser Männer, mit uns zusammen zu arbeiten, war nicht besonders groß. Erstens begriffen sie offenbar kaum, dass sie sich an einer Straftat beteiligt hatten und zweitens hatten sie nach Ansicht unserer Verhörspezialisten Angst. „Sie ahnen nicht, dass jemand mutwillig ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt hat“, stellte unser Kollege Dirk Baker fest, der mit einigen von ihnen gesprochen hatte. „Sie wurden hochgiftigen Stoffen ausgesetzt und verfügen über so gut wie überhaupt keine Kenntnisse darüber, wie man damit umgehen müsste oder wie man sich vor den Giften schützten kann.“ „Das ist wohl einer der Gründe dafür, weshalb eine Entsorgung an Bord der JAMAICA BAY sehr viel günstiger ist als dies normalerweise der Fall wäre“, stellte ich fest. Dirk nickte. Wir beobachteten durch eine Spiegelwand die Verhöre des Kapitäns und des Steuermanns. Der Kapitän hieß Randolph Jordan. Er weigerte sich, irgendwelche Aussagen zu machen. Die JAMAICA BAY gehörte einer Holding, die wiederum mehrheitlich Eigentum einer Briefkastenfirma war, die ihren Stammsitz auf den Cayman Islands hatte. „Die wahren Besitzer werden wohl nicht so leicht festzustellen sein“, meinte Milo. „Es könnte durchaus sein, dass Captain Jordan darüber gar nichts weiter weiß.“ „Oder wissen will“, setzte ich hinzu. Milo zuckte mit den Schultern. „Also ein Fall für Nat.“ Unser Kollege Nat Norton war in unserem Field Office der Spezialist für Betriebswirtschaft. Er wusste, wie man Finanzströme verfolgte, was bei Ermittlungen im Bereich der organisierten Kriminalität einen immer wichtiger werdenden Stellenwert bekommen hatte. Oft war es nur auf diese Weise
möglich, kriminelle Verflechtungen aufzudecken. Unser Kollege Agent Ron Dales führte das Verhör durch. Er gehörte zu den jüngeren Innendienstlern in unserem Field Office. Dirk Baker hielt allerdings große Stücke auf ihn. Außer Dales war noch Staatsanwalt Kirkland anwesend, der sich allerdings nicht weiter einmischte. „Sie wollen uns doch nicht erzählen, dass Sie nicht gewusst haben, dass die JAMAICA BAY zu einem illegalen Giftmüll-Transport benutzt wurde“, sagte Dales. „Zu diesem Zeitpunkt sind Kollegen von uns in Ihrer Wohnung in Newark und stellen dort alles auf den Kopf. Jede Kontobewegung wird von unseren Spezialisten genauestens unter die Lupe genommen und wenn Sie noch irgendeine Chance haben wollen, um mit der Staatsanwaltschaft zu einer Übereinkunft zu kommen, dann sollten Sie jetzt auspacken. Sonst ist es zu spät…“ „Ich verweigere unter Hinweis auf den fünften Zusatz der amerikanischen Verfassung die Aussage“, erklärte Captain Jordan. „In den Daten, die uns zugänglich sind, wird eine Anklage wegen Versicherungsbetruges vermerkt.“ „Das Verfahren wurde eingestellt.“ „Sie sollen einen Frachter mit dubioser Ladung absichtlich vor der nigerianischen Küste auf Grund gesetzt haben. Man warf Ihnen Versicherungsbetrug vor.“ „Wie gesagt, das Verfahren wurde eingestellt!“ „Eigner des Schiffes war eine Rederei aus Liberia, die einer Holding gehörte, die wiederum hundertprozentige Tochter der International Cargo Holding auf den Cayman Islands war, als deren Geschäftsführer ein gewisser Brian Mondale fungierte!“ „Wenn Sie das sagen!“ „Seltsamerweise ist die JAMAICA BAY Eigentum einer anderen Firma, als deren Geschäftsführer ebenfalls ein gewisser Brian Mondale eingetragen ist, dem außerdem noch eine dubiose Im- und Exportfirma gehört, die hier im Hafen
von New York ansässig ist.“ Jordan beugte sich nach vorn. Seine Augen wurden schmal und er sprach beinahe, ohne dass sich seine Lippen überhaupt bewegten. Sie bildeten einen fast geraden Strich, während er zwischen den Zähnen hervorpresste: „Dann befragen Sie doch verdammt noch mal diesen Mister Mondale und nicht mich!“ Jetzt mischte sich Staatsanwalt Jay Kirkland ein. „Keine Sorge, das geschieht bereits“, versicherte er. „Genau jetzt in diesem Moment in einem unserer anderen Vernehmungszimmer. Und bevor Sie sich von Mister Mondale einen Anwalt bezahlen lassen, sollten Sie darüber nachdenken, dass Ihre Aussage jetzt der Staatsanwaltschaft noch ein deutliches Entgegenkommen wert sein könnte…“ In dem Vorraum, in dem sich Milo und ich befanden, öffnete sich die Tür. Sie flog förmlich zur Seite. Ein kleiner, gedrungen wirkender Mann mit hoher Stirn trat ein. „Roger W. Sundback von Braden,, Sundback & Partners. Ich bin der Anwalt von Captain Jordan. Die Fragestunde ist damit vorbei! Ich will mit meinem Mandanten unter vier Augen reden.“
7
Als Milo und ich eine Stunde später in dem Dienstzimmer saßen, das wir uns miteinander teilten, kam Agent Max Carter, ein Kollege aus der Fahndungsabteilung unseres Innendienstes herein. Die Identität des Uzi-Schützen war geklärt. „Jack Smith heißt in Wirklichkeit Jack Mantaglia“, erklärte Max. „Er ist seit zehn Jahren untergetaucht. Ihm werden ein halbes Dutzend Morde im Zusammenhang mit dem organisierten Verbrechen nachgesagt. Bei mindestens drei Fällen ist die Beweislage sehr eindeutig.“ „Kein Wunder, dass er auf keinen Fall in die Hände der Justiz geraten wollte“, stellte Milo fest. Er wandte den Kopf in meine Richtung. „Du hattest Recht,
Jesse.“ „Das kannst du laut sagen!“ „Er hatte einfach nichts zu verlieren.“ „Für wen hat Mantaglia zuletzt gearbeitet?“, fragte ich an Max Carter gerichtet und nippte dabei an meine Kaffeebecher. „Der letzte Fall, mit den wir ihn in Verbindung bringen konnten, ereignete sich in Buffalo, New York State“, stellte Max fest. „Ich habe euch die Unterlagen auf den Rechner geschickt.“ „Danke.“ „Ein gewisser Miles Sorenson wurde vor sechs Monaten in einem Motel ermordet.“ „Müsste man diesen Sorenson kennen?“, fragte ich. „Nat sagt, dass er bei einem halben Dutzend Unternehmungen Mondales Geschäftspartner und Teilhaber war. Wir vermuten, dass er im Auftrag von Mondales Müll-Mafia Industrie-Brachen von Strohmännern aufkaufen ließ, um dort Kunststoffabfälle illegal zu lagern.“ Eine alte Masche dieses im wahrsten Sinn des Worts schmutzigen Gewerbes. Der Strohmann tauchte dann irgendwann unter und oft fiel der illegal deponierte Müll erst auf, wenn es zu Vergiftungen des Grundwassers kam, sich Anwohner über Geruchsbelästigungen beschwerte oder sogar ein Feuer ausbrach. Spontane Selbstentzündungen waren bei unsachgemäß gelagerten Kunststoffabfällen durchaus wahrscheinlich. Das dabei entstehende Dioxin war hoch-toxisch und gehörte zu den giftigsten Substanzen überhaupt. Wenn es dann zur Katastrophe kam, waren die Strohmänner natürlich längst untergetaucht und die Ermittlungen verliefen leider oft genug im Sande, weil sich einfach nicht genügend konkrete Spuren finden ließen. Milo und ich nahmen uns die Daten über den Mord in Buffalo vor. Es war so gut wie sicher, dass Mantaglia der Mörder war, denn er hatte reichlich DNA am Tatort hinterlassen. Es hatte einen Kampf mit Miles Sorenson gegeben und der hatte Mantaglia durch einen Schuss ins Bein verletzt. Mantaglia war entkommen
und hatte sich offenbar in irgendeiner verschwiegenen Privatambulanz behandeln lassen. Die Behörden hatten nie herausfinden können wo. Das ganze geschah, kurz bevor Sorenson hatte aussteigen und sich einem VMann der Organized Crime Squad des Buffalo Police Department hatte anvertrauen wollen. Das Motiv für Brian Mondale, Sorenson aus dem Weg räumen zu lassen, lag also auf der Hand. „Können wir Mondale mit Mantaglias Tat in Verbindung bringen?“, fragte ich an Max gewandt. „Das wird schwierig, wenn wir keine zusätzlichen Beweise oder Zeugenaussagen haben“, glaubte der Innendienstler aus der Fahndungsabteilung.
8
Gegen Abend entschloss sich Patrick Cruz, der Steuermann der JAMAICA BAY, dazu, mit dem Staatsanwalt zu reden. Er belastete Mondale stark, woraufhin auch Captain Randolph Jordan seine starre Haltung aufgab, den von Mondale bezahlten Anwalt in die Wüste schickte und unseren Kollegen gegenüber umfassend aussagte. Dabei belastete auch er Mondale stark. Alles sah danach aus, dass der Fall juristisch erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Entsprechend zufrieden fuhren Milo und ich am Abend mit dem Sportwagen nach Hause. Bevor ich Milo an der bekannten Ecke absetzte, aßen wir noch einen Hotdog in einer Snack Bar. „Dieser Mondale ist schon ziemlich weit oben in der Müll-Mafia anzusiedeln“, meinte Milo. „So schnell wird sich die von diesem Schlag nicht erholen!“ „Jedenfalls gehört dieser Mondale einer Gewichtsklasse von Gangstern an, an die wir normalerweise selten herankommen“, meinte ich.
„Die Weiße-Kragen-Abteilung der Bosse.“ „So ist es.“ „Um so besser, dass seine Chancen ausgesprochen schlecht stehen, ungeschoren davonzukommen. Und wer weiß, vielleicht zieht er bei seinem Fall ein paar Leute mit in den Abgrund, die noch über ihm stehen.“ Ich nickte. „Es ist immer nur ein Etappensieg, den man im Kampf gegen das organisierte Verbrechen erringen kann“, sagte ich und Milo stimmte mir zu. Am nächsten Morgen regnete es in Strömen, als ich Milo an der bekannten Ecke abholte und wir zum Bundesgebäude an der Federal Plaza kamen. Auf dem Flur lief uns Max Carter über den Weg. „Der JAMAICA BAY-Fall hat sich vollkommen gedreht“, meinte er im Vorübergehen. „Der Chef hat in fünf Minuten zur Besprechung geladen. Ihr sollt auch dabei sein!“ „Vollkommen gedreht?“, echote ich, aber Max hatte es furchtbar eilig und offenbar vor der Besprechung noch dringend etwas zu erledigen. Als wir im Besprechungszimmer von Mr Jonathan D. McKee eintrafen, waren unsere Kollegen Clive Caravaggio und Orry Medina schon anwesend. Mr McKee stand hinter seinem Schreibtisch. Der Chef des FBI Field Office New York telefonierte gerade und sagte zweimal kurz hintereinander etwas angestrengt: „Ja, in Ordnung.“ Wir nahmen Platz. Unsere Erkennungsdienstler Sam Folder und Mell Horster trafen ein. Die Sekretärin unseres Chefs servierte ihren im gesamten Bundesgebäude berühmten Kaffee. Mr McKee legte auf. „Das war Captain Josephson von der Homicide Squad des Buffalo Police Department“, erklärte er. „Ich werde Ihnen gleich erklären, was es mit diesem Anruf auf sich hat… Aber zunächst möchte ich noch abwarten, bis…“ Mr McKee sprach nicht weiter, denn in diesem Augenblick betrat Max Carter den Raum. „Wo bleibt Mister Gallego?“ „Gerade eingetroffen. Sie wissen ja, wie das ist, wenn man von den Labors der
SRD in der Bronx um diese Zeit zur Federal Plaza zu fahren versucht.“ Ich nippte an meinem Kaffee. Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann begann Mr McKee, die Zeit damit zu nutzen, dass er uns über den aktuellen Stand der Ermittlungen gegen die an Bord der JAMAICA BAY Festgenommenen informierte. Inzwischen traf Tom Gallego von der Scientific Research Division ein. Mr McKee nickte ihm kurz zu. Noch ehe sich Gallego gesetzt hatte, sagte unser Chef: „Unsere Kollegen von der SRD haben bei der genaueren Untersuchung der Giftfässer an Bord der JAMAICA BAY einige interessante Entdeckungen gemacht, die ein völlig neues Licht auf den Fall werfen. Mister Gallego, Sie haben das Wort.“ „Danke, Sir“, sagte Gallego. Er ließ kurz den Blick durch den Raum schweifen. „Ich will Sie nicht damit langweilen, welche extrem giftigen Chemikalien wir im Einzelnen in den Fässern gefunden haben. Es handelt sich dabei aber durchweg um stark ätzende Säuren, die bei verschiedenen Industrieprozessen entstehen. Aber so stark eine Säure auch sein mag, es gibt Dinge, die selbst der zersetzenden Kraft der stärksten Säure widerstehen können. Insbesondere sind das polymere Kunststoffe, deren lange Molekülketten eine Zersetzung nahezu unmöglich machen. Der bekannteste dieser Stoffe dürfte das Polyvinylchlorid sein – kurz PVC. Eine ähnliche Struktur haben Silikone, wie sie für Brustimplantate, aber auch für den Korrosionsschutz von Leitungssystemen oder auch zum Schutz von Implantaten aller Art vor Zersetzung verwendet werden, denn auch der menschliche Körper produziert hochaggressive Säuren, die auf die Dauer selbst Knie- und Hüftimplantate aus Titan zersetzen würden. Von empfindlichen Herzschrittmachern mal ganz abgesehen!“ Gallego atmete tief durch und fuhr dann fort: „Wir haben in einem der Fässer ein Brustimplantat gefunden, an dem sich nur noch geringfügige DNA-Reste befanden. Der Körper der Trägerin ist vollständig zersetzt worden, aber anhand der Seriennummer konnten wir die Klinik und die Trägerin des Implantats herausfinden. Es handelt sich um Norma Jennings aus Buffalo, New York State, die seit fünf Jahren vermisst wird. Sie war Ende zwanzig, rothaarig, zierlich. Der Sie t in das Opferprofil eines bisher unbekannten Serientäters, dem wir mindestens fünf Frauenmorde in den Staaten Ohio, Pennsylvania und New York State zur Last legen.“
„Ein Serientäter, der seine Leichen in Giftfässern entsorgt hat?“, fragte Clive zweifelnd. Tom Gallego nickte. „Daran, dass die vermisste Norma Jennings in dem Säurefass an Bord der JAMAICA BAY war, gibt es keinen Zweifel. Der Körper war in Anbetracht der Säurekonzentration wahrscheinlich nach wenigen Wochen vollkommen zersetzt. Das Skelett ist dann nach spätestens drei Monaten völlig aufgelöst gewesen. Eine chemische Feinanalyse wird da kaum noch genauere Erkenntnisse bringen. Der menschliche Körper besteht zu 70 Prozent aus Wasser, das später von dem Wasser, in dem die Säue gelöst war, nicht mehr zu unterscheiden war. Knochen und Zähne brauchen etwas länger bis sie aufgelöst werden, aber letztlich blieb nur das Brustimplantat.“ „Besteht irgendein Anlass, darüber nachzudenken, ob der Mord an Norma Jennings vielleicht im Zusammenhang mit einer Verwicklung in Machenschaften der Müll-Mafia geschah?“, fragte Mr McKee. „Ich habe bereits eine Schnellabfrage über NYSIS gestartet“, mischte sich unser Kollege Agent Max Carter ein. „Es gibt kein Indiz, das darauf hindeutet. Norma Jennings arbeitete für eine Lokalzeitung, den Buffalo Herald. Ihr Alltag dürften Berichte über den örtlichen Kaninchenzüchterverein, den Basketball-Pokal des Countys für High School Mannschaften und die Unfälle auf den Highways der Gegend gewesen sein.“ „Das ist noch nicht alles“, fuhr Gallego fort. „Wir haben natürlich auch die anderen Fässer untersucht. Dabei sind wir auf weitere menschliche Überreste gestoßen, die möglicherweise von Opfern des Serientäters stammen. Es handelt sich um einen Goldzahn und ein halb zersetztes Knochenfragment. Da beides in unterschiedlichen Fässern sichergestellt wurde, nehmen wir an, dass es sich um zwei verschiedene Opfer handelte, die wir bislang allerdings noch nicht die identifizieren konnten.“ „Wir werden alle vermissten Personen, die ins Raster en mit den Spuren abgleichen“, erklärte Max Carter „In Frage kommt bisher Myra McConnor, seit vier Jahren vermisst, rothaarig, zum Zeitpunkt ihres Verschwindens 24 Jahre alt und von Beruf Bedienung in einer Snack Bar in der Bersino Road in Buffalo.“ Mr McKee wandte sich an Milo und mich. „Ich möchte, dass Sie und Milo sich nach Buffalo begeben und der Sache auf den Grund gehen“, erklärte er. „Ich
habe vorhin mit dem Chief der Homicide Squad gesprochen. Das Buffalo Police Department wird Sie in jeder Hinsicht unterstützen. Kann sein, dass dies nur ein Zufallsfund ist, der mit den Ermittlungen gegen Brian Mondale und die MüllMafia nicht das Geringste zu tun hat. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass hier möglicherweise ein gefährlicher Serientäter am Werk war, der noch immer aktiv sein könnte!“ „Es wäre gut, wenn wir wüssten, von wo genau die Giftfässer stammten“, sagte ich. „Daran arbeiten wir“, erklärte Tom Gallego. „In so fern haben beide Fälle schon etwas miteinander zu tun, denn Mondale hat uns bisher nicht verraten, wessen Müll er mit Hilfe der JAMAICA BAY entsorgen wollte“, ergänzte Max Carter. „Aber das Auffinden des Brustimplantats gibt uns natürlich einen Hinweis in Richtung Buffalo.“ „Fand nicht auch Jack Mantaglias letzter Auftragsmord in der Nähe von Buffalo statt?“, fragte ich an Max gerichtet. Unser Kollege nickte. „Das stimmt.“
9
Der Mann mit dem Goldkreuz auf der Brust nahm sein Glas und machte zwei Schritte nach vorn. Er fixierte mit seinem Blick die Frau Mitte zwanzig, deren rot gelockte Mähne bis weit auf den Rücken hinabreichte. Sie rührte lustlos mit dem Trinkhalm in ihrem Drink herum. Giftgrün war der Drink eine Spezialität von Anselmo dem Barkeeper. Es gab sicher nicht wenige, die Anselmos Drinks wegen in Mac’s Bar kamen. Aber die Rothaarige machte den Eindruck, als wüsste sie die Qualität ihres Drinks heute nicht zu schätzen. Der Mann mit dem Kreuz auf der Brust setzte sich auf den Hocker neben ihr und stellte sein eigenes Glas auf den Tresen. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte der Mann mit dem Kreuz. Sie ignorierte
ihn zunächst. Aber das ließ der Mann mit dem Kreuz nicht gelten. Er wiederholte seine Frage einfach – diesmal etwas lauter, sodass sich einige der anderen Gäste schon umdrehten. Die Rothaarige drehte sich nun zu ihm herum und blickte auf. „Das haben Sie doch schon getan“, sagte sie. Sie musterte ihn. Ihr Urteil stand nach ein paar Sekundenbruchteilen fest. Das war niemand, mit dem sie sich länger beschäftigen wollte. Aber er ließ sich nicht so schnell einschüchtern. „Mein Name ist Larry“, sagte er. „Ach!“ „Und wenn Sie nicht schon einen Drink hätten, würde ich Ihnen einen ausgeben.“ „Danke, aber das möchte ich nun wirklich nicht.“ „Wieso? Was ist schon dabei? Nur ein Drink.“ Ihre Stimme bekam jetzt einen ziemlich genervten Tonfall. „Hören Sie, Mister, ich…“ „Sie heißen Roxanne, nicht wahr?“, unterbrach er sie. Er lächelte dabei auf eine Weise, die ihr nicht gefiel. Es war ein Lächeln, das mehr vom Triumph eines Raubtiers hatte, als dass es als Zeichen einfacher Freundlichkeit hätte durchgehen können. Sein Blick fixierte sie. Er schien ihre Verwirrung zu genießen. Die Rothaarige sah ihn erstaunt an. „Woher wissen Sie das?“, fragte sie kühl. „Ich bin öfter hier. Und Sie auch. Das erklärt doch einiges.“ „Das erklärt gar nichts.“ „Offenbar haben Sie mich noch nie bemerkt, aber ich konnte nicht umhin einige der Gespräche mit anzuhören, die Sie an dieser Bar geführt haben.“
„Sie belauschen also gerne andere Leute. Na großartig!“ „Roxanne Brady. Das stimmt doch oder? So heißen Sie doch!“ Sie schluckte. Eine tiefe Furche bildete sich auf ihrer ansonsten vollkommen glatten Stirn. Sie strich sich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht. Die Situation drohte ihr zu entgleiten und sie wollte im Moment eigentlich nur noch eins: In Ruhe gelassen werden. „Hören Sie, Mister…“ Seine makellosen Zähne blitzten auf, als er den Mund breit zog. „Nennen Sie mich Larry. Das klingt nicht so unpersönlich.“ „Nein!“, sagte sie entschieden. „Bitte!“ Er nahm einen Schluck. Dann noch einen. Schließlich stellte er das leere Glas auf den Tresen und bestellte bei Anselmo noch einen Drink, der sich Black Devil nannte und zu Roxannes Erstaunen tatsächlich vollkommen schwarz war, nachdem der Barkeeper ein halbes Dutzend verschiedener Zutaten zusammengemixt hatte. „Larry, ich hatte einen anstrengenden Tag und mir steht nun wirklich nicht der Sinn nach Unterhaltung. Also betrachten Sie es nicht als unhöflich, wenn ich Ihnen sage, dass ich am liebsten einfach meinen Drink nehmen und in Ruhe gelassen werden würde.“ „Ihre Arbeit bei der Lake Erie Assurance ist mit Sicherheit nicht einfach“, sagt Larry. „Und das Betriebsklima soll ja ziemlich schlecht sein, seit Ihre Abteilung von Kendra Closkey geleitet wird.“ Roxanne sah Larry völlig entgeistert an. Sie wurde blass. „Woher wissen Sie das alles?“ „Spielt das eine Rolle?“ „Natürlich!“
Larry lachte. Ein stiller Triumph stand in seinem Gesicht, dessen Ausdruck für sie jetzt fast unerträglich wurde. Er nippte an seinem Drink. Dann verzog er das Gesicht. „Stimmt etwas nicht? Oh, ich vergaß: Natürlich werde ich niemandem etwas davon erzählen, dass die Lake Erie Assurance demnächst wahrscheinlich hundertfünfzig Mitarbeiter entlassen wird. Das soll ja noch unter der Decke gehalten werden, damit die Belegschaft ruhig bleibt. Aber bei Ihnen in den Bürogängen brodelt doch längst die Gerüchteküche und viele fragen sich, ob es nicht viel mehr sein werden, die man später auf die Straße setzt.“ „Jetzt reicht es“, sagte Roxanne, langte nach ihrer Handtasche und legte etwas Geld auf den Tresen. Als Anselmo zu ihr hinüberblickte, sagte sie: „Der Rest ist für Sie, Anselmo.“ „Danke“, nickte er ihr zu und ließ sich dadurch aber nicht aus der Ruhe bringen. Mit geübten, fast automatisch wirkenden Bewegungen vollendete er zunächst den Drink, den er gerade zusammenmixte. Die Besonderheit waren die schwimmenden Früchte an der Oberfläche. Roxanne drehte sich in Richtung Tür um. Lary spielte mit dem Kreuz an seinem Hals herum. „Es ist ja auch unter diesen Bedingungen nicht so einfach, ein gutes Betriebsklima aufrecht zu erhalten“, sagte er dann so laut, dass mehrere der anderen Gäste zu ihm hinüberschauten. Roxanne blieb stehen. Sie atmete tief durch. Ihr Gesicht war dunkelrot angelaufen. Schließlich drehte sie sich wieder um und fragte: „Was wollen Sie eigentlich von mir und wer schickt Sie? Habe ich Sie schon mal bei der Lake Erie Assurance gesehen? Arbeiten Sie auch dort? Fängt die Geschäftsleitung inzwischen schon damit an, Mitarbeiter auszuspionieren und nach Schwachstellen im Privatbereich zu suchen, damit man jemanden mit besserem Gewissen entlassen kann?“ „Nein, nein, Sie haben mich völlig missverstanden, Roxanne. Wirklich! Ich wollte mich nur mit Ihnen unterhalten. Und was ich über Sie weiß, dass habe ich tatsächlich nur aus Unterhaltungen, die Sie in den letzten drei Wochen in dieser Bar geführt haben. Es tut mir leid, aber da ich fand, dass Sie eine interessante Frau sind, konnte ich einfach nicht anders, als Ihnen zuzuhören und an Ihren Lippen zu hängen.“ Er lächelte matt und wirkte etwas verlegen. „Kommen Sie, nehmen Sie einen Drink mit mir, dann werden sich alle Missverständnisse
sicherlich klären lassen.“ Die Zornesfalte auf ihrer Stirn trat etwas weniger deutlich hervor. Larry sah seine Chance. Er trat einen Schritt auf sie zu und griff sich an das Kreuz, das ihm an einem Goldkettchen um den Hals hing. Er legte offenbar viel Wert darauf, dass man es auch sah, denn die obersten drei Hemdknöpfe trug er offen. „Sehen Sie das hie, Roxanne? Die meisten fragen mich früher oder später, was das zu bedeuten hat. Es ist ein Kreuz, aber wenn Sie genau hinsehen, dann können Sie erkennen, dass das obere Ende länger ist. Ein umgedrehtes Kreuz also – das Symbol dafür, dass es keineswegs so ist, dass Jesus die Welt erlöst hat. Ganz im Gegenteil! Satan herrscht und das Böse breitet sich überall aus. Es ist einfach eine Tatsache… Satan hat sein Gespinst über die gesamte Welt gelegt und Sie sind genauso ein Teil davon wie ich oder die Menschen, denen Sie bei der Lake Erie Assurance begegnen…“ Roxanne wandte sich in Anselmos Richtung. „Wenn ich gewusst hätte, dass Sie hier solche Spinner dulden, hätte ich Ihre Bar niemals betreten, Anselmo!“, stieß sie hervor. Sie drehte sich um und ging. Die Tür fiel ins Schloss. Larry wollte hinter ihr her, aber Anselmos Stimme hielt ihn ab. „Sie haben Ihren Drink noch nicht bezahlt“, stellte der Barkeeper fest. Larry kramte umständlich und sichtlich genervt sein Portemonnaie hervor und legte schließlich das Geld auf den Tisch. „Ich weiß nicht, ob es wirklich eine gute Idee ist, wenn Sie der Lady folgen wollen“, meinte Anselmo. „Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Mist.“ „Und ich meine es ganz ernst. Lassen Sie sie am besten in Ruhe. Sie hat Ihnen doch deutlich gezeigt, dass sie nichts mit Ihnen anfangen kann.“ Larry deutete auf den noch nicht einmal zu einem Drittel leer getrunkenen Black
Devil. „Ihre Drinks sind lausig, Anselmo. Vielleicht hat Ihnen das noch niemand gesagt, aber es ist so!“
10
Es war dunkel und Roxanne schmerzten die Füße, als sie zwei Minuten später von Mac’s Bar in die Christchurch Street einbog, um zu ihrem Wagen zu gelangen, den sie dort abgestellt hatte. Eigentlich hätte sie lieber eines der Parkhä im Zentralbereich von Buffalo benutzt, aber erstens hatte sie Angst, dort überfallen zu werden und zweitens wurde eines davon im Moment gerade generalüberholt und fiel daher auf Grund der anfallenden Arbeiten komplett aus, was leider zur folge hatte, dass in ganz Buffalo Parkraum im Moment extrem knapp war. Ihre Schritte waren recht eilig. Sie hatte noch das Gesicht von diesem aufdringlichen Larry mit seinem seltsamen Kreuz vor Augen. Das Letzte, was sie sich an diesem Abend gewünscht hätte, war ein Typ wie dieser Mann, der sie aufdringlich anquatschte und ihr dann auch noch seine etwas absonderlichen Ansichten über Gott und die Welt aufzudrängen versuchte. Nein, nicht Gott und die Welt!, korrigierte sie sich. Gott und den Teufel… Im Nachhinein fröstelte es ihr immer noch bei dem Gedanken an die letzten Worte dieses Mannes, die so düster und abgedreht gewesen waren, dass Roxanne immer noch das kalte Grausen überkam, wenn sie nur daran dachte. Plötzlich glaubte Roxanne, Schritte hinter sich zu hören. Nein, das darf doch nicht wahr sein!, ging es ihr aufgewühlt durch den Kopf. Sie blieb stehen und drehte sich um. Aber da war niemand. Für einen kurzen Moment hatte sie geglaubt, einen flüchtigen Schatten erkennen zu können, der in eine Hausnische huschte und dort verschwand. Bilde ich mir jetzt vielleicht schon etwas ein?, ging es ihr durch den Kopf. Es gab Zeiten, da waren ihre Nerven extrem angespannt und sie hatte dann manchmal das Gefühl, Gespenster zu sehen. Jede Kleinigkeit erschien ihr dann verdächtig und sie stellte sich dann immer vor, wo die Personen in ihrer
Umgebung wohl Waffen verborgen haben mochten. Vor einem Jahr war sie überfallen worden. In einem der Parkhä von Buffalo war das geschehen. Seitdem mied sie Parkhä im Allgemeinen und stellte ihren Wagen nur noch unter freiem Himmel ab. Eine Psychotherapie, die sie nach dem Vorfall angefangen hatte, hatte sie nach einem halben Jahr ergebnislos abgebrochen. Seitdem versuchte sie, mit den Dämonen ihrer Ängste selbst fertig zu werden. Die meiste Zeit über fand sie, dass sie das auf eine ganz able Weise hinbekam. Nur manchmal schien das fragile Kartenhaus ihrer Selbstgewissheit schon bei dem geringsten Anlass in sich zusammenzustürzen. Das Auftreten jenes Mannes, der sich selbst Larry genannt hatte, war dazu Anlass genug gewesen. Roxanne ließ den Blick die Häzeilen entlang schweifen. Da ist nichts!, sagte sie sich. Nichts und niemand! Sie drehte sich um und ging die letzten Meter bis zu ihrem Wagen. Als sie den Schlüssel hervorholte, um ihn in das Schloss der Fahrertür zu stecken, bemerkte sie, wie ihre Hände zitterten. Dann setzte sie sich hinter das Steuer. An der Seite tauchte ein Schatten auf und verdeckte den Schein der Straßenlaterne. Roxanne fuhr in sich zusammen und wollte die Zentralverrieglung betätigen, aber es war zu spät. Die Beifahrertür war schon offen. Das Gesicht der schattenhaften Gestalt war nicht zu sehen. Ehe sie noch etwas tun konnte, langte ein Arm zu ihr hinüber. Das Zischen eines Elektro-Schockers ertönte. Kleine Fingerlange bläuliche Stromblitze zuckten in
der Dunkelheit und im nächsten Augenblick durchfuhr sie ein höllischer Schmerz. Ihr gesamter Körper krampfte sich zusammen. Einen Moment später wurde ihr schwarz vor Augen.
11
Sechs Stunden und 38 Minuten rechnete das Navigationssystem des Sportwagen für 395 Meilen aus, die man der Nummer 26 an der Federal Plaza in New York City bis nach Buffalo am Lake Erie zurückzulegen hatte. Allerdings nur, wenn man die zum Teil kostenpflichtigen Highwayabschnitte mitbenutze. Aber da unser Field Office ein großes Interesse daran hatte, dass wir so schnell wie möglich in Buffalo eintrafen, gab es sicherlich keine Probleme, wenn wir die Maut-Gebühren auf die Spesenrechnung setzten. Wir fuhren zunächst auf die Lafayette Street und fuhren in Richtung Duane Street. Dann folgten wir den Schildern zum Holland Tunnel, ierten ihn und fanden uns in New Jersey wieder. Von da aus ging es über die Interstate 80 bis nach Syracuse, dann Richtung Westen bis Buffalo. Milo und ich wechselten uns jeweils nach spätestens zwei Stunden Fahrt ab. Als wir durch die Außenbezirke von Buffalo fuhren, war Milo gerade an der Reihe. Milo deutete auf ein Straßenschild. „Sieh an – wieder ein Broadway!“, meinte er. Allein in New York gab es mehrere Straßen dieses Namens. Neben der bekannten Theatermeile in Manhattan zum Beispiel eine gleichnamige, wenn auch weniger bekannte Straße in Brooklyn. „Broadway Street – nicht Broadway“, korrigierte ich. „Wir müssen gleich nach links in die Jefferson Avenue. Das Headquarter des Buffalo Police Department residiert unter Nummer 244.“ „Die Stimme unseres Navigationssystems wird mich schon mehr oder weniger
aufdringlich darauf hinweisen“, erwiderte Milo, der sich durch meinen Hinweis offenbar genervt fühlte. Wenig später erreichten wir das Gelände des Headquarter und fuhren in die Tiefgarage. Mit dem Aufzug gelangten wir in den achten Stock, wo uns Captain Max Josephson begrüßte. Er stand der Homicide Squad vor und hatte einen der Mordfälle, die in Zusammenhang mit dem Serientäter in Verbindung gebracht wurden, der es auf Rothaarige abgesehen hatte, bearbeitet, als er noch Lieutenant gewesen war. Ein Fall, den man noch immer keiner Lösung hatte zuführen können. Josephson war ein Mann mit blonden Haaren. Fast zwei Meter hoch ragte er empor und außerdem war er so breit, dass man ihn eher für einen Catcher halten konnte als für jemanden, der einem geregelten Büro-Job nachging. Und das war Josephsons Job, seit er seine jetzige Position innehatte. Josephson stand hinter seinem Schreibtisch auf. Er langte über den Tisch, um uns die Hand zu geben. Wir stellten uns kurz vor. „Ich bin Special Agent Jesse Trevellian vom FBI Field Office New York und dies ist mein Kollege Milo Tucker. Sie müssten mit Mr McKee gesprochen haben…“ „Ja, Sie wurden mir bereits angekündigt.“ Er blickte auf die Uhr. „Allerdings habe ich ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass Sie heute noch bei mir vorbeischauen…“ Ich hob die Augenbrauen. „Wieso?“ „Ich dachte, Sie suchen sich erst ein Hotelzimmer“, erwiderte er. „Das hat unser Innendienst schon telefonisch für uns erledigt. Wir dachten, dass wir besser gleich an die Arbeit gehen.“ Josephson zuckte mit den Schultern und verschränkte dann die Arme vor der Brust. „So habe ich auch mal gedacht, als ich gerade Lieutenant geworden war
und den Tod einer gewissen Selma Monteleone untersuchte.“ „Klingt Italienisch“, meinte Milo. „Sie sah mit ihren roten Haaren allerdings eher wie jemand aus, der irische Vorfahren hat.“ „So kann man sich täuschen, Milo“, meinte ich. Captain Max Josephson holte ein Foto aus der Schublade seines Schreibtischs. So abgegriffen, wie das Bild an den Rändern war, musste es für Josephson eine besondere Bedeutung haben. Wir verstanden wenige Augenblicke später auch, worin die bestand. „Sieben Jahre ist das jetzt her. Das war mein erster Fall bei der Homicide Squad, bei dem ich die Leitung hatte. Und er ging gleich daneben. Der Täter läuft wahrscheinlich noch immer frei herum und fährt damit fort, rothaarige Frauen zu töten. Glauben Sie mir, ich würde alles dafür tun, damit diese Sache endlich einen Abschluss findet.“ „Erzählen Sie uns, was mit Selma Monteleone geschah“, forderte ich. Ich hatte diesen Namen zwar in den Unterlagen gelesen, mich aber mit den Einzelheiten noch nicht beschäftigt. Dazu war einfach noch keine Zeit gewesen. Aber immerhin wusste ich, dass man bei Selma Monteleone zumindest die Leiche gefunden hatte und man daher die Tat relativ genau hatte rekonstruieren können. Bei einigen Opfern war lediglich reichlich Blut gefunden worden. Und anderen waren einfach nur verschwunden und erst unsere Funde an Bord der JAMAICA BAY hatten die Verbindung zu dieser Mordserie gezogen. Josephsons Augen wurden schmal. Er bot uns einen Platz und Kaffee an. Wir nahmen beides dankend an. Der Kaffee kam aus dem Automaten und war ganz in Ordnung. „Selma Monteleone war Lehrerin an der einer der hiesigen Junior High Schools. Wir fanden sie in ihrem Wagen, der in einem kleinen Waldstück am Erie-SeeUfer abgestellt worden war. Sie war mit einem Elektro-Schocker betäubt worden. Zuvor hat es einen kurzen Kampf gegeben. Deswegen haben wir sieben Jahre alte DNA des Täters unter den Fingernägeln des Opfers.“ „Wie starb sie?“, fragte ich. „Der Täter hat ihr eine Reihe von Adern aufgeschnitten und sie ausbluten lassen. Es gab allerdings keine Hinweise auf eine Vergewaltigung oder einen Versuch in diese Richtung. Dem Täter ging es nicht um Sex, sondern…“ Josephson zögerte
„Macht? Rache? Ein allgemeiner Hass auf Frauen oder auf Rothaarige im Besonderen?“, hakte ich nach. „Ja, das denke ich, könnte es gewesen sein. Allerdings befinde ich mich da in einem Disput mit unserem neuen Profiler. Der bezeichnet die Tat als rituelle Zwangshandlung. Aber damit kann ich ehrlich gesagt nicht viel anfangen.“ „Wir würden gerne mit Ihrem Profiler sprechen“, sagte ich. „Werden Sie!“, versprach Josephson. „Dr. Franklin F. Martin ist erst seit einem halben Jahr bei uns. Ich bat ihn mal, sich die Unterlagen von damals und insbesondere die Tatortrekonstruktion noch einmal anzusehen, was er auch tat.“ „In anderen Fällen, die man diesem Serientäter zuschreibt, wurde keine Leiche gefunden“, stellte ich fest. „Was hat ihn wohl im Fall von Selma Monteleone davon abgehalten, die Leiche verschwinden zu lassen?“ „Vielleicht wollte er zurückkehren und hatte dann keine Gelegenheit mehr dazu. Der untersuchende Gerichtsmediziner stellte später fest, dass die Tote bereits eine Stunde nach Eintritt des Todes gefunden wurde.“ „Und wer hat sie gefunden?“, fragte Milo. „Eine Rentnerin, die in der Nähe ihre tägliche Jogging-Runde absolvierte. Eine fitte Frau. Ich habe mich mehrfach mit ihr unterhalten und sie nach Beobachtungen gefragt, die sie gemacht hat.“ „Vielleicht könnten wir uns sie auch noch einmal vornehmen“, schlug Milo vor. Aber Captain Max Josephson schüttelte den Kopf. „Sie ist letztes Jahr gestorben. An einem Herzinfarkt. Was mal wieder beweist, dass man dem Tod nicht davonlaufen kann.“ „Wir brauchen Anngaben über chemische Betriebe in der Gegend, bei deren Produktionsvorgängen Säuren entstehen wie diejenige, die wir an Bord der JAMAICA BAY gefunden haben“, erklärte ich. „Wenn Norma Jennings, und die anderen, bisher noch nicht identifizierten Opfer, die in den Fässern verstaut und der Zersetzung preisgegeben wurden, tatsächlich von diesem Serientäter
umgebracht wurden, dann hatte der zweifellos Zugang zu diesem Abfällen.“ Josephson nickte. „Das ist in der Tat ein neuer Aspekt, den Ihre Ermittlungen erst in den Fall eingeführt haben“, gab er zu. „Der Täter könnte Angestellter einer Giftmülldeponie, eines Entsorgungsunternehmens oder eines Betriebes der chemischen Industrie gewesen sein“, sagte ich. „Geben Sie uns genauere Daten über die Chemikalien.“ „Sind unterwegs“, versprach ich. „Die Kollegen unseres eigenen Erkennungsdienstes und der Scientific Research Division arbeiten daran.“ „Ich hoffe nur, dass dabei mehr herauskommt als heißer Luft, wie bei den bisherigen Ermittlungen“, meinte Josephson. In diese durch und durch negative Beurteilung schien er seine eigene Arbeit durchaus einzuschließen. Sobald wir genaueres Wissen haben, kommen wir auf dieser Spur vielleicht weiter.“ Das Telefon auf Captain Josephsons Schreibtisch klingelte. Er nahm ab. Auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Furche. „Eine Meldung, die ins Raster t“, erklärte Josephson, nachdem er aufgelegt hatte. „Roxanne Brady, 25 Jahre alt und Sekretärin bei der Lake Erie Assurance. Sie ist seit gestern Abend verschwunden. Jetzt wurde sie in ihrem Wagen gefunden. Betäubt mit einem Elektrischocker und mit geöffneten Venen…“ „Genau wie bei Selma Monteleone“, stellte ich fest. „Ja. Der Red Hair Killer scheint wieder zugeschlagen zu haben. Josephson wirkte grimmig. Er umrundete den Schreibtisch und griff nach seiner Jacke, die an einem Haken an der Wand hing. „Der Fundort der Leiche ist nicht weit von hier entfernt. Wenn Sie wollen, können Sie mich gleich begleiten. Die Kollegen sind am Tatort und beginnen dort mit der Arbeit.“
12
Der Wagen stand in einem Hinterhof, etwa zehn Minuten reine Fahrzeit vom Police Headquarter entfernt. Überall standen Einsatzfahrzeuge des Buffalo Police Department. Wir fuhren im Dienstwagen von Captain Josephson mit, da es nach seine Angaben völlig sinnlos gewesen wäre, in der Umgebung jetzt noch einen freien Parkplatz zu suchen. In dieser Hinsicht war die Lage in Buffalo zurzeit wohl besonders angespannt. Also ließen wir den Sportwagen in der Tiefgarage des Headquarter stehen und fuhren mit Captain Josephson zum Ort des Geschehens. Milo und ich saßen auf der Rückbank. Den Beifahrersitz nahm Detective Sergeant Serena Morgan ein, eine Frau von Ende zwanzig mit braunem, gelocktem Haar, das sie zu einem Zopf zusammengefasst trug. Josephson gab ihr die Anweisung, den Profiler zu verständigen. „Dr. Martin ist auf dem Weg“, stellte Serena Morgan wenig später fest. „Das ist gut“, murmelte Josephson. Ihm war anzumerken, wie sehr ihn die Meldung von dem Leichenfund mitgenommen hatte. Die äußeren Umstände ähnelten wohl einfach zu sehr jenen des Falles von Selma Monteleone. Wir stiegen aus. In Josephs Gefolge ließen die uniformierten Kollegen uns sofort bis zum eigentlichen Fundort durch. Der Hinterhof gehörte zum ehemaligen Gelände einer Speditionsfirma, die vor einiger Zeit in Konkurs gegangen war. Der Hof wurde von drei Seiten von Lagerhän umgeben. Mehrere Lastwagen standen dort, die jetzt vor sich hin rosteten. Die Reifen hatte man abmontiert, bei einem von ihnen fehlte sogar die Frontscheibe. Die Gebäude standen schon längere Zeit leer, wie am äußeren Zustand unschwer zu sehen war. „Nicht gerade die schönste Ecke von Buffalo“, meinte ich. Josephson reagierte darauf nicht. Er ging stieren Blicks auf den Toyota zu, der
von Kollegen umringt wurde, die zum Teil zu den uniformierten Kollegen des Police Department gehörten, zu einem anderen Teil dem Erkennungsdienst angehörten. Detective Morgan antwortete mir stattdessen. „Nach dem Konkurs der Firma, die hier ansässig war, wollte ein Investor ein Kaufhaus errichten, aber das Projekt kommt nicht so richtig voran.“ „Jedenfalls dürfte hier selten jemand herkommen“, stellte ich fest. Wir erreichten den Toyota. Die Tote saß auf dem Beifahrersitz. Der Gerichtsmediziner beugte sich gerade von der Seite über sie, um die Erstuntersuchung durchzuführen. Am Fahrersitz machte sich bereits ein Kollege des Erkennungsdienstes zu schaffen. Der Gerichtsmediziner war schließlich fürs Erste fertig. Er zog seine Latexhandschuhe aus und wandte sich an Josephson. „Es gibt ziemlich eindeutige Spuren eines Elektro-Schocker-Einsatzes“, erklärte er. „Was ich Ihnen jetzt sage, ist natürlich ein vorläufiger Befund. Genaueres kann ich Ihnen erst nach der Obduktion sagen.“ „Natürlich“, sagte Josephson ungeduldig. „Meiner Ansicht nach ist das Opfer betäubt worden und anschließend ließ man die Frau ausbluten. Letzteres ist dann auch die Todesursache.“ „Gibt es Spuren eines Kampfes?“, fragte ich. Der Gerichtsmediziner sah mich an und hob die Augenbrauen. „Nein, dafür liegen keine Anzeichen vor.“ Josephson stellte uns kurz und knapp gegenseitig vor. Der Arzt hieß Edgar Simpson und arbeitete für ein gerichtsmedizinisches Institut, das im Auftrag des Coroners tätig wurde, wenn dies von der Justiz angefordert wurde. Detective Sergeant Serena Morgan hatte inzwischen mit einem der uniformierten Kollegen gesprochen und kehrte jetzt zu uns zurück. „Der Wagen ist auf den
Namen Roxanne Brady zugelassen“, stellte sie fest. „Das bedeutet, dass sie sehr wahrscheinlich nicht hier starb“, schloss ich. Simpson schien meiner Meinung zu sein. „Sie sitzt sehr schief auf dem Beifahrersitz. So als wäre sie dort hingesetzt worden, nachdem sie schon bewusstlos war.“ Ich ging zum Wagen und sah den Kollegen vom Erkennungsdienst des Buffalo Police Department bei der Arbeit zu. Es war sehr viel Blut ausgetreten, aber kaum etwas davon hatte den Fahrersitz besudelt. „Der Täter könnte den Wagen hier her gefahren haben, nachdem das Opfer betäubt war“, meinte Milo. „Wahrscheinlich wollte er ungestört das Verbrechen begehen können und hat gehofft, dass man den Wagen mit der Leiche möglichst lange nicht findet.“ „Warum hat er sie nicht in ein Säurefass gelegt – wie Norma Jennings?“, fragte ich. Milo zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, weil er im Moment keinen Zugang zu solchen Fässern hat. Vergiss nicht, dass die Fässer, die wir auf der JAMAICA BAY gefunden haben, ja schließlich von irgendwoher abtransportiert worden sind…“ „Vielleicht war es dem Täter auch einfach zu risikoreich, mit einer Leiche im Wagen durch die halbe Stadt zu fahren…“ Ich erkundigte mich bei einem der Uniformierten, wer die Tote eigentlich gefunden hätte. „Ein paar Jugendliche aus der Gegend, die sich hier ab und zu treffen“, bekam ich zur Auskunft. „Die stehen jetzt unter Schock.“ Ich ließ den Blick durch den Hinterhof schweifen. Diese leerstehenden, vor sich hin rottenden Lagerhä waren eigentlich ein typisches Objekt, wie es von Strohmännern der Müll-Mafia häufig angekauft wurde. Dann füllte man die Gebäude mit Müll und irgendwann war der Besitzer dann auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ermittlungen verliefen häufig im Sand, weil die Täter falsche Identitäten benutzen und zudem das Ganze in der Regel
erst dann entdeckt wurde, wenn es zu irgendeinem gravierenden Vorfall kam. Geruchsbelästigungen, Brände, Vergiftungen – irgendetwas in der Art. Je nachdem, wie gut der Giftmüll verpackt war, konnte das allerdings mitunter Jahre dauern. Die Täter hatten bis dahin längst sämtliche Spuren verwischt und wenn wir dann doch einmal Glück hatten, an einen von ihnen heranzukommen, dann erwischten wir in der Regel nur die Strohmänner auf den unteren Sprossen der Hierarchieleiter innerhalb dieses Zweiges der organisierten Kriminalität. Ich sagte Captain Josephson, dass ich unbedingt eine Durchsuchung der Lagerhä wollte. Josephson nickte. „Den entsprechenden Durchsuchungsbefehl bekommen wir.“
13
Josephson forderte Verstärkung an und wenig später wurde eines der rostigen Hallentore aufgebrochen. Im Inneren schlug uns ein unangenehmer Geruch entgegen. Aber die Lagerräume, die wir betraten, waren vollkommen leer. Lediglich einige kleinere Haufen mit Plastikabfällen waren zu finden. Aber auf dem staubigen Boden waren Schleifspuren und Abdrücke sehen. Abdrücke, die von Fässern stammen konnten. Hier und da waren auch undefinierbare Substanzen in den Beton eingezogen und hatten Verfärbungen auf dem Boden hinterlassen. „Hier muss der Erkennungsdienst ran“, sagte ich. „Es müsste doch noch festzustellen sein, was hier mal gelagert worden ist!“ „Jedenfalls wurde hier vor nicht sehr langer Zeit etwas abgeholt…“, stellte Milo fest. „Wenn die Jugendlichen, die die Tote gefunden haben, sich öfter auf diesem Gelände aufhalten, haben sie vielleicht etwas davon bemerkt.“ Über Funk meldete sich einer der Erkennungsdienstler bei Captain Josephson. „Die haben da offenbar etwas Interessantes gefunden“, erklärte uns der Leiter der Homicide Squad. Wir kehrten zu dem Toyota zurück, in dem Roxanne Bradys Leiche gefunden
worden war. Inzwischen war dort auch Dr. Franklin Martin eingetroffen. Josephson stellte ihn uns kurz vor. „Na, wenn das FBI sich an der Ermittlungsarbeit beteiligt, können wir ja sicher bald mit einer Aufklärung rechnen“, sagte er mit einem ironischen Unterton. „Wir werden tun, was wir können“, erwiderte ich. Franklin Martin war Mitte fünfzig, hager und hatte eingefallene Wangen. Ich fragte mich, welche Animositäten er wohl gegen das FBI haben mochte. Aber das erschien mir im Moment zweitrangig. Einer der Spurensicherer hatte in der Kleidung der Toten eine Packung mit Streichhölzern gefunden, die das Logo von Mac’s Bar trug. „Die Bar kenne ich“, sagte Josephson. „Liegt hier ganz in der Nähe. Ich war allerdings nur einmal dort.“ „Dienstlich?“, fragte ich. „Wir haben den Geburtstag unseres Vorgesetzten dort gefeiert. Das können Sie getrost unter dienstliche Pflichten einordnen, denn ich glaube, dass er ziemlich sauer reagiert hätte, wenn ich dort nicht erschienen wäre.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ist aber schon lange her.“ Er nahm die Streichholzpackung in die Hand, die von dem Kollegen des Erkennungsdienstes inzwischen sorgfältig eingetütet worden war. „Seltsam, ich hätte nicht gedacht, dass so etwas noch als Aufmerksamkeit für die Kunden vergeben wird…“ „Sie meinen wegen den Anti-Raucher-Gesetzen?“, hakte Milo nach. „Natürlich. Bei euch in New York City ist man da ja wohl besonders fanatisch.“ „Könnte sich vielleicht lohnen, in dieser Bar mal nachzufragen“, fand ich.
14
Als wir Mac’s Bar aufsuchten, hatte der Betrieb dort gerade begonnen. Wir legten unsere Ausweise auf den Tresen. Der Barkeeper warf einen kurzen Blick darauf. „Womit kann ich dienen? Ich denke nicht, dass Sie einen Drink nehmen wollen…“ „Wie heißen Sie?“, fragte ich. „Roy Anselmo, ich bin hier als Barkeeper angestellt. Wenn Sie den Besitzer der Bar sprechen wollen, dann müssen Sie sich noch etwas gedulden. Mister MacConroy hat seit zwei Tagen den Fuß in Gips. Er ist zu Hause in seiner Wohnung.“ „Dann gebe Sie uns bitte seine Adresse“, forderte ich. „Gary MacConroy, 45 Maxwell Road – das ist hier gleich um die Ecke, keine fünf Minuten zu Fuß.“ Ich schrieb mir die Adresse auf. Im Handschuhfach des Toyota war von den Spurensicherern ein Führerschein sichergestellt worden, in dem die Tote auf einem einigermaßen aktuellen Foto zu sehen war. Captain Josephson legte diesen Führerschein auf den Tresen. „Diese Frau wurde heute tot aufgefunden. Sie besaß Streichhölzer mit dem Logo dieser Bar.“ Etwa einen Meter von mir entfernt befand sich ein Teller mit derartigen Streichholzpackungen. „Mister MacConroy hat vor Jahren etwas zu viele davon günstig in Auftrag gegeben. Inzwischen ist das Rauchen hier ja nicht mehr erlaubt, aber es ist nicht untersagt, Streichhölzer zu verschenken…“ Anselmo wirkte etwas verlegen. Mir fiel auf, dass er sich das Bild nur ganz kurz angesehen hatte. „Roxanne…“, murmelte er dann. „Sie kannten sie näher?“, fragte ich. „Wenn Sie den Leuten zuhören, dann lernen Sie sie schnell kennen.“ Einer der Gäste mischte sich ein. „Die Rothaarige von gestern?“, fragte er.
Ich nahm den Führerschein und zeigte ihn auch dem Gast, einem Mann im dreiteiligen kobaltblauen Anzug und schätzungsweise zwanzig Kilo Übergewicht. Ein Geschäftsmann oder Banker, so nahm ich an. Er sah sich das Bild genau an. „Das ist sie. Sie war doch gestern hier als es das Theater mit diesem schmierigen Typen gab. Anselmo, erzählen Sie das doch! Sie waren doch dabei und haben der Frau sogar noch geholfen.“ Anselmo atmete tief durch. Er schluckte. Seine Gedanken schienen für einen Moment ganz weit weg zu sein. Vielleicht war er auch einfach nur tief schockiert über die Nachricht, die wir ihm gerade überbracht hatten. „Das stimmt“, gab er zu. „Sie hat einen Drink genommen und dann kam dieser eigenartige Typ.“ „Können Sie ihn beschreiben?“ „Ende dreißig, groß und vor allem hatte er ein goldenes Kreuz auf der Brust. Es hing an einem Goldkettchen. Er heißt Larry, das weiß ich. Und er kann ziemlich aufdringlich sein.“ „Was geschah, als er Roxanne Brady ansprach?“ hakte ich nach. „Nun, er wollte ihr einen Vortrag über seine seltsamen Ansichten halten.“ „Was für Ansichten?“ „Dass der Satan die Welt beherrscht und so weiter. Deswegen trägt auch ein Kreuz, das verkehrt herum an der Kette hängt. Außerdem wusste er wohl sehr genau über Roxanne Brady Bescheid, was sie natürlich sehr erschrocken hat.“ „Glauben Sie, dass er sie ausspioniert hatte?“ Anselmo schüttelte den Kopf. „Nein, er kommt einfach regelmäßig hier her und hat den Leuten zu gehört. Und Roxanne Brady kam fast immer nach dem Job noch auf einen Drink hier her. Manchmal auch mit Arbeitskollegen, Freundinnen und so weiter. Sie hat aber nie Notiz von ihm genommen, weil sie immer in Gesellschaft war.“ „Dann sah er gestern seine Chance gekommen!“, stellte ich fest.
Anselmo nickte. „Ja, so muss es wohl gewesen sein. Sie war auch irgendwie niedergeschlagen und hatte ohnehin schlechte Laune.“ Der zuckte mit den Schultern und lächelte etwas verlegen. „Das hört sich fast so an, als hätte ich sie besser gekannt…“ „Haben Sie?“ „Nein. Aber als Barkeeper kriegt man wirklich eine Menge mit. Normalerweise geht das beim einen Ohr rein und beim anderen wieder raus. Lediglich die Vorlieben für die Drinks merke ich mir. Aber wenn es dann plötzlich heißt, dass eine Frau, die fast täglich ungefähr da gesessen hat, wo Sie sich jetzt befinden, plötzlich tot ist…“ Er stockte und sprach dann in gedämpftem Tonfall weiter. „Roxanne war ziemlich gereizt. Sie hat Larry klargemacht, dass sie keine Lust auf sein Gequatsche hat und ist zur Tür raus. Er wollte hinterher, aber ich habe ihn aufgehalten. Er hatte nämlich seinen Drink nicht bezahlt, das gab mir die Möglichkeit, ihr einen Vorsprung zu verschaffen. Ein Service für gute Gäste, verstehen Sie?“ „Und dieser Typ – Larry – ist ihr dann gefolgt“, schloss Josephson. „Richtig.“ Anselmo blickte auf die Uhr. „Wie gesagt, er kommt fast jeden Tag hierher, aber es noch nicht ganz seine Zeit. Warten Sie eine halbe Stunde, dann könnten Sie Glück haben und ihn treffen…“ „Dann hoffe ich, dass Sie auch etwas Nichtalkoholisches zu trinken haben“, erwiderte Josephson.
15
Wir warteten auf den Mann, der Larry genannt worden war. Anselmo versprach, uns ein Zeichen zu geben, wenn er auftauchte. Dazu postierten wir uns an strategisch günstigen Stellen. Josephson setzte sich in eine Ecke neben der Tür. Milo auf einem Platz, von dem aus man die Tür gut beobachten konnte und ich blieb am Tresen stehen.
„Was ist denn mit Roxanne Brady genau iert?“, fragte Roy Anselmo plötzlich. „Sie wurde ermordet“, sagte ich. „Mehr möchte ich im Moment dazu nicht sagen.“ Ich gab ihm meine Karte. „Unter der Handynummer bin ich jederzeit erreichbar. Vielleicht fällt Ihnen ja später noch etwas ein, was uns weiterbringt.“ „Glauben Sie nicht, dass es dieser Typ war? Larry?“ „Das werden wir sehen.“ „Wenn Sie wüssten, was ich mir für Vorwürfe mache. Ich hätte ihn länger aufhalten sollen. Aber…“ „Sie haben sich nichts vorzuwerfen“, meinte ich. Der Gast im Dreiteiler mischte sich ein. „Sie sind ihm doch sogar noch nachgelaufen und haben ihm draußen nachgeschaut, Anselmo! Mehr kann man wirklich nicht erwarten. Wer hätte denn auch damit rechnen können, dass dieser Spinner ein verrückter Mörder ist.“ „Stimmt das?“, wandte ich mich an Anselmo. Anselmo nickte. „Ja, aber ich habe keinen der beiden noch gesehen…“ „Verstehe…“ Ich schrieb mir noch die Adresse des Anzugträgers auf. Er hieß Logan Menzinger und arbeitete in der Kreditabteilung eine Bank, zwei Blocks weiter. Schließlich wandte ich mich wieder an Anselmo. „Bis dieser Larry hier auftaucht könnten Sie mir vielleicht noch etwas von dem erzählen, was Sie über Roxanne so aufgeschnappt haben.“ „Viel ist das im Grunde nicht. Sie arbeitete bei einer Versicherung und hatte dort viel Stress. Es gab da offenbar Pläne, einen Teil der Mitarbeiter zu entlassen. In so fern kann ich gut verstehen, dass Roxanne Brady gestern ziemlich reizbar war.“ „Und dieser Larry? Hat der irgendwann mal über seine persönlichen Dinge
gesprochen? Zum Beispiel, welchen Job er hat?“ Anselmo schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“ „Wissen Sie, ob er einen Elektro-Schocker besaß?“ Anselmo war wie vom Donner gerührt. „Spielt das in dem Fall etwa eine wichtige Rolle?“ „Es war einfach nur eine Frage, Mister Anselmo“, erwiderte ich. Er nickte schwer. „Da sagen Sie was! Er hatte tatsächlich einen ElektroSchocker. Und ich glaube, er trug auch eine Waffe.“ „Sie glauben das?“, echote ich. „Sein Jackett beulte sich unter der Achsel immer ein bisschen aus. Den Schocker trug er in der linken Jacketttasche. Er hat ihn mir mal gezeigt, als er schon ziemlich betrunken war. Larry war vielleicht ein Spinner, der glaubte, dass die Welt von furchtbaren Mächten beherrscht wird. Aber damit verbunden waren auch ungeheure Ängste. Er glaubte immer in Gefahr zu sein, von Kriminellen überfallen zu werden. Jedes Mal, wenn in den Medien ein Überfall gemeldet wurde, sah er das als Bestätigung seiner Theorie über den Satan an. Sie verstehen, was ich meine…“ „Ich denke schon.“ Anselmo blickte an mir vorbei zur Tür. Seine Augen schienen dabei plötzlich ganz starr zu werden. Ich drehte mich um. Ein Mann im hellen Anzug stand dort. Um den Hals hing etwas, das im Licht metallisch aufblitzte. „Das ist er“, sagte Anselmo. Larry trat zwei Schritte in die Bar, blieb dann plötzlich stehen. Mit einer ruckartigen Bewegung drehte er den Kopf. Der Mann schien so etwas wie einen sechsten Sinn dafür zu haben, um zu bemerken, wenn er verfolgt wurde. Josephson hatte sich inzwischen von seinem
Platz erhoben. Milos Hand wanderte unter das Jackett. „Larry?“, fragte Josephson. Er zog seinen Ausweis hervor. „Police Department. Wir müssen mit Ihnen reden…“ Larrys Augen traten hervor. Wie angewurzelt stand er da. Ein Gast betrat die Bar. Larry packte ihn, riss ihn vor sich, während wir unsere Dienstwaffen zogen. „Ich habe doch alles getan!“, rief er. „Alles, was ihr wolltet! Ich bin doch einer von euch!“ Bei dem Gast handelte es sich um einen völlig verdutzten Banker im Dreiteiler. Larry setzte ihm den Elektro-Schocker an den Hals. „Keine Bewegung!“, rief er. „Bleibt, wo ihr seid, oder es wird etwas Schlimmes geschehen!“ „Larry, bleiben Sie ganz ruhig!“, rief ich. „Wir wollen doch nur mit Ihnen sprechen!“ „Ihr sprecht die ganze Zeit zu mir! So laut, dass ich es kaum aushalte. Jetzt lasst mich in Ruhe!“ „Larry!“ Er schleuderte uns den Mann im Dreiteiler entgegen. Dieser taumelte in unsere Richtung. Gleichzeitig schnellte Larry aus der Tür. Er wusste genau, dass wir unmöglich schießen konnten, ohne einen Unbeteiligten extrem zu gefährden. Die Tür fiel ins Schloss. Der Mann im Dreiteiler fiel Josephson vor die Füße. Ich setzte dem flüchtigen Mann nach.
In Anbetracht der Umstände war er höchst verdächtig. Und sein Verhalten untermauerte diesen Eindruck noch. Ich schnellte mit meiner Dienstwaffe in der Faust auf die Tür zu und riss sie auf. Milo war mir auf den Fersen. Sekundenbruchteile später stand ich auf dem Bürgersteig. Larry hatte zum Spurt angesetzt. Was Roy Anselmo über seine Bewaffnung gemutmaßt hatte, traf leider zu. Larry griff unter sein Jackett und griff nach einer Automatik. Schüsse peitschten in unsere Richtung. Auf anten nahm er dabei keine Rücksicht. Eine Mutter mit Kinderwagen und ein älterer Herr flohen in eine Türnische. Die Fensterscheiben eines Geschäfts für Computerzubehör gingen zu Bruch. Ein Querschläger kratzte am Lack eines parkenden Fahrzeugs entlang und hinterließ einen Striemen. Larry rannte vorwärts. Unser Glück war, dass ihn offenbar nie jemand im schießen richtig ausgebildet hatte, sodass seine Schüsse mehr oder weniger ungezielt waren. Milo ging an einer Hausnische in Deckung, ich duckte mich hinter den Kotflügel eines blauen Ford, während Larry unablässig Schuss um Schuss abgab. Captain Josephson, der jetzt erst aus Mac’s Bar heraustrat, wurde von einem dieser Schüsse knapp verfehlt. Die Kugel grub sich in das Mauerwerk direkt neben ihm und sprengte ein daumengroßes Loch in den Stein. Dann erreichte Larry eine Nebenstraße und bog ein. Wir rannten hinterher. Josephson folgte uns und rief über Funk Verstärkung. Außerdem gab er Larry in die Fahndung ein. Ich tastete mich vorsichtig um die Ecke jener Nebenstraße, in die er eingebogen war. Eine schmale Einbahnstraße, wenig belebt dafür aber fast völlig zugeparkt.
Die Dienstwaffe vom Typ SIG Sauer P226 hielt ich in beiden Händen. Milo folgte mir und sicherte mich ab. „Der Mann ist verrückt, wir sollten besser nicht damit rechnen, dass er vernünftig handelt“, raunte Milo mir zu. Captain Josephson überquerte die Straße und bezog auf der anderen Seite Stellung. „Das Gute ist, der Kerl kann hier nicht einfach in einen Wagen steigen, ohne, dass wir das merken!“, meinte Josephson. „Dies ist nämlich eine Sackgasse.“ Wir sahen die Reihen der parkenden Fahrzeuge entlang. Bei den meisten handelte sich um Pkw. Nur hin und wieder versperrte ein Van oder ein Transporter die Sicht. Wir arbeiteten uns vorsichtig voran. Vielleicht war Larry auch in einem der Hauseingänge verschwunden. Auf jeden Fall war er gefährlich und nahm bei seinen Handlungen weder auf sich selbst noch auf andere irgendeine Form von Rücksicht. Ich erreichte die Einfahrt zu einem Hinterhof. Ich tastete mich vor, blickte dann mit der Waffe in der Hand in die Einfahrt und stellte fest, dass dort niemand war. Ein gusseisernes Tor, etwa zwei Meter fünfzig hoch, versperrte den Zugang zum Hinterhof. In der Mitte war ein Schild angebracht, auf dem Stand: Zulieferer für Mac’s Bar. Darunter war noch ein Hinweis darauf, dass in der Einfahrt parkende Fahrzeuge kostenpflichtig abgeschleppt würden. Offenbar gehörte der Hinterhof zur Bar und man wollte vermeiden, dass er als Parkplatz genutzt und zugestellt wurde. „Dahin kann er nicht verschwunden sein!“, stellte Milo fest. Mir fiel ein buntes Stück Papier auf dem Boden auf. Nur für eine Sekunde erregte es meine Aufmerksamkeit. Die Worte LAKE ERIE ASSURANCE fesselten mich. Ich zog sofort die Verbindung zu Roxanne Brady, die dort schließlich gearbeitet hatte. Es war offenbar eine Visitenkarte und sie war in keinem guten Zustand. Den einen oder anderen Fußtritt eines anten hatte sie
schon mitbekommen. NIEMAND VERSICHERT SIE SO GÜNSTIG!, stand auf der Karte. Ich drehte sie um. In der Ecke waren dienstlicher Telefon- Fax- und Internetanschluss sowie die Zimmernummer von Roxanne Brady zu finden. „Sieh an!“, murmelte ich. „Vielleicht hatte sie ihren Wagen hier abgestellt und hat die Karte verloren, als sie in ihrer Handtasche nach dem Wagenschlüssel suchte“, glaubte Milo. Im Moment blieb jedoch keine Zeit, um weiter darüber nachzudenken. Ein Motor heulte auf. Im nächsten Moment scherte ein viertüriger Chevrolet aus der Reihe der parkenden Fahrzeuge aus. Der Fahrer gab Vollgas und ließ den Motor aufheulen. In einem wahnsinnigen Tempo raste er in dem engen Korridor zwischen den Fahrzeugreihen her… Ich war mir sicher, dass Larry am Steuer saß, auch wenn ich das von meiner Position aus nicht zweifelsfrei zu erkennen vermochte. In diesem Moment bog ein Lieferwagen mit der Reklameaufschrift eines Getränkeherstellers in die Sackgasse ein. Der Fahrer trat in die Eisen. Quietschend kam der Lieferwagen zum stehen, aber für Larry bestand keine Chance, auf der Fahrbahn an ihm vorbeizukommen. So riss er das Steuer des Chevrolets herum und steuerte durch die Lücke zwischen den parkenden Fahrzeugen, die vor der Einfahrt zum Hinterhof von Mac’s Bar gelassen worden war. Der Wagen raste auf uns zu. Milo machte einen Satz zur Seite, und rollte sich auf dem Bodden ab. Mir blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls zu springen. Allerdings hatte ich keinerlei Möglichkeit, der Wucht des Wagens noch seitwärts zu entkommen. Ich sprang auf die Kühlerhaube, während Larry den Chevy mit nur unwesentlich gedrosselter Geschwindigkeit über den Bürgersteig brettern ließ. Milo rappelte sich inzwischen auf und feuerte auf die Hinterreifen. Beide
platzten im Abstand von etwa einer Sekunde. Der Wagen brach nach rechts und anschließend nach links aus. Die Kotflügel krachten einmal gegen das Blech der parkenden Fahrzeuge und dann gegen den Stein der Hauswände. Funken sprühten dort. Der Geruch von verbranntem Gummi stach mir in die Nase. Dann verkantete sich der Wagen so, dass er stehen blieb. Durch den Ruck wurde ich von der Kühlerhaube geschleudert. Hart fiel ich auf den Boden, rollte mich aber über die Schulter auf dem Asphalt ab. Ein Schuss krachte. Larry hatte seine Waffe hervor gerissen und in meine Richtung gehalten. Der Schuss ging durch die Windschutzscheibe hindurch, verfehlte mich aber und zertrümmerte stattdessen eine Straßenlaterne in zwanzig Meter Entfernung. Ich war innerhalb eines Sekundenbruchteils wieder auf den Beinen und riss die Waffe empor. Breitbeinig und in halb geduckter Haltung stand ich vor der Kühlerhaube des Chevy und richtete die schussbereite Pistole auf Larry, der einen Moment lang völlig konsterniert war. Allerdings wohl weniger wegen meines Einsatzes als auf Grund der Tatsache, dass ein Schwall von Glassplittern ihm entgegengeregnet war, nachdem er die Frontscheibe mit seinem Schuss zertrümmert hatte. „Waffe weg!“, rief ich. „Sofort!“ Er saß wie erstarrt da. Sein Waffenarm hing herab. Um mich zu erschießen, hätte er die Waffe noch einmal hochreißen müssen. Ich konnte die Anspannung in seinem Gesicht förmlich sehen. „Über das, was Ihnen jetzt gerade durch den Kopf geht, sollten Sie nicht einmal nachdenken!“, riet ich ihm. Er schluckte. Gleichzeitig bemerkte ich, wie sich die Muskulatur auf der Seite des Waffenarms bei ihm anspannte. Vielleicht war es ihm gleichgültig, was ierte. Oder er war verrückt genug, um die Polizei als Instrument zur Inszenierung des eigenen Selbstmordes einfach mit einzukalkulieren.
Inzwischen hatten sich auch Milo und Captain Josephson an den Chevy herangearbeitet. Als er Milo aus irgendeinem Grund bemerkte und sich halb herumdrehte, blickte er schon in den Lauf seiner Dienstwaffe. „Es hat keinen Sinn. Es sei denn, Sie sind lebensmüde…“ „Ich wusste, dass ihr so reagieren würdet“, sagte er. „Es stand von Anfang an fest, ihr seid nicht zu täuschen.“ Er ließ sich von Milo widerstandslos die Waffe abnehmen und redete die ganze Zeit über weiter. Auch noch, als die Handschellen klickten und ihm die Rechte vorgelesen wurden. In seinem Fall hatte ich das Gefühl, dass er davon wohl kaum ein Wort mitbekam. „Jetzt bin ich in eurer Hand“, sagte er. „In der Hand des Bösen…“ „Wir haben keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Larry“, stellte ich fest, nachdem ich wieder einigermaßen zu Atem gekommen war. „Ihr seid doch die Diener des Satans!“, rief er. „Sind Sie nicht auch einer?“, fragte ich etwas irritiert. „Sie tragen doch das Kreuz falsch herum um den Hals… Soweit ich weiß, ist das das Symbol des Satanismus.“ Seine Augen begannen jetzt fiebrig zu leuchten. „Nein…“ rief er plötzlich wie irre. „Und ich habe gedacht, ihr hättet mich erkannt! Und dabei hattet ihr keine Ahnung…“ „Bringen wir ihn erstmal in Gewahrsam“, schlug Captain Josephson vor. „Und ich denke, dass als erstes eine psychologische Begutachtung angesagt ist.“ Auch wenn Captain Josephson offenbar die Ansicht vertrat, dass im Augenblick nichts als wertloses Gestammel aus Larry herauskam, sprach ich ihn noch mal an. „Sie erinnern sich an Roxanne, oder? An ihre roten Haare. Sie sind ihr gestern in
Mac’s Bar begegnet.“ Sein Blick veränderte sich. „Ich erinnere mich.“ „Sie sind ihr gefolgt.“ „Ihr seid allmächtig. Ihr seid allwissend und allsehend. Ihr seid die Diener des Satans. Die Beherrscher der Welt. Warum fragt ihr?“ „Was war mit Roxanne?“, fragte ich. „War sie auch eine Dienerin des Satans?“ „Ich weiß nicht…“, murmelte er und senkte dabei den Blick. „Ist es hier geschehen?“, hakte ich nach. „Sie sind ihr gefolgt, sie stieg in den Wagen. Sie haben Ihren Elektro-Schocker genommen und…“ „Braucht man!“, fuhr er dazwischen. „Braucht man so eine Waffe! Sonst ist man schutzlos. Aber es nützt nichts. Ihr seid überall.“ Milo schüttelte den Kopf. „Vergiss es Jesse, du wirst hier und jetzt wohl kein vernünftiges Wort mehr aus ihm herausbekommen.“ Ich atmete tief durch. Wahrscheinlich hatte Milo Recht.
16
Verstärkung durch Kräfte des Buffalo Police Departments rückte an, um den Gefangenen abzutransportieren. Wenig später traf auch Dr. Franklin Martin ein. „Ich bin überzeugt davon, dass Roxanne hier betäubt wurde“, meinte ich. „Haben wir dafür einen schlüssigen Beweis?“, erkundigte sich Dr. Martin. „Nein, aber er wäre vielleicht zu erbringen.“
„Und wie?“, mischte sich nun Josephson ein, dessen Tonfall seine Skepsis verriet. „Ich vermute, dass Roxanne ihren Wagen hier abgestellt hatte – das bedeutet, er könnte Reifenspuren hinterlassen haben. Mit etwas Glück sogar ein brauchbares Profil.“ „Sie denken doch nicht etwa daran, hier sämtliche parkenden Fahrzeuge entfernen zu lassen und zwei Dutzende Erkennungsdienstler nach Reifenspuren suchen zu lassen!“, empörte sich Josephson und stemmte dabei seine unwahrscheinlich langen Arme in die Hüften. „Genau so etwas hatte ich im Sinn, Captain.“ „Hören Sie, das ist Wahnsinn und steht auch überhaupt nicht im Verhältnis zu den zu erwartenden Ergebnissen! Wir haben sehr wahrscheinlich den Täter und es reicht vollkommen, um ihm so viele der zurückliegenden Fälle nachzuweisen, dass er entweder für den Rest seiner Tage in die Psychiatrie oder in die Todeszelle wandert! Wo genau er Roxanne Brady nun betäubt und wo er sie getötet hat, ob das schon hier war oder ein paar Straßenzüge weiter auf dem brachliegenden Gelände dieser Spedition – das spielt doch keine so gewichtige Rolle! Zumal uns Larry sicherlich bald darüber Auskunft geben wird! Da bin ich mir sicher! Diese Typen kenne ich! Die brennen doch regelrecht darauf, wenn sie jemandem ihr verquastes Weltbild erzählen können!“ „Und Sie meinen, vor lauter Dankbarkeit verraten sie uns dann auch Tathergang und Motiv?“ „Bei allem Respekt, Agent Trevellian, aber das wäre nun wirklich nicht das erste Mal.“ „Trotzdem, ich wüsste es gerne genau und würde Sie bitten, eine entsprechende erkennungsdienstliche Aktion anzuordnen. Und zwar möglichst, bevor es einen länger anhaltenden Regenguss gibt, der vielleicht sämtliche noch vorhandenen und verwertbaren Spuren vernichtet.“ Mir war die ganze Zeit schon aufgefallen, was für ein nachdenkliches Gesicht Dr. Franklin Martin machte. Dem Psychologen und Profiler in den Diensten des Buffalo Police Department schien irgendetwas gegen den Strich zu gehen. Mir war noch nicht so recht klar, was das wohl sein mochte, aber er bot im Moment
das Bild eines Menschen, der sehr intensiv nachdachte. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Er kratzte sich am Hinterkopf und ich bekam ganz unerwartet einen Bundesgenossen für meine Ansicht… „Captain, ich wüsste auch gerne, wo genau die Tat stattgefunden hat. Und ich halte es auch nicht für übertrieben, die von Agent Trevellian angesprochene Aktion hier durchzuführen.“ „Und darf ich vielleicht auch den Grund für Ihre Ansicht erfahren?“, fragte Captain Josephson. Dr. Martin schüttelte den Kopf. „Dafür ist es noch zu früh. Aber ich schlage vor, dass wir uns alle morgen früh zu einem Briefing treffen. Vielleicht bin ich dann mit meiner Analyse schon etwas weiter.“ Als der Profiler die verwirrten und in Josephsons Fall auch ziemlich verärgerten Gesichter um sich herum sah, lächelte er mild und fügte noch hinzu: „Sehen Sie, ich hatte für diese Serie, die wir bisher angenommen haben, nach Durchsicht sämtlicher Unterlagen bisher eigentlich immer einen anderen Tätertyp angenommen. Jemanden, der zwar unter einem Zwang steht und vielleicht auch noch unter anderen, sekundären Zwangserkrankungen leidet, aber nicht jemanden, der unter einem religiösen Wahn leidet. Der Täter, den ich bisher angenommen habe, ist in der Lage sehr überlegt und planvoll zu handeln. Sehen Sie sich doch an, was dieser Larry hier veranstaltet hat! Das gleicht doch mehr einem Amoklauf!“ „Vielleicht haben Sie sich einfach nur geirrt, Dr. Martin.“ Martins Lächeln wurde dünn. „Wir wollen unseren Disput über die Natur des Täters an dieser Stelle nicht noch einmal vertiefen, Captain.“ „Das ist mir durchaus auch lieber so.“ „Und ich will auch keineswegs ausschließen, dass ich mich geirrt habe! Aber dann möchte ich das abgeklärt haben und dabei wäre ich gerne nicht in erster Linie auf die Aussagen dieses Wirrkopfs angewiesen, der vielleicht sogar einen Mord gestehen würde, den er gar nicht begangen hat!“ Josephson wandte sich an mich. „Gratuliere, Agent Trevellian, Sie bekommen Ihre Großaktion. Aber mal Hand aufs Herz: So ein Zirkus wird doch auch in New York City nicht jedes Mal veranstaltet, wenn irgendein Detail nicht ganz
klar ist.“ Ehe ich antworten konnte, hatte Dr. Martin das Wort ergriffen. „Für die Art des angenommenen Täterprofils ist es meiner Ansicht nach von entscheidender Bedeutung, ob der Täter bereits hier zuschlug oder ob das Verbrechen an einem anderen Ort geschah.“ Josephson machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich hoffe nur, dass auch etwas dabei herauskommt“, knurrte er und wählte dann per Handy das Hauptquartier an.
17
Wir blieben noch eine Weile am Ort des Geschehens, während die Erkennungsdienstler mit ihrer Arbeit begannen. Das Schwierigste war dabei die Beleuchtung. Außerdem versuchten zwei Dutzend Police Officers herauszufinden, wem die geparkten Wagen jeweils gehörten. Zumeist wurden sie in den umliegenden Mietshän und Geschäften fündig. Die Arbeit der Kollegen ging ziemlich zäh voran und Josephson fuhr schließlich mit uns zurück zum Hauptquartier. Dr. Martin beschäftigte sich inzwischen mit dem Festgenommenen. Für den nächsten Morgen wurde ein Briefing verabredet. Als Milo und ich etwas später auf dem Weg zu unserem Hotel waren, rief Agent Max Carter an. „Es gibt neue Erkenntnisse über die Müll-Mafia-Organisation, in die Brian Mondale mit seiner JAMAICA BAY verwickelt war.“ „Ist Mondale endlich zur Vernunft gekommen und hat ausgesagt?“, fragte Milo. „Dass die Spuren in diesem Fall nach Buffalo weisen, war ja schon vorher klar. Schließlich hat Jack Mantaglia dort zumindest einen Auftragsmord begangen, bei dem es unserer Ansicht danach ging, einen Geschäftspartner daran zu
hindern sich den Behörden zu offenbaren. Leider haben wir keine Aussage von Mondale. Der verschanzt sich noch hinter einer Mauer, die seine Anwälte um ihn errichten. Aber Randolph Jordan, der Kapitän der JAMAICA BAY war inzwischen zu einer umfangreichen Aussage bereit. Er ist zwar in viele Dingen nicht eingeweiht gewesen, aber immerhin hat er uns ein paar Hinweise gegeben, die interessant sein könnten.“ „Wir sind ganz Ohr“, versprach Milo. „Jordan gab uns den Hinweis, dass Mondale einer Organisation angehörte, zu deren nächsthöheren Ebene er keinen unmittelbaren Kontakt hatte. Das alles sei über einen Verbindungsmann namens Gregory Sumner gelaufen. Sumner steht schon seit längerem in Verdacht, mit Hilfe von Strohmännern in dubiose Grundstücksgeschäfte verwickelt zu sein.“ „Und es gibt wirklich keinen Hinweis darauf, wer hinter Sumner steht?“ „Nein. Jordan bezweifelt sogar, dass Mondale Näheres darüber weiß. Nat versucht, über das Verfolgen von Geldströmen Näheres zu erfahren. Schließlich sitzt Mondale in Untersuchungshaft und wir haben jetzt die Möglichkeit, seine wirtschaftlichen Verhältnisse genauestens zu durchleuchten. Wir arbeiten da inzwischen eng mit der Steuerfahndung zusammen, aber es würde schon an ein Wunder grenzen, wenn wir da schnelle Ermittlungserfolge verzeichnen könnten.“ „Die Materie ist wohl ziemlich kompliziert“, stellte Milo fest. Max konnte das nur bestätigen. „Allerdings!“ „Vielleicht könntest du uns ein kleines Dossier über diesen Gregory Sumner zusammenstellen, in dem alles aufgelistet ist, was über seine Geschäftsbeziehungen bekannt ist. Vielleicht ergeben sich dann Zusammenhänge mit unseren Ermittlungen hier in Buffalo.“ „Das ist schon geschehen“, versicherte Max. „Die Daten sind bereits auf dem Rechner in eurem Sportwagen.“ „Na, bestens!“, sagte Milo.
18
Das Hotel, in dem für uns Zimmer gemietet worden waren, trug den Namen Wellington Plaza und gehörte einer Kette an, die rund um die großen Seen recht verbreitet war. Sowohl in Kanada als auch auf amerikanischer Seite zwischen New York State und Michigan. Es war ein Mittelklasse-Hotel. Bevor wir auf unsere Zimmer gingen, luden wir die Daten, die Max Carter uns geschickt hatte auf ein PDA. Bevor uns am nächsten Morgen mit den Kollegen des Buffalo Police Department zum Briefing trafen, mussten wir uns mit den Daten einigermaßen vertraut machen. Am Morgen fuhren wir nach dem Frühstück ins Hauptquartier des Buffalo Police Department. Captain Josephson erwartete uns zusammen mit Detective Sergeant Serena Morgan in einem Konferenzraum. Dr. Franklin Martin traf etwas später ein. Er gab einen Bericht über die Befragung des Mannes, den wir bisher nur unter seinem Vornamen Larry kannten. Seine Identität hatte inzwischen festgestellt werden können. Sein voller Name lautete Larry William Basener. Er besaß einen College-Abschluss, arbeitete aber gegenwärtig als Aushilfsfahrer in einer Wäscherei. „Den Job, den er davor in einem Fast Food Restaurant hatte, verlor er, weil er Gäste anpöbelte und sie verdächtigte, vom Satan beeinflusst zu sein“, erklärte Martin. „Der Mann leidet zweifellos unter einer starken Psychose. Er glaubt, dass die Welt vom Satan beherrscht wird, der seiner Ansicht nach fast allen Menschen als eine Art Dämon innewohnen würde. Durch das Tragen eines Satanszeichens, des umgekehrten Kreuzes, glaubte er sich vor dieser feindlichen Umwelt schützen zu können. Er leidet außerdem unter paranoiden Vorstellungen.“ „Und Sie zweifeln noch immer daran, dass wir den Richtigen verhaftet haben?“, fragte Josephson kopfschüttelnd. „Ich denke, dass er unser Mann ist!“ Der Profiler hob die Augenbrauen. „Zumindest hat er aber kein feindseliges Verhältnis zu rothaarigen Frauen“, erklärte Dr. Martin. „Er kam mit drei Jahren in eine Pflegefamilie, weil die Mutter drogensüchtig und nicht in der Lage war, sich um ihr Kind zu kümmern. Welche frühkindlichen Traumata er da erlitten
hat, ist bisher schwer zu beurteilen. Da fehlen mir noch wesentliche Informationen. Tatsache ist aber, dass Larry Basener zu einer rothaarigen Pflegemutter kam. Als ich mit ihm über sie zu sprechen begann, wurde er zugänglicher und war mehr und mehr bereit, sich zu öffnen.“ „Kann man seine frühkindlichen Erlebnisse nicht auch als dein Indiz für seine Täterschaft werten?“, argumentierte Josephson. Aber der Captain der Homicide Squad bekam für diese Meinung keine Unterstützung. Franklin Martin war anderer Ansicht. Er schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, die Sache scheint bei Basener etwas anders zu liegen, als Sie vielleicht denken. Basener hatte ein überaus positives Verhältnis zu seiner Pflegemutter. Er bezeichnet sie als eine der wenigen Menschen, die nicht vom Satan beherrscht würden.“ „Mit anderen Worten, er hat eigentlich keinen Grund, rothaarige Frauen umzubringen“, stellte ich fest. Martin nickte. „So ist es. Er war übrigens mehrfach in psychiatrischer Behandlung. Seine Probleme begannen, nach dem Tod der Pflegemutter. Sie starb an Krebs, als er vierzehn war. Danach kam es zum ersten Mal zu einer mehrmonatigen Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Auf die entsprechenden Unterlagen warte ich noch. Aber ich bin mir ehrlich gesagt nicht mehr sicher, ob wir die überhaupt noch brauchen, um Basener als Täter auszuschließen.“ „Weshalb?“, fragte Josephson. „Also für mich ist das längst noch nicht so klar. Vielleicht hat er seiner rothaarigen Pflegemutter nie verziehen, dass sie krank wurde und starb. Kann das nicht auch als ein Im-Stich-Lassen empfunden werden?“ „Völlig richtig, Captain. Aber Tatsache ist nun mal, dass Larry Basener das nicht auf diese Weise verarbeitet hat.“ „Dr. Martin, er hatte einen Elektro-Schocker, er ist dem letzten Opfer gefolgt, das ihm eine Abfuhr erteilte…“ Josephson nippte an seinem Kaffee und es war für mich überdeutlich, dass er diesen Fall einfach nicht mit der nötigen sachlichen Kälte betrachten konnte. Zu tief saß die Niederlage, die ihm der mysteriöse Killer vor Jahren beigebracht
hatte. Dr. Martin schloss unterdessen sein Laptop an einen Beamer an. Er projizierte eine Karte an die Wand, die den Norden der USA zeigte. Im Westen reichte der Kartenausschnitt bis Idaho, im Osten bis zur Grenze von Maine. Kreuze markierten Orte vor allem in New York State, Ohio, Pennsylvania und Indiana. Außerdem gab es noch eine Reihe von Fragezeichen, die sich vor allem auf Illinois, Michigan und Wisconsin konzentrierten. In Wisconsin gab es außerdem ein Kreuz. „Sie sehen hier eine geografische Übersicht über alle Fälle, die wir mit dem Red Hair Killer in Verbindung bringen. Die Kreuze bezeichnen Fälle, in denen das sehr wahrscheinlich ist, obwohl wir in manchen davon keine Leiche vorfanden. Aber bei sämtlichen Fällen, die durch ein Kreuz bezeichnet wurden, fanden wir am vermutlichen Tatort zumindest so viel DNA – meistens in Form von Blut – dass wir erstens sicher sein können, dass die betreffende Frau wirklich ermordet wurde und zweitens Rückschlüsse genug auf die Begehungsweise der Tat gezogen werden können, um eine Verbindung zu unserer Serie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit herzustellen. An insgesamt drei Tatorten fanden wir auch Spuren des Täters, die zumindest beweisen, dass drei dieser Fälle von ein und demselben Mann begangen wurden.“ „Ich nehme an, dass bei Larry Basener auch ein Gen-Test durchgeführt wird“, meinte Milo. Dr. Martin nickte. „Ja, wir erwarten das Ergebnis frühestens übermorgen.“ „Und was sind die Fragezeichen?“, erkundigte ich mich. „Die Fragezeichen sind Fälle von vermissten Frauen, die von ihren Persönlichkeitsmerkmalen her in das Beute-Schema des Killers en. Ich habe die über NYSIS zugänglichen Daten verwendet. In wiefern die vollständig sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Es ist durchaus möglich, dass da noch der eine oder andere Fall hinzukommt. Ich habe nun zunächst einmal versucht alle diese Fälle in ein zeitliches Raster zu setzen. Danach hätte der Täter vor zwanzig Jahren mit seinen Morden begonnen, hat darauf wahrscheinlich regelmäßig den Wohnort und den Job gewechselt und ist langsam ostwärts gezogen. Ich konnte übrigens die Zahl der Fragezeichen auf diese Weise reduzieren. Der Täter scheint immer nur Opfer in der näheren Umgebung seines Wohnortes gesucht zu
haben und ist dann nach einer Weile weiter gezogen.“ „Vielleicht weil der Fahndungsdruck zu groß wurde?“, vermutete ich. Martin zuckte mit den Schultern. „Das könnte durchaus ein Grund gewesen sein. Jedenfalls gab es in der Gegend von Buffalo vor sieben Jahren den ersten Fall. Seitdem scheint der Täter diese Gegend nicht mehr verlassen zu haben.“ „Er hatte eine Möglichkeit, die Leichen – wie er glaubte – sicher zu entsorgen“, stellte ich fest. „Norma Jennings wurde vor fünf Jahren getötet und in ein Säurefass gelegt.“ „Gut möglich, dass er sich deswegen sicher fühlte“, nickte Martin. „Wir suchen jedenfalls einem Mann, der um vierzig ist – plus Minus ein paar Jahre. Das trifft auf Larry Basener zu. Er ist 38 Jahre alt. Aber er verbrachte diese gesamten 38 Jahre hier in Buffalo. Die einzigen Unterbrechungen waren Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken in Detroit und in Springfield, Colorado. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Basener in dieser Zeit kreuz und quer durch das Land reiste, um sich seine Opfer zu suchen!“ „Dann fangen wir also wirklich wieder von vorne an?“, fragte Milo. „Nein, nicht ganz“, meinte Martin. „Wir wissen schon eine ganze Menge über den Täter. „Unter anderem, dass er Zugang zu eine Giftmülldepot gehabt haben muss“, meinte ich. „Richtig“, nickte Martin. „Er könnte dort mal gearbeitet haben. Ich wollte noch etwas zum Motiv sagen. Er handelt aus einem Zwang heraus. Er glaubt irrealerweise, dass etwas Schreckliches geschieht, wenn er die Tat nicht vollbringt. Aber bei der Durchführung geht er sehr planvoll vor – so wie jemand, der unter einem Wasch- oder Kontrollzwang leidet, die Handlung an sich auch mit großer, fachmännischer Akribie ausführt. Dazu t auch das Entsorgen der Leichen. Es geht ihm nicht darum, Macht zu demonstrieren oder jemandem etwas zu zeigen oder zu beweisen! Ganz im Gegenteil. Und sexuelle Motive scheinen auch ausgeschlossen zu sein. Mit den Jahren verstärkt sich der Zwang. Die zeitliche Frequenz, in der die Handlung durchgeführt werden muss, verringert sich. Er muss immer häufiger töten. Außerdem ist bei der Person, die wir suchen mit Sekundärzwängen zu rechnen.“
„Was meinen Sie damit?“, fragte Milo. „Es erfordert ungeheure Kräfte, die Zwänge immer zu erfüllen. Schon ein einfacher Kontrollzwang kann zu völliger Erschöpfung führen. Bevor das geschieht gibt es eine Art Notbremse in der menschlichen Psyche. Der Betreffende befreit sich kurzfristig von einem Zwang, in dem er sich einem weniger anstrengenden Zwang unterwirft – zum Beispiel dem, beim Gehen irgendwelchen Linien auf dem Fußboden zu folgen. Unser Mann könnte Ähnliches tun.“ „Gibt es eigentlich Fälle in Kanada?“, fragte ich. „Wir befinden uns hier direkt an der Grenze. Es wäre doch nur logisch, wenn der Täter auch auf der anderen Seite der Grenze zugeschlagen hätte, zumal er sich doch Ihrer Theorie nach mindestens sieben Jahre mehr oder minder ununterbrochen in dieser Gegend aufhält.“ „Und rothaarige Frauen gibt es auch auf der anderen Seite der Grenze“, warf Milo ein. „Das habe ich bereits abgeklärt“, sagte der Profiler. „Auf kanadischer Seite gibt es keinen einzigen Fall, der ins Raster t.“ „Das muss einen Grund haben“, meinte Milo. „Vielleicht war unser Mann einfach nur nie in Kanada!“, warf Josephson ein. Seine Stimme klang leicht genervt. Offenbar hatte er sich schon zu sehr darüber gefreut, dass mit Larry Baseners Verhaftung der ganze Fall gelöst war. Aber das war er nicht. „Vielleicht kann er nicht über die Grenze“, schlug ich vor. „Der Personen- und Warenverkehr ist doch zwischen beiden Ländern frei“, meinte Milo. „Es wäre möglich, dass er dort straffällig wurde und deswegen nicht über die Grenze kann“, sagte ich. „Bravo!“, sagte Dr. Martin. „Damit könnten wir ein weiteres Merkmal haben. Vielleicht ist er sogar gebürtiger Kanadier.“
19
Milo und ich beschlossen, die Ermittlungen zunächst da anzusetzen, wo sie zumindest für uns begonnen hatten: Bei den Giftfässern der JAMAICA BAY. Mit Clinton Barringer, einem Erkennungsdienstler des Buffalo Police Department fuhren wir noch einmal zu dem Speditionsgrundstück, auf dem Roxanne Brady gefunden worden war. „Ich habe inzwischen die Vergleichsdaten über den Inhalt der Fässer erhalten, die Sie und Ihre Leute auf der JAMAICA BAY sichergestellt haben“, erklärte Barringer. „Die Rückstände in den Lagerhän lassen darauf schließen, dass hier ähnliche Giftmüllfässer lagerten.“ „Der Konkurs liegt ein halbes Jahr zurück“, stellte ich fest. „Aber ich nehme an, dass der Giftmüll schon wesentlich länger hier lagerte“, sagte Barringer. „Mitten in der Stadt – unglaublich!“, meinte Milo. „Wie kommen Sie zu Ihrer Einschätzung?“ „Kommen Sie, ich zeige es Ihnen!“, versprach Barringer. Er führte uns in die Lagerhalle, die wir schon einmal betreten hatten. Aber jetzt konnten wir uns gefahrlos umsehen, ohne befürchten zu müssen, irgendwelche Spuren zu ruinieren. Barringer zeigte uns ein paar Stellen, wo seiner Ansicht nach Säuren in den Beton hineingeätzt und ihn teilweise zersetzt hatten. „Die Beläge, die Sie sehen, kommen von den Fässern, die irgendwann wohl auch durchgefressen worden sind. Okay, die Fässer könnten schon halb zersetzt hier angekommen sein, aber die Spuren im Beton geben eindeutig Auskunft darüber, dass hier über Jahre lang Säure ausgetreten ist.“ „Gibt es irgendwelche Hinweise, woher diese Säurefässer stammten?“ fragte Milo. Barringer schüttelte den Kopf. „Nein, bisher haben wir leider keine konkreten Anhaltspunkt. Ich habe Ihnen eine Liste von Betrieben zusammengestellt, die
hier in der Gegend ansässig sind und dafür in Frage kommen.“ „Dann können wir Ihre Liste mit der abgleichen, die unsere Innendienstler für uns zusammengestellt haben“, warf Milo ein. Barringer lachte. „Ja, ich verstehe schon, was Sie damit sagen wollen. Es ist ja erstens nicht gesagt, dass die Giftstoffe wirklich aus dieser Gegend stammten. Sie könnten eine ziemlich lange Reise hinter sich gehabt habt haben. Und abgesehen davon, haben die Täter alles Mögliche dafür getan, um zu verhindern, dass man die Stoffe zurückverfolgen kann. Selbst wenn Sie so ein illegales Depot aufspüren, würden Sie keine Etiketten oder Kennzeichnungen an den Fässern finden…“ „Verstehe.“ Den Rest des Vormittags nutzten wir dazu, die Jugendlichen zu befragen, die Roxanne Bradys Leiche entdeckt hatten. Sie besuchten eine der umliegenden High Schools und wir holten sie kurz aus dem Unterricht. Drei Jungen und zwei Mädchen waren von den Kollegen aus Captain Josephsons Homicide Squad notiert worden. Zuerst waren sie etwas wortkarg. Der schreckliche Fund, den sie gemacht hatten, war sichtlich ein Schock für sie gewesen. „Wie oft wart ihr auf dem Grundstück?“, fragte ich. „Nicht so oft“, sagte ein Junge, der James Napier hieß. „Vielleicht könnten wir das etwas genauer erfahren?“ Er zuckte mit den Schultern und wich meinem Blick aus. „Vielleicht zweimal die Woche. Früher war das nicht möglich, da wurde man dort weggescheucht. Aber seid die Lastwagen dort waren und alles weggebracht haben, was sich in den Lagerhallen befand…“ „Was war den dort in den Lagerhallen?“, fragte ich.
„Na, Fässer. Keine Ahnung, was drin war. Die habe sie aufgeladen und weggebracht.“ „Hast du das mit eigene Augen gesehen?“, hakte ich nach. Er nickte. „ja. Und es stank ziemlich, als sie das Hallentor aufgemacht haben.“ Es stellte sich heraus, dass das erst eine gute Woche her war. Eigentlich te alles zusammen. Das Speditionsgelände war offenbar eine Art Zwischenlager gewesen und die Fässer waren von dort aus weggebracht worden, um sie endgültig verschwinden zu lassen. Vielleicht über die JAMAICA BAY und den New Yorker Hafen. Am frühen Nachmittag statteten wir dem Konkursverwalter der Speditionsfirma einen Besuch ab. Er hieß Knowle Brannagan und unterhielt sein Büro in einem der Bürotürme südlich des New York State Expressway, der quer durch Buffalo führte. Brannagan zeigte wenig Neigung, mit uns zusammen zu arbeiten. „Sie werden verstehen, dass ich es vorziehe, wenn Sie mich in Gegenwart meines Anwaltes befragen.“ „Das ist Ihr gutes Recht“, sagte ich. „Aber Sie sind im Moment weder ein Verdächtiger, noch werden Sie irgendeiner Straftat beschuldigt. Wir stellen lediglich ein paar rein informatorische Fragen.“ Brannagan war Ende dreißig, hatte ein sehr kantiges Gesicht und trug einen Maßanzug, der sicher das Monatsgehalt eines FBI-Agenten kostete. Er schien uns als seine natürlichen Feinde zu betrachten. Wir warteten eine geschlagene halbe Stunde, bis schließlich sein Anwalt auftauchte. Dessen Name war Sam Kyle – ein drahtiger Mann mit hoher Stirn und einem Haarkranz aus weißblonden Haaren. Allein die Tatsache, dass Sam Kyle hier auftauchte, war für uns mehr wert, als es jede unwillig gegebene Antwort von Brannagan hätte sein können. Der Name Philip Kyle war uns nämlich ein Begriff. Er tauchte in den Daten auf, die Max uns übersandt hatte. Sam Kyle hatte Gregory Sumner mehrfach vor Gericht vertreten.
Bingo!, dachte ich. Die erste direkte Verbindung zwischen der JAMAICA BAY und dem Grundstück, auf dem Roxanne Brady gefunden war. „Mein Mandant hat sich nichts zu schulden kommen lassen“, sagte Kyle. „Und Auskünfte über das Konkursverfahren, das Sie angesprochen haben, geben wir nur auf eine richterliche Anordnung.“ „Was mit Fragen zu Ihrer Person, Mister Kyle?“, fragte ich. Kyle hob die Augenbrauen. Seine Stimme klang wie klirrendes Eis. „Ich glaube, ich verstehe nicht richtig was Sie meinen. Alles, was meine Person betrifft, können Sie auf der Homepage meiner Kanzlei nachlesen.“ „Ich dachte, was Ihr Verhältnis zu Gregory Sumner betrifft“, erwiderte ich. „Ich rede nicht über Mandanten mit Ihnen, Mister…“ „Agent Trevellian. Das heißt also, Sie vertreten noch immer Mister Sumners Interessen.“ „Ich denke, das Gespräch ist hiermit beendet. Mein Mandant macht Ihnen gegenüber keine Aussage, es sei denn, Sie laden ihn offiziell vor.“
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„Ein Erfolg war deine Gesprächsstrategie ja nun nicht gerade, Jesse“, musste ich mir Milos Kritik anhören, nachdem wir das Büro von Knowle Brannagan verlassen hatten und uns wieder in den Sportwagen setzten, den wir auf einem zum Haus gehörenden Parkplatz abgestellt hatten. „Du hättest es ja besser machen“, erwiderte ich. Ich aktivierte den in die Armaturen integrierten TFT-Bildschirm und sah nach, ob uns unser Field Office irgend etwas an neuen Daten übersandt hatte. Aber das war nicht der Fall.
„Wenn die Fässer dort schon länger gelagert waren, dann kann das eigentlich nur bedeuten, dass die Spedition bereits seit längerem nur ein Tarngeschäft gewesen ist“, stellte ich fest. Milo nickte. „Das ist anzunehmen. Vielleicht sollte man die letzten Besitzer der Spedition festnehmen und verhören. Die müssten doch wissen, mit wem sie sich eingelassen haben…“ „Wenn nicht einmal Mondale den Kopf der Organisation kennt?“, fragte ich zurück. „Nein, das ist doch gerade der Trick bei der Sache. Die einfachen Strohleute müssen den Kopf hinhalten, aber das Ganze ist so organisiert, dass die Spur allenfalls zur nächsten Etage in der Organisation führt. Aber niemals bis zu den Hintermännern.“ „Die nächste Etage heißt in diesem Fall wohl Gregory Sumner“, stellte Milo fest. Dem konnte ich nur zustimmen. „So ist es. Und im Moment haben wir außer der Aussage des Captains der JAMAICA BAY keine Beweise gegen Sumner. Der würde den Teufel tun und uns seinen Boss verraten!“ Milo seufzte, während ich den Motor des Sportwagen startete. Der Motor hatte einen angenehm kraftvollen Klang. „Ich hoffe nur, dass wir am Ende nicht mit leeren Händen dastehen und weder den Red Hair Killer noch die Hintermänner der JAMAICA BAY Affäre dingfest gemacht haben.“ „Seit wann neigst du denn derart zum Pessimismus?“ „Das ist nur Realismus, Jesse. Und das ist etwas ganz anderes.“ „Ich bitte dich, Milo!“ „Ist doch wahr!“ Ich fädelte mich in den Verkehr ein. „Ich bin dafür, dass wir Sumner einen Besuch abstatten“, sagte ich schließlich, nachdem wir den New York State Expressway erreicht hatten, aus dem jenseits der kanadischen Grenze der QEW wird, was die Abkürzung für Quebec Expressway ist, was irgendwie nicht ganz logisch war, denn er führte durch den Süden von Ontario und keineswegs durch Quebec.
„Du willst Sumner noch mehr aufschrecken?“, fragte Milo „Ich weiß nicht, ob das wirklich eine gute Idee ist, Jesse!“ „Das ist vielleicht die einzige Möglichkeit, etwas Bewegung in die Sache zu bringen. Oder willst du abwarten, bis dieser Kyle unseren Gesprächspartner dermaßen auf Krawall gebürstet hat, dass der ebenfalls nicht mehr mit uns reden will?“ „Vielleicht hast du Recht. Aber ich bin dafür, dass wir vorher etwas essen. Mir knurrt nämlich der Magen.“ Zehn Minuten später saßen wir in einem Fast Food Lokal an der Washington Lane. Eine Zeitung lag dort aus. Es war der Buffalo Herald. Die Titelseite berichtet ausführlich über unsere Aktion im Hafen von New York City, bei der wir die JAMAICA BAY aufgebracht und daran gehindert hatten, ihre todbringende Fracht außer Landes zu bringen. Die Verbindungen, die der Fall nach Buffalo hatte, wurden natürlich herausgestellt. Auf Seite zwei wurde der Fall Norma Jennings, deren Brustimplantat in einem der Fässer der JAMAICA BAY gefunden war, ausführlich ausgebreitet. Ihr Verschwinden, die bisherigen vergeblichen Bemühungen der Polizei, die Serie des Red Hair Killers aufzuklären und zur Abrundung der Story ein Kurzinterview mit den tief getroffenen Angehörigen. „Das wird uns nicht gerade helfen“, murmelte ich und gab Milo die zusammengefaltete Zeitung.
21
Gregory Sumner zuckte zusammen, als das Telefon klingelte. Von seinem Penthouse aus hatte man einen traumhaften Blick auf den Erie-See. Sumner war ein mittelgroßer Mann mit einem Gesicht, dessen hängende Wangen an eine Dogge erinnerten. Er hatte die Hände tief in den Taschen seiner weiten Flanellhose vergraben. Am Gürtel trug er einen leichten 22er Revolver im Holster. Die Krawatte hing ihm wie ein Strick um den Hals. Er schwitzte. Es
klingelte noch einmal. Mit einer Bewegung, die ihn sichtliche Überwindung zu kosten schien, nahm er ab. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie nicht mehr anrufen sollen, Mister Anselmo… Ja, ich weiß! Ich werde sehen, was ich tun kann, aber ich bin nicht Jesus! Wunder vollbringen gehört nicht in mein Repertoire!“ Dann schwieg Sumner plötzlich. Der Kinnladen fiel ihm herab und sein Gesicht verlor den letzten Rest an Farbe.
22
Sumner residierte in einem der nobelsten Gebäude von Buffalo. Er nannte ein Traum-Penthouse sein eigen, dessen Anschaffungspreis so hoch war, dass ein einfacher FBI-Agent wohl kaum eine Chance gehabt hätte, die Summe zu Lebzeiten jemals abzuzahlen. Wir ließen uns mit dem Aufzug bis zu Penthouse tragen. Vor der Tür blickten wir in ein Kamera-Auge. Ich betätigte die Klingel. „Was wollen Sie?“, fragte eine etwas unwirsch klingende Stimme, nachdem ich es zum dritten Mal versucht hatte. „Jesse Trevellian, FBI. Mein Kollege Agent Tucker und ich haben ein paar Fragen an Sie, Mister Sumner.“ Einige Augenblicke knackte es nur im Lautsprecher. Dann sagte die Stimme: „Halten Sie Ihre Ausweise in die Kamera, damit ich sie sehen kann. Schließlich kann jeder behaupten, was er will.“ Ich hielt ihm also meine ID-Card in die Überwachungskamera. Er wollte auch noch Milos Dienstausweis sehen und so kam mein Kollege der Aufforderung
nach und hielt ihn ebenfalls so hin, dass er sich im Erfassungsbereich des Kameraauges befand. Dann glitt endlich die Tür automatisch zur Seite. Ich hatte gleich im ersten Moment den Eindruck, dass Sumner ziemlich mitgenommen aussah. Wie jemand, der gerade eine furchtbare Nachricht erhalten hatte, die ihn völlig aus der Fassung brachte. Vielleicht waren wir ja in seinen Augen die Schreckenboten… „Ich nehme an, dass Sie gerade einen Anruf erhalten haben“, sagte ich. Er hob die Augenbrauen. „So?“ „Von Mister Kyle, Ihrem Anwalt.“ „Nein, das stimmt nicht. Aber vielleicht sagen Sie mir zunächst, was Sie eigentlich von mir wollen.“ „In New York City wurde ein Frachter namens JAMAICA BAY von uns aufgebracht, um eine Ladung von Giftmüll sicherzustellen, die illegal entsorgt werden sollte“, erklärte ich. Unser Gegenüber verzog jedoch nur das Gesicht. „Ach, ja?“, fragte er mit einem ziemlich überheblichen Unterton. „Sagen Sie bloß, Mister Kyle hat Ihnen nicht abgeraten, mit uns zu sprechen?“, fragte Milo. „Erstens lassen Sie mir ja wohl ohnehin keine Wahl und zweitens habe ich mit Mister Kyle nicht gesprochen, ob Sie es nun glauben oder nicht.“ „Sie sollten sich gut überlegen, ob Sie nicht einen anderen Anwalt für sich tätig sein lassen“, erklärte ich. „Am Besten, Sie kümmern sich um Ihren eigenen Kram und lassen ehrlich arbeitende Geschäftsleute einfach in Ruhe ihren Job machen, G-man!“, knurrte Sumner ziemlich giftig.
Er drehte sich um und ging durch eine zweiflügelige Tür ins Wohnzimmer. Durch ein Handzeichen bedeutete er, dass wir ihm folgen sollten. Vom Wohnzimmer aus hatte man einen traumhaften Blick auf Buffalo und den ErieSee. Es war ein heller, klarer Tag und dann war es aus dieser Höher sogar möglich, bis zum kanadischen Ufer des Erie-Sees hinüberzublicken. Sumner deutete auf die klobigen Ledersessel. „Setzen Sie sich und dann verraten Sie mir mal, wieso ich mir einen anderen Anwalt nehmen sollte.“ „Vielleicht deswegen, weil Mister Kyle auch noch jemand anderen vertritt, mit dem sich Interessensgegensätze ergeben könnten.“ „So?“ „Ich spreche von Knowle Brannagan.“ „Am Besten, Sie sagen mir jetzt, was Sie von mir wollen und hören auf, mir die Zeit zu stehlen! Ich habe nämlich viel zu tun!“ „Sie und Brannagan hängen in einer Organisation drin, die mit der illegalen Entsorgung von Müll einen Haufen Geld verdient“, erwiderte ich. „Nur leider ist im New Yorker Hafen kürzlich ein Schiff namens JAMAICA BAY aufgebracht worden – und damit wurde das ganze Ausmaß dieser Machenschaften offenbar. Was glauben Sie, wie lange Ihr Geschäftspartner Mister Mondale noch sein Schweigen aufrecht erhält? Vielleicht ist er jetzt in diesen Moment gerade dabei, mit dem Staatsanwalt einen guten Deal abzuschließen, der es ihm erlaubt in ein paar Jahren wieder draußen zu sein, nur weil er Leute wie Sie ans Messer liefert.“ Schritte waren zu hören. Die Tür zu den Nachbarräumen hatte bis dahin halb offen gestanden. Jetzt öffnete sie sich vollends. Eine junge Frau stand dort. Sie trug einen kurzen Kimono. Das Haar fiel ihr lang über Schultern. Sie war blond. „Du hast Besuch, Darling“, fragte sie und stemmte einen Arm in die Hüfte. „Verschwinde, Janice!“, knurrte Sumner. „Das hier ist geschäftlich.“ Sie musterte uns kurz und knapp. Dann drehte sich um und schloss hinter sich die Tür.
Sumner wandte sich mir zu. Er fuhr seinen Zeigefinger aus wie ein Klappmesser und sein Gesicht war zur Maske erstarrt. „Entweder Sie sagen mir jetzt ganz schnell, was Sie von mir wollen, oder ich weise den Sicherheitsdienst des Hauses an, Sie vor die Tür zu setzen. Solange Sie keine Vorladung oder einen richterlichen Durchsuchungsbefehl haben, schützt Sir nämlich keine FBI-Marke davor!“ „Arbeiten Sie mit uns zusammen, Mister Sumner! Die Leute, für die Sie den Kopf hinhalten, sind es nicht wert! Die würden Sie doch auch nicht schützen! Reden Sie mit uns. Und dann ist da übrigens noch etwas.“ Ich zeigte ihm auf dem PDA ein Bild von Roxanne Brady. Es war eines der Tatortfotos und daher entsprechend hart. Auch wenn Sumner so tat, die Sache ließ ihn nicht kalt. Vielleicht war es doch für etwas gut gewesen, dass so viel darüber in den Zeitungen und anderen Medien breitgetreten worden war. „Was habe ich mit diesem Kerl zu tun, der Rothaarige umbringt?“, fragte er. „Ich habe davon in der Zeitung gelesen“, fügte er noch hinzu, um einer entsprechenden Nachfrage zuvor zu kommen. „Packen Sie jetzt aus, Sumner. Dann komme Sie günstig dabei weg. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann wir Ihre Organisation das Wasser abgraben!“ „Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß dabei, G-man!“ Er lachte heiser. „Und kommen Sie meinetwegen wieder, wenn Sie Beweise haben!“
23
Am frühen Abend fuhren wir noch einmal zu Mac’s Bar. „Hat es irgendeinen bestimmten Grund, dass du unbedingt noch einmal dort hin möchtest?“, fragte Milo. „Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dort etwas übersehen zu haben. Aber das kann auch nur Einbildung sein.“
„Naja, bevor wir uns bei Captain Josephson sehen lassen kann eine kleine Erholungspause vielleicht nicht schaden“, meinte Milo. Keiner von uns sprach es offen aus, aber wir traten auf der Stelle. Und zwar sowohl bei der Suche nach dem Red Hair Killer als auch was die Hintermänner der JAMAICA BAY-Affäre betraf. Es war wie so häufig im Kampf gegen das organisierte Verbrechen: Man wusste mehr, als sich gerichtlich verwerten ließ. Sumner war momentan noch nicht angreifbar. Auf der Fahrt zu Mac’s Bar rief Milo im Field Office an, um sich zu erkundigen, wie weit unserer Kollege Nat Norton mit der Analyse der Geldströme dieses Müll-Syndikates bereits war. Aber es wurde schnell klar, dass da so schnell keine Wunderdinge zu erwarten waren. Vor allem nicht schnell. Und was den Fall des Frauenmörders anbetraf, der es auf rothaarige Opfer abgesehen hatte, tappten wir noch immer völlig im Dunkeln. Ein Mann war verhaftet worden, der vielleicht Hilfe brauchte und wahrscheinlich auch um einen längeren Aufenthalt in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung nicht herumkam, den man aber als Täter wohl inzwischen mit ziemlich großer Sicherheit ausschließen konnte. Kurz nachdem Milo das Gespräch mit unserem Field Office beendet hatte, klingelte es. Am Apparat war das Buffalo Police Departement. Captain Josephson persönlich war am Apparat. „Was gibt es, Captain?“ „Die Analyse der Reifenspuren liegt vor, die auf Ihre Veranlassung hin gemacht wurden“, erklärte er. „Und?“, hakte ich nach. „Der Vergleich mit dem Profil mit dem Wagen von Roxanne Brady hat einen Volltreffer ergeben. Wo sind Sie jetzt?“
„Wir waren ohnehin auf dem Weg zu Macs Bar.“ „Dann treffen wir uns am besten dort und sehen uns hinterher an, wo genau der Wagen gestanden hat.“ „In Ordnung“, bestätigte ich.“
24
Wir waren natürlich vor Josephson in Mac’s Bar. Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen. Der Betrieb hatte gerade erst begonnen und es waren kaum Gäste im Raum. Ein junger Mann mit blonden, kurz geschorenen Haaren stand hinter dem Tresen. „Wo ist eigentlich Mister Anselmo?“, fragte ich. „Ich habe keine Ahnung.“ Ich legte meine ID-Card auf den Tisch. „Wir hätten noch die eine oder andere Frage an ihn.“ „Vielleicht kann ich ihnen weiterhelfen. An dem Abend, als diese rothaarige Frau hier in der Nähe ermordet wurde, war ich nämlich auch hier in der Bar, allerdings im hinteren Bereich.“ „Ach, so.“ „Ich habe gehört, der verrückte Larry ist inzwischen festgenommen worden. Gut so, der konnte einem wirklich den letzten Nerv rauben. Aber einfach vor die Tür setzen – das hätte unser Chef nicht mitgemacht. Mister MacConroy hat nämlich ein Herz für Leute, die etwas neben der Spur sind. Er sagt immer, dass er selbst mal ein armer Hund war, bevor er diese Bar erbte und aus ihr das Schmuckstück machte, das sie heute ist.“ „Der Mann, den wir festgenommen haben, ist vielleicht aber nicht der Red Hair
Killer. Auch deswegen hätte ich Mister Anselmo gerne noch mal gesprochen.“ Der Barkeeper beugte sich über den Tresen und fuhr in gedämpftem Tonfall fort: „Also, im Vertrauen, Sir… Roy Anselmo hat heute Morgen gekündigt.“ „Wo wohnt Mister Anselmo?“ „Eine Straße weiter in der Bellanova Street, Hausnummer 18, Apartment C 033.“ „Danke. Noch eine Frage: Sie sagten, Sie wären an dem Abend, als Roxanne Brady ermordet wurde, auch hier gewesen.“ „Sicher“, nickte der Barkeeper. „Anselmo ist anschließend noch auf die Straße gegangen, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist – richtig?“ „Ja, das stimmt.“ „Wie lange hat das gedauert?“ „Keine Minute.“ „Und danach?“ Der blonde Barkeeper runzelte die Stirn. Er schien nicht auf Anhieb zu begreifen, worauf ich hinaus wollte. „Wie meinen Sie das?“ „War Roy Anselmo danach die ganze Zeit hier im Schankraum? Oder ist er vielleicht mal nach hinten raus gegangen. – über den Lieferantenausgang und den Hinterhof, von wo aus man sehr schnell in der Straße ist, wo Roxannes Wagen stand.“ „Sie wollen doch wohl nicht sagen, dass Anselmo irgendetwas mit der Tat zu tun hat! Das kann…“ Er stockte. „Sagen Sie mir, was geschah“, forderte ich unmissverständlich. Der Blonde schluckte. „Er hat für den Abend Schluss gemacht.“
„Unmittelbar, nachdem er wieder hereingekommen war?“ „Genau. Er hatte noch Überstunden abzufeiern. In so fern war das in Ordnung. Auf der anderen Seite können die Mitarbeiter natürlich eigentlich nicht so einfach machen, was sie wollen, aber seid Mister MacConroy wegen seiner Fußverletzung nicht hinter allem her sein, kann…“ „Ich verstehe schon“, murmelte ich und wandte mich an meinen Kollegen. „Komm, Milo.“ „Ist das dein Ernst, Jesse?“ „Mein voller. Zumindest müssen wir die Möglichkeit, dass es Anselmo war ausschließen.“ Und an den blonden Barkeeper gewandt, fügte ich noch hinzu: „Falls ein gewisser Captain Josephson von der Homicide Squad hier auftauchen sollte, dann sagen Sie ihm doch bitte, er soll mich auf dem Handy anrufen.“ „Ja, Sir.“ Ich gab dem Barkeeper meine Karte. Dann wandte ich mich zum Gehen. „Komm, Milo, ich fürchte es gibt Arbeit!“ „Würdest du mir freundlicherweise mal verraten, welche Gedanken dir im Moment gerade durch den Kopf spuken?“ „Einen Moment. Die muss ich selbst gerade ein bisschen sortieren, Milo!“ Wir verließen Mac’s Bar und traten ins Freie. Ein kühler Wind fegte vom ErieSee zwischen den Häzeilen hindurch. Milo und ich gingen zu Roy Anselmos Adresse. Da es schwierig genug gewesen war, für den Sportwagen einen Parkplatz zu bekommen, gingen wir zu Fuß. Das Haus, das der blonde Barkeeper in Mac’s Bar uns angegeben hatte, war ein Mietshaus mit etwas heruntergekommener Brownstone-Fassade. Es hatte zehn Stockwerke. Überwachung durch einen Security Service oder Kameras gab es nicht. Ich suchte die Klingel mit Anselmos Namen, fand sie aber nirgends. Also klingelte ich bei jemand anderem. Um diese Zeit waren die meisten Leute bereits zu Hause, daher hatten wir Glück. „Ja, bitte?“, fragte eine Stimme, von der ich annahm, dass sie einem älteren
Mann gehörte. „Agent Trevellian, FBI, bitte machen Sie uns die Tür auf.“ „Woher soll ich wissen, dass Sie wirklich vom FBI sind und nicht zu den Trickbetrügern gehören, vor denen im Fernsehen gewarnt wurde?“ „Sie behindern gerade die Verfolgung eines Straftäters – und ich denke nicht, dass das wirklich in ihrem Sinn ist“, gab ich zurück. Einige Augenblicke lang hörte ich nichts mehr. Dann surrte es und die Tür öffnete sich. De Aufzug war defekt. Wir gingen über das Treppenhaus in den dritten Stock und hatten wenig später Roy Anselmos Apartmentnummer erreicht. Allerdings wies nichts mehr darauf hin, dass er hier wohnte oder gewohnt hatte. Ein Schild war vor kurzem abgenommen worden, wie man anhand von Umrissen und Schraubenlöchern sehen konnte. Ich betätigte die Klingel. „Mister Anselmo?“, fragte ich. Keine Antwort. „Mister Anselmo, hier spricht Jesse Trevellian, FBI!“ Erneut keine Reaktion. Milo und ich wechselten einen kurzen Blick. Die Tür bewegte sich ein Stück und bildete einen Spalt. Sie war offenbar nur angelehnt gewesen. Ich zog die Dienstwaffe und nahm den Griff in beide Hände. Dann stieß ich die Tür auf. Schon im nächsten Moment ließ ich den Lauf der Waffe wieder sinken. Es war niemand dort. Wir traten ein. Der Wohnungsschlüssel steckte von innen in der Tür. Das Apartment war offenbar möbliert zu vermieten gewesen. Aber nirgends befanden sich in den Schränken und Regalen noch persönliche Gegenstände. Milo stieß die Tür zur Küche auf, ich nahm mir das Bad vor. Überall bot sich das Bild einer Wohnung, deren Bewohner gerade ausgezogen war. Alles war gründlich gereinigt. Im Bad glänzten die Armaturen. Der Geruch eines Desinfektionsmittels hing in der Luft und erinnerte mich an die typischen Gerüche einer Klinik. Ich steckte die Waffe wieder ein.
„Ich fürchte, Mister Anselmo sehen wir so schnell nicht wieder, Jesse“, meldete sich Milo zu Wort. Ich nickte. „Das scheint mir auch so.“ „Aber ist das so wichtig?“ „Ja, das ist es, Milo! Immerhin hat seine Zeugenaussage dazu geführt, dass wir den Falschen verhaftet haben!“ „Moment mal – du denkst, dass Anselmo unser Mann sein könnte?“ „Das weiß ich nicht – aber ich weiß, dass mit ihm was nicht stimmt. Warum verschwindet er plötzlich so spurlos? Das sieht doch wie eine Flucht aus!“ „Das mag merkwürdig sein – aber es ist nicht einmal der Hauch eines Indizes, Jesse!“, gab Milo zu bedenken. Ein Geräusch ließ uns herumfahren. Die Tür hatte sich in der Zwischenzeit bis auf einen Spalt wieder geschlossen. Etwas stieß dumpf gegen das Holz. Wir drehten uns um und hoben instinktiv die Dienstwaffen. „Sind Sie da?“, rief eine heisere Stimme. Jetzt vergrößerte sich dieser Spalt knarrend wieder. Als die Tür sich weit genug geöffnet hatte, blickte uns ein hagerer alter Mann erschrocken an. Er trug Krücken und mit einer davon hatte er die Tür angestoßen. Jetzt verlor er vor Schreck fast das Gleichgewicht, weil er die Krücke nicht schnell genug wieder auf den Boden setzte. Mit geweiteten Augen starrte er in die Mündungen unserer Waffen, die wir natürlich sofort senkten. „Ich tu Ihnen nichts“, sagte er. Ich schätzte sein Alter bei achtzig plus x ein. An seiner etwas schleppenden Art zu sprechen erkannte ich sofort die Stimme aus der Sprechanlage wieder.
„Sie haben uns geöffnet, nicht wahr?“ „Ja, und ich bin mir noch immer nicht sicher, ob ich da nicht einen Fehler gemacht habe!“ Auf seiner Stirnmitte erschien eine ziemlich tiefe Furche. Sein Gesicht hatte eine ovale Form und war abgesehen von einem weißen Kranz so gut wie haarlos. Ich steckte die Dienstwaffe ein und holte meine ID-Card hervor. Dann trat ich auf ihn zu und hielt ihm das Dokument hin. „Sehen Sie sich das gut an. Ich bin wirklich vom FBI.“ Er blinzelte. „Wie soll unsereins denn diese Minischrift lesen können? Die drei Buchstaben FBI sind zwar erkennen, aber…“ „Tja, mehr kann ich nicht tun, um Ihnen zu beweisen, wer ich bin, Sir.“ „Sie können mir die Brille aus der Jackentasche nehmen und mir auf die Nase setzen. Wenn ich nämlich die Krücken loslasse, falle ich hin.“ Ich holte ihm also die Brille aus der Tasche und setzte sie ihm auf die Nase. Anschließend sah er sich meinen Ausweis noch mal an. „Sieht echt aus“, meinte er dann. „Und wenn ich ein Trickbetrüger wäre, hätte ich Ihnen jetzt sowieso schon alles wegnehmen können, was Sie in den Taschen haben“, sagte ich. Sein Blick streifte interessiert durch das Innere des Apartments. „Ich könnte mich ja mal auf das Sofa da vorne setzen!“, murmelte er und humpelte vorwärts. „Sie könnten Spuren vernichten“, sagte ich, aber es war schon zu spät. Er hatte sich auf dem Sofa niedergelassen. Er verlangte jetzt auch Milos Ausweis zusehen. Milo zeigte ihm die ID-Card und meinte dann: „Da Sie jetzt wissen, wer wir sind, wäre es eigentlich ganz höflich, wenn Sie sich auch mal vorstellen würden!“ „Cyrus Norman. Haben Sie das Schild nicht gelesen, auf das Sie gedrückt haben? Wahrscheinlich nicht. Sie wollten nur irgendeinen Idioten dazu bringen,
aufzustehen und einen Knopf zu drücken, damit sich unten die Tür öffnen lässt. Und das haben Sie dann ja auch geschafft! Wissen Sie eigentlich, was das für mich bedeutet hat? Ich bräuchte dringend ein neues Knie, aber ich habe leider keine Krankenversicherung, deswegen muss ich mit diesen Dingern hier herumlaufen.“ Er deutete auf seine Krücken, die er rechts und links neben sich an die Sofakante gelehnt hatte. Milo atmete tief durch. „Wir wussten ich, dass Sie schlecht zu Fuß sind, Mister Norman“, sagte er. „Das sage ich doch immer!“ erwiderte er und eine dunkle Röte überzog dabei sein Gesicht. „Genau das sage ich immer! Gedankenlosigkeit ist das Schlimmste! Ich muss mich mit meinen müden Knochen aus dem Sessel quälen, auf dem ich gerade eine Möglichkeit gefunden habe, bequem zu sitzen und Sie machen sich noch nicht einmal Gedanken darum! Oder nehmen Sie den Kerl, der hier wohnte, das war doch auch so einer, der sich über nichts Gedanken machte… Ich meine, wer schon in einer Bar arbeitet! Man kennt das doch! Nachtleben, schnelle Bekanntschaften… Wahrscheinlich Drogen…“ „Kannten Sie Mister Anselmo näher?“, fragte ich. „Er sah meinen Sohn ähnlich“, sagte Norman. „Also meinem zweiten Sohn von meiner ersten Frau. Mit meiner zweiten hatte ich keine Kinder. Sie starb im vergangenen Jahr. Wo meine erste Frau jetzt lebt, weiß ich nicht. Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit unsere Tochter geheiratet hat. Übrigens einen Schwarzen. Meine Frau war deswegen dagegen, aber ich habe ihr immer gesagt, wenn die beiden...“ Er redete einfach immer weiter und Milo warf mir einen hilflosen Blick zu, der nichts anderes zu sagen schien als: Wie bekommen wir den Mann hier wieder weg? Ich unterbrach schließlich höflich, aber bestimmt seinen Redefluss. „Mister Norman, wir haben noch einiges zu tun. Nachdem Sie nun hoffentlich überzeugt sind, dass wir rechtmäßig hier unsere Arbeit machen, wäre es vielleicht besser, wenn Sie zurück in Ihre Wohnung gehen. Ist Ihre Wohnung hier auf dem Flur?“
„Eine Tür weiter. Ich habe Sie reden hören und da dachte ich mir, ich schaue mal nach, was das los ist. Die Wände sind nämlich ziemlich hellhörig, müssen Sie wissen.“ Er kratzte sich am Kinn. „Was ist denn hier eigentlich iert?“ „Mister Norman…“ „Ich meine, wenn Sie Anselmo suchen, verstehe ich nicht, was Sie hier noch wollen!“ „Das lassen Sie mal unsere Sorge sein.“ „Ich habe ihn heute Morgen getroffen, als er das Haus verließ und seine Sachen nach draußen getragen hat. Viel war das nicht. Einen Umzug würde ich das nicht nennen, aber ich glaube, er ist ganz schön herumgekommen, wie er mir mal sagte. Deshalb hat er wohl nie viel Hausrat angehäuft.“ Ich sah ihn verwundert an. „Ich dachte, Sie sind so schlecht zu Fuß? Und dann laufen Sie im Flur herum?“ „Nur in diesem Stockwerk. Man muss doch etwas fit bleiben. Außerdem habe ich meinen Kumpel Artie erwartet, der zum Schachspielen vorbeischauen wollte und sich verspätet hat.“ Jetzt mischte sich Milo ein. „Sie haben gesagt, die Wand wäre sehr hellhörig. Haben Sie mal mitbekommen, was hier so vor sich ging?“ „Sie meinen, wenn er Besuch hatte?“, schloss Norman. Milo nickte. „Zum Beispiel.“ „Das war ein ziemlicher Casanova, würde ich sagen. Ich habe ihn nicht einmal mit derselben Frau angetroffen, auch wenn wer seinem Typ eigentlich immer treu geblieben ist.“ „Seinem Typ?“, echote ich. „Rote Haare. Ja, schauen Sie mich nicht so an, das ist mir schon aufgefallen. Alle Frauen, mit denen ich ihn gesehen habe, hatten rote Haare. Manchmal kürzer, manchmal länger, manchmal glatt, manchmal gelockt…“ Er beugte sich vor und sprach in einem leiseren, verschwörerisch klingenden Tonfall weiter.
„Ich wette, dass der Kerl eine ganz üble Masche hatte. Er hat die Frauen betrunken gemacht und dann hier hin abgeschleppt. Eine konnte nicht mal mehr richtig gehen. Er musste sie fast tragen…“ „Wann war das?“, hakte ich nach. „Ist noch nicht so lange her. Vor vier Wochen vielleicht…“ „Sie haben das mit eigenen Augen gesehen?“ „Ja, das war mitten in der Nacht! Vier Uhr, kann auch halb fünf gewesen sein. Ich meine, Anselmo hatte ja einen Job, bei dem er nachts arbeiten musste, aber wie ich schon sagte, das Haus ist sehr hellhörig. Das hat mich jedes Mal aus dem Schlaf gebracht. Und dieses eine Mal war der Krach besonders groß, weil er mit dem Schlüssel so im Schloss herumgestochert hat. Dabei muss man die Wohnungstüren etwas anziehen, damit sie geöffnet werden können. Das ist bei meiner auch so. Weil das für mich so schwierig ist, lege ich immer einen Keil dazwischen, wenn ich die Wohnung verlasse. Ich gehe ja auch nur ein paar Schritt auf dem Flur…“ „Kommen Sie zu Mister Anselmo zurück“, verlangte ich. „Tut mir leid, ich wollte nicht abschweifen. Mister Anselmo hatte nur eine Hand frei, weil ihm diese junge Frau so am Hals hing. Oder besser gesagt: über der Schulter. Er musste sie mehr oder weniger hineintragen. Ich habe ihn zur Rede gestellt. Er war ziemlich gereizt und hat gesagt, dass ich mir Ohrenstöpsel kaufen soll.“ „Haben Sie die Frau noch einmal gesehen?“, fragte Milo. „Da bin ich mir nicht sicher.“ „Wieso?“, fragte ich. „Entweder Sie haben Sie noch einmal gesehen oder nicht. Da gibt es doch eigentlich nichts dazwischen.“ Norman seufzte hörbar. „Ich habe doch sowieso nur ihre Haare gesehen, weil ihr Gesicht auf seiner Schulter lag oder wie auch immer man das nennen will. Einige Zeit später habe ich ihn mit einer jungen Frau mit ähnlicher Haarfarbe gesehen. Es könnte von den Proportionen her dieselbe gewesen sein – aber das weiß ich nicht.“
Immerhin hatten wir einen Zeugen dafür, dass Roy Anselmo ein ausgeprägtes Interesse an Rothaarigen hatte. Ohne es zu wissen hatte uns Norman damit ein weiteres Mosaikstein in einem Muster geliefert, das Anselmo als verdächtig erscheinen ließ. Es te anscheinend alles zusammen. „Haben Sie irgendetwas von dem mitbekommen, was hier drinnen gesprochen wurde?“ „Nein, viel geredet wurde da nicht. Und mich hat auch gewundert, wie leise der Kerl mit seinen Eroberungen beim Sex war. Bei den Nachbarn auf der anderen Seite meiner Wohnung hört man nämlich alles. Aber vielleicht ist ja bei Anselmo in dieser Hinsicht auch nicht mehr so viel gelaufen, weil die Damen schon zu betrunken waren… Hat Anselmo irgendetwas verbrochen?“ „Das wissen wir nicht“, wich ich aus. „So kann man sich doch in einem Menschen täuschen. Ich habe ihn für harmlos gehalten.“ In der Nachbarwohnung klingelte das Telefon. Der Beweis dafür, dass Normans Aussage von der Hellhörigkeit der Wände stimmte. Für den alten Mann war das das Signal aufzubrechen. Er humpelte aus der Wohnung hinaus und bot uns an, später noch einmal bei ihm vorbeizuschauen. „Am besten Sie beeilen sich jetzt erst einmal, dass Sie zum Telefon kommen!“, sagte Milo. „Ach, das ist um diese Zeit wahrscheinlich mein jüngster Sohn Brian. Der weiß, dass ich schlecht zu Fuß bin und lässt den Apparat entsprechend lange klingeln.“
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Mein Handy klingelte. Captain Josephson meldete sich aus Mac’s Bar. „Wo sind Sie, Agent Trevellian?“, fragte er.
„Nur ein paar Minuten entfernt!“ Ich gab ihm Anselmos Adresse durch. „Und sagen Sie dem Erkennungsdienst Bescheid“, fügte ich noch hinzu. „Hier ist zwar sehr gründlich saubergemacht worden, aber in der Regel finden die Kollegen trotzdem etwas.“ „Haben Sie eigentlich mal bedacht, dass Sie dafür einen richterlichen Befehl brauchen?“, fragte Josephson etwas ungehalten. „Sie sind immerhin in eine fremde Wohnung eingedrungen.“ „Die Tür stand offen. Mister Anselmo ist hier offensichtlich ausgezogen, das heißt der Vermieter hat wieder die Verfügungsgewalt über das Apartment“, entgegnete ich. „Und wenn ich den davon überzeuge, dass es dringend notwendig ist, hier eine erkennungsdienstliche Untersuchung durchzuführen, ist das rechtlich in Ordnung.“ Josephson unterbrach die Verbindung. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wer der Vermieter ist?“, fragte Milo. „Nein, aber das werden wir herausfinden, indem wir uns bei den anderen Bewohnern dieses Hauses erkundigen.“
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Roy Anselmo legte seine Reisetasche auf den Boden und setzte sich auf das Bett. „Es wird hier nicht geraucht“, hörte er die junge Frau sagen, die ihm das Zimmer geöffnet hatte. Sie hatte blondes Haar mit einem deutlichen Rotstich. „Schon in Ordnung“, murmelte Anselmo. „Sie haben für drei Nächte im Voraus bezahlt, aber wenn Sie für eine ganze Woche bezahlen, bekommen Sie Rabatt.“ „Ich weiß aber nicht, ob ich noch eine ganze Woche in der Stadt bleibe“,
erwiderte Anselmo. Er sah sie an und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Sie krampften sich so sehr zusammen, dass an den Knöcheln das Weiße hervortrat. Du musst es tun!, wisperte eine Stimme in seinem Innern. Jetzt. Sofort. „Nein!“, sagte er laut und die junge Frau runzelte die Stirn, weil sie nicht begriff, dass das etwa war, das er zu sich selbst sagte und nicht zu ihr. „Was meine Sie mit nein?“, fragte sie. „Sind Sie Raucher? Dann tut es mir leid. Unter diesen Umständen muss ich Sie bitten…“ „Ich bin kein Raucher“, sagte Anselmo. Er schwitzte. „Und jetzt lassen Sie mich bitte einen Augenblick allein.“ Sie sah ihn etwas verwundert an. Ihre Augenbrauen zogen sich in der Mitte zusammen. „Ist Ihnen nicht gut? Soll ich einen Arzt holen?“ „Nein, es ist alles in Ordnung. Ich möchte nur, dass Sie mich jetzt allein lassen.“ Die junge Frau verließ das Zimmer. Bilder erschienen vor seinem inneren Auge. Erinnerungen. Erinnerungen. Er war ein Kind. Und da saß diese große Frau mit den roten Haaren auf dem Sofa. Ihre Haare waren nicht wirklich rot. Sie färbte sie nur. Er hatte das schon mal gesehen, wie sie das machte. Aber sie konnte das nur, wenn sie nicht so viel getrunken hatte wie jetzt. Jetzt konnte sie nicht einmal aufstehen. “Du musst es tun!“, hörte er ihre Stimme. Diese Stimme, die ihn seit jener Zeit nie verlassen hatte und die immer diesen einen Satz sagte - manchmal so undeutlich, dass wohl niemand anders ihn verstanden hätte. „Nein!“, sagte Roy Anselmo laut in das Zimmer der heruntergekommenen Absteige hinein. „Nein!“ Aber die Stimme aus der Vergangenheit war unerbittlich. Du musst es tun! Sonst halte ich es nicht aus! Bitte! Er erinnerte sich daran, den Rest an Dollars aus ihrem Portemonnaie geholt zu haben und losgegangen zu sein. Der Laden an der nächsten Ecke gehörte einem Bekannten, der es gewohnt war, dass er für eine Mutter etwas zu trinken holte, auch wenn das eigentlich nicht erlaubt war. Dann ging er mit den Flaschen zurück und brachte sie ihr. Sie trank und lallte und trank noch mehr. Und
irgendwann war es dann Stille gewesen. Sie hatte sich nicht mehr bewegt und ihre Augen waren ganz starr gewesen. Er hatte nicht wegsehen können. Dieses Gesicht… Etwas war seitlich aus ihrem Mund herausgelaufen. Blut. Sie hatte so friedlich ausgesehen. Roy Anselmo blickte auf den Boden. Manchmal half das. Manchmal, wenn der Boden richtig war und Linien hatte. Dieser hatte Linien. Ein Muster. Anselmo erhob sich und folgte den Linien – so lange, bis er sie alle einmal betreten hatte. Dabei setzte er immer einen Fuß direkt vor den anderen. „Es ist alles in Ordnung“, murmelte er laut. „Alles…“ Ein Ritual. Er wusste, dass es nicht immer half.
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Nachdem die Kollegen des Erkennungsdienstes eintrafen, machten Milo und ich uns zusammen mit Josephson auf, um dem Barbesitzer MacConroy einen Besuch abzustatten. Wenn jemand etwas über Anselmo wusste, dann vielleicht er. Als wir an MacConroys Wohnungstür klingelten, öffnete uns mit einiger Verzögerung ein Mann von Ende vierzig, der auf Krücken lief. Er hatte den rechten Fuß in Gips. Wir zeigten ihm unsere Ausweise. „Kommen Sie herein, aber erwarten Sie keine Bewirtung oder so etwas. Ich kann Ihnen weder Kaffee ich sonst etwas anbieten und bin schon froh, dass ich es bis zur Tür geschafft habe.“
„Was ist iert?“, fragte ich. „Ich bin auf der Treppe ausgerutscht. Wie üblich war ich zu spät dran. Naja, ich verschone sie mit den Einzelheiten.“ „Roy Anselmo hat heute gekündigt“, stellte ich fest. MacConroy nickte. „Ja. Da war gleich ein Schock am Morgen. Mein bester Barmixer sagt einfach, dass er geht! Ach, was heißt mein bester! Der einzige, der sein Handwerk einigermaßen versteht und dessen Drinks sich ein bisschen von dem üblichen Einerlei abheben und auch gut schmecken, wenn sie extravagant aussehen. Irgendetwas zusammengießen kann nämlich jeder, verstehen sie?“ Er seufzte. „Schade um ihn, aber er wollte sich nicht davon abhalten lassen. Und das, obwohl ich ihm eine kräftige Gehaltserhöhung in Aussicht gestellt habe!“ „Haben Sie eine Ahnung, wo er hin ist?“ Er blickte auf. Seine recht buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. Dann schüttelte er energisch den Kopf. „Nein, Sir. Wirklich nicht. Bedauerlicherweise übrigens. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass es nicht so weit gekommen wäre, aber…“ Er sprach nicht weiter. Sein Blick wirkte nach innen gekehrt. „Er hat nichts hinterlassen?“, fragte ich. „Nein. Was sollte ich tun? Er ist ein erwachsener Mann. Ich kann ihn ja nicht fesseln oder so!“ MacConroy lachte heiser. „Haben Sie ihn nicht gefragt, wohin es ihn zieht?“, hakte ich noch mal nach. Ein mattes Lächeln flog über sein Gesicht. Dann verzogen sich seine Züge. Irgendetwas an seinem Fuß schien ihm jetzt Schmerzen zu bereiten. „Doch, das habe ich.“ „Und?“ „Er ist ausgewichen. Ich habe mich erkundigt, ob er in der Gegend bleibt und wer ihm so ein gutes Angebot gemacht hat, dass er plötzlich abspringt… Aber
dazu wollte er nichts sagen. War schon etwas merkwürdig, das Ganze. Er wirkte so bedrückt und auf eine seltsame Weise angespannt. So habe ich ihn ehrlich gesagt, noch nie erlebt. Warum fragen Sie das alles?“ „Erzählen Sie uns alles, was Sie über ihn wissen“, ergänzte Milo. „Alles, was Ihnen einfällt, auch Dinge, von denen Sie vielleicht nicht denken, dass sie wichtig sein könnten…“ MacConroy hob die Augenbrauen. „Der Mann hat auf jeden Fall eine bunte berufliche Vergangenheit und ist wohl ganz schön herumgekommen.“ „Hat er erzählt, wo er schon überall gelebt hat?“ „Des Moines in Ohio, Erie in Pennsylvania… Wir hatten mal Gäste aus Europa, denen er den Weg zu den Niagarafällen auf Französisch beschrieben hat. Aber ich glaube, er hatte nicht einmal einen College-Abschluss. Jedenfalls hat er das mal erwähnt.“ „Er konnte Französisch?“, echote Milo. „In Kanada spricht man Französisch“, stellte ich fest. „Sie haben nicht zufällig ein Bild von ihm?“ „Nein, er wollte nie fotografiert werden. Selbst für den Gastronomieführer des Staates New York nicht!“, berichtete MacConroy. Ich nickte. „Langsam verstehe ich auch, weshalb“, murmelte ich. „Besaß er ein Handy?“ „Allerdings. Ich habe die Nummer. Soll ich Sie Ihnen aufschreiben?“ „Unbedingt.“
28
Roy Anselmo nahm das Handy ans Ohr. „Mister Norinsky? Hier spricht
Anselmo.“ „Woher haben Sie diese Nummer?“ „Ein gemeinsamer Bekannter hat sie mir gegeben und sie sollten ihm deswegen nicht böse sein. Er hatte gute Gründe dafür. Er heißt Gregory Sumner und ich nehme an, dass er meine Kontaktaufnahme bereits angekündigt hat.“ Anselmo stand von seinem Bett auf. Er ging ans Fenster. Es hatte zu nieseln begonnen. Neben einer Straßenlaterne sah Anselmo eine junge Frau. Zuerst nur den Körper von den Zehen bis zu den Schultern. Der Rest wurde durch einen Regenschirm verdeckt. Dann drehte sie sich zur Seite. Es war die Rothaarige. Sie rauchte. Sieh an, dachte Anselmo. Du hättest dir eben kein Nichtraucherhotel suchen sollen, um deinem Job nachzugehen… Aber vielleicht konntest du es dir ja auch nicht aussuchen. Wer kann das schon… „Sind Sie noch dran, Mister Norinsky?“, fragte Anselmo. „Was wollen Sie?“ „Da wissen Sie doch. Sumner wird es Ihnen gesagt haben.“ Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen auf der anderen Seite der Leitung. Anselmo hörte nur das Atmen seines Gegenübers. „Wenn Sie glauben, dass Sie Forderungen stellen können…“ „Ich weiß alles über Sie, Mister Norinsky. Über die Fässer mit Säure, von denen man ein paar auf der JAMAICA BAY in New York gefunden hat und von denen noch so viele an mehreren Stellen in Buffalo und Umgebung deponiert sind. Ich gebe zu, dass ich diese Fässer für einen Zweck benutzt habe, der vielleicht nicht ganz gesetzeskonform ist. Seit sieben Jahren sammle ich Informationen über sie und den Müll, den Sie möglichst preiswert loszuwerden versuchen. Es hat sich einfach so ergeben und ich denke, wir haben beide dasselbe Interesse.“ „So?“ „Dass vom Inhalt dieser Fässer nie wieder etwas auftaucht. Mögen sie in der Versenkung verschwinden.“
„Sie haben eine seltsame Art, sich auszudrücken.“ „Es wird Sie freuen, dass ich dasselbe will – in der Versenkung verschwinden. Ich weiß, dass Sie die Möglichkeit haben, mir eine neue, perfekte Identität zu verschaffen. Strengen Sie sich an. Sie haben gar keine andere Wahl, als mir zu helfen.“ Eine quälend lange Pause folgte. „Wir werden uns treffen müssen“, sagte Norinsky. Ein mattes, kaltes Lächeln spielte um Anselmos Lippen. „Nichts dagegen, Mister Norinsky!“
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Wir verließen MacConroy. Josephson war ziemlich schweigsam. Aber er war nicht der Einzige, der mit dieser Wendung ebenfalls nicht gerechnet hatte. „Unser Mann ist gebürtiger Kanadier“, stellte ich fest. „Und da er sich scheinbar nicht traut, über die Grenze zu gehen, müsste man ihn in den dort geführten Dateien über Kriminelle finden.“ „Ich werde mal gleich mit Mr McKee deswegen telefonieren“, sagte Milo. „Das wird wohl auf höherer Ebene geklärt werden müssen.“ Milo hatte sein Handy noch nicht am Ohr, das klingelte der Apparat von Josephson. Der Captain der Homicide Squad sagte zweimal kurz hintereinander „Ja!“ und einmal „In Ordnung.“ Nachdem er dann noch einmal „Ist das sicher?“ gefragt hatte, beendete er die Verbindung. „Das waren die Kollegen vom Erkennungsdienst, die gerade Anselmos Apartment untersuchen.“ „Wir sollten uns an diesen Namen nicht allzu sehr gewöhnen“, sagte ich. „Er ist mit Sicherheit falsch.“
„Die Kollegen haben Reste von Blut gefunden. Da muss etwas bis zur Decke gespritzt sein. Und selbst dort, wo Anselmo sorgfältig sauber gemacht hat, lassen sich noch mit Luminol Reste nachweisen.“ „Ich denke, das reicht für einen Haftbefehl, oder?“, fragte ich. Josephson nickte. „Ganz sicher!“ Wir kehrten zum Headquarter des Police Department zurück. Mit Hilfe der Handynummer, die uns MacConroy gegeben hatte, versuchten die dortigen Innendienst-Kollegen, den Aufenthaltsort zu bestimmen. Aber das Gerät war offensichtlich nicht eingeschaltet. Und so lange das nicht der Fall war, liefen unsere diesbezüglichen Bemühungen zwangsläufig ins Leere. Ein Anruf des Field Office New York erreichte mich. Eigentlich hatte ich gehofft, dass es bereits grünes Licht für den Datenaustausch mit den kanadischen Behörden gab, aber unser Kollege Max Carter rief wegen einer anderen Sache an. Offenbar hatten die Ermittlungen unserer Spezialisten für Betriebswirtschaft Erfolg gehabt. Nat Norton war es gelungen, die Geldströme zumindest ein Stückweit zurückzuverfolgen, die von Brian Mondales Konten ausgingen, über verschlungene Pfade nach Liechtenstein via Cayman Islands führten, um schließlich irgendwann ihr Ziel in Nordamerika oder auf einem Schweizer Nummernkonto zu finden. Ein Name tauchte dabei immer wieder auf. So oft, dass es kein Zufall sein konnte. „Brad Norinsky“, sagte Max Carter. „Über ein paar Umwege ist er genau an denselben Briefkastenfirmen beteiligt wie Mondale und dieser Gregory Sumner – auch wenn da immer irgendeine windige Limited nach britischem Recht dazwischen geschaltet ist, um die Wirtschaftskonzerne zu verschleiern.“ „Was wissen wir über diesen Norinsky?“, fragte ich. „Jemand, den wir schon seit langem mit Geldwäschegeschäfte in Verbindung bringen, ohne es ihm beweisen zu können. Außerdem soll er die Prostitution im südlichen Ontario unter Kontrolle haben. Der Mann nimmt die
nordamerikanische Freihandelszone NAFTA wirklich ernst! Dass er allerdings auch im Müll-Geschäft dick drinsteckt, ist uns neu.“ „Das ist also der Mann hinter Sumner!“, murmelte ich. „Allerdings wird es schwierig, ihm etwas zu beweisen. Leute, die in der Vergangenheit gegen ihn aussagen wollten, sind kurzerhand umgebracht worden.“ „Was ist mit Kanada?“ „Ein bisschen Geduld noch, Jesse. Mr McKee telefoniert schon seit einer halben Stunde mit Toronto.“
30
Ein neues Leben!, dachte er. Zumindest ein neuer Abschnitt… Er lächelte. Ich habe alle Trümpfe in meiner Hand!, ging es ihm durch den Kopf. Norinsky hatte gar keine andere Wahl, als das Spiel mitzuspielen – ob es ihm nun te oder nicht. Anselmo ging die Treppe hinunter. Die Stufen knarrten. Das Hotel, in dem er sich eingemietet hatte, hatte seine besten Tage lange hinter sich. Das Gebäude stammte aus den Dreißigern – aber seit mindestens zwanzig Jahren war keine Renovierung mehr durchgeführt worden. Für Anselmo war es genau richtig. Hier war man froh über jeden Gast. Niemand stellte Fragen und es wurde auch niemand misstrauisch, wenn man nicht mit Kreditkarte sondern bar bezahlte. Anselmo besaß zwar eine Kreditkarte, aber er hielt es für klüger, sie im Moment nicht zu benutzen. Er musste vorsichtig sein. Verdammt vorsichtig. Wenn er in den vergangenen gut zwanzig Jahren etwas gelernt hatte dann das.
Wer rechtzeitig untertauchte erhöhte seine Chancen davonzukommen. Und bis jetzt war er davongekommen. Roy Anselmo erreichte das Foyer. Hinter dem Tresen stand die rothaarige Frau. Sie war damit beschäftigt, Unterlagen zusammenzuheften. Wahrscheinlich Quittungen. Zunächst war sie so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie Anselmo gar nicht bemerkte. Anselmo näherte sich und blieb dann stehen. Die Junge Frau blickte auf und zuckte zusammen. „Meine Güte, Sie haben ich mal erschreckt…“ „Tut mir leid.“ „Sie stehen da und starren mich an!“ „Ich sagte doch, es tut mir leid.“ Sie ist allein!, dachte er. Die Gelegenheit war günstig. Aber es gab jetzt etwas anderes, das Vorrang hatte. Später!, dachte er. Du musst abwarten… Ihr Gesicht veränderte sich. Sie zog die Augenbrauen zusammen und sah ihn auf eine Weise an, die ihm nicht gefiel. So als wäre etwas mit ihm nicht in Ordnung. Roy Anselmo legte den Zimmerschlüssel auf den Tresen. „Es ist rund um die Uhr jemand hier“, sagte die junge Frau. „Haben Sie heute die Nachtschicht?“ „Ja.“ „Ein harter Job, was?“ „Ich bin froh, dass ich die Stelle hab.“ „Ja, aber es muss trotzdem seltsam sein.“
„Wovon sprechen Sie bitte?“ „Ich meine, dass Sie nach draußen gehen müssen, um eine Zigarette zu rauchen.“ „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.“ Anselmos Gesicht wurde zu einer Maske. „Nichts für ungut“, sagte er und in seiner Vorstellung sah er für einen Moment seine Mutter vor sich. Sah das Blut. Die starren Augen. Du musst es tun! Dieser Satz hämmerte immer wieder in seinem Kopf. Seine Hand glitt in die Seitentasche des Jacketts. Dort trug er den Elektro-Schocker. Seine Hand ertastete die Waffe, umklammerte den Griff und aktivierte das Gerät. Norinsky erwartet dich. Du darfst nicht zu spät zum Treffpunkt kommen!, meldete sich eine Stimme in seinem Hinterkopf. Wie aus weiter Ferne erschien ihm dieser Ruf. Er blickte zu Boden. Das Foyer war mit Parkett ausgelegt, das verblasst und abgeschabt war. Aber die Linien waren deutlich zu sehen. Anselmo konnte den Blick nicht von ihnen lassen. Er drehte sich fast wie mechanisch um und folgte den Linien, bis er in der Mitte des Foyers befand. Dann fand er eine Linie, die zur Tür führte, ging mit gesenktem Kopf auf sie zu und anschließend ins Freie, ohne noch ein Wort zu sagen.
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Anselmo stoppte den Wagen auf einer Asphaltfläche, die zu einer Industriebrache zwischen Seaway Trail und dem Erie-See gehörte. Lagerhallen und Hafenanlage rosteten hier vor sich hin. Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen. Ein fahler Vollmond stand hoch über dem Lake Erie, auf dem sich eine Dunstschicht aufbaute, die langsam, auf die Küste zu kroch.
Anselmo schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Ihn fröstelte. Er stieg aus, sah sich um. Seine Rechte überprüfte den Sitz der Pistole, die er bei sich trug. Außerdem war er mit einem Elektro-Schocker ausgerüstet. Sicher war sicher. Leuten wie Norinsky traute er nicht über den Weg. Sollte dieser Kerl ihn vielleicht nicht ernst nehmen? Eigentlich hatte Anselmo erwartet, dass Norinsky pünktlich war. Ich sollte ihm etwas Feuer unter dem Hintern machen!, dachte Anselmo. Er griff zum Handy, aktivierte es und drückte auf die Kurzwahltaste, unter der er die Nummer von Norinskys Prepaid-Handy gespeichert hatte. Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar, sagte eine ziemlich kühl klingende weibliche Stimme. Anselmo schaltete das Gerät wieder aus und steckte es ein. Na warte!, dachte er! Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du dich tot stellst! In diesem Moment ließen ihn die Motorengeräusche mehrerer Fahrzeuge herumfahren. Zwei Limousinen, eine davon im Stretch-Format. Dazu noch ein Van. Die Türen des Van öffneten sich. Mehrere Männer mit Maschinenpistolen im Anschlag sprangen heraus und richteten ihre Waffen auf Anselmo. Als die Leibwächter die Lage als unbedenklich eingestuft hatten, wurden die Türen der Limousinen geöffnet. Anselmo bemerkte Sumner. Aber die beherrschende Gestalt, auf die die Augen aller gerichtet waren, glich einer Kugel. Brad Norinsky war Ende vierzig und kaum ein Meter siebzig groß – allerdings wirkte er fast genauso breit. Er wog schätzungsweise hundertzwanzig Kilo. Dass sein Anzug trotzdem perfekt saß, lag daran, dass er ausschließlich Maßanfertigungen trug. Anselmo verzog das Gesicht. „Oh, großes Aufgebot! Welche Ehre!“
„Wir haben einiges zu besprechen“, sagte Norinsky. Anselmo grinste. „Ja, das denke ich auch!“ Norinsky machte ein Zeichen. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er eine Bewegung wahr. Etwas schoss durch die Luft. Einer der Männer aus Norinskys Gefolge hatte einen Taser abgeschossen. Die Pfeile mit den Elektroden trafen Anselmo im Rücken. Er wollte nach seiner eigenen Waffe greifen, aber der Stromschlag ließ ihn zusammenkrampfen, dass er im nächsten Moment vollkommen bewegungsunfähig war. Roy Anselmo brach zusammen und blieb auf dem feuchten Asphalt liegen. Norinsky trat an ihn heran. Mit der Fußspitze drehte er den hilflosen Anselmo herum. „Niemand tanzt mir auf der Nase herum!“, zischte der korpulente Mann. „Und schon gar nicht so ein Stück Dreck wie du!“ Anselmo war unfähig, etwas zu erwidern. Er stöhnte nur auf. Norinsky machte eine ausholende Handbewegung. „Bringt ihn in die Lagerhalle. Und dann werden wir uns mal eingehend darüber mit ihm unterhalten, was er wirklich weiß…“ Der große Boss verzog das Gesicht zu einer grausamen Maske. „Deine Schreie wird hier draußen niemand hören, du Narr!“ Dann kicherte er in sich hinein.
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Roy Anselmo fand sich tatsächlich in den Kriminaldateien der Kollegen aus Quebec. Es gab mehrere Haftbefehle gegen ihn, einer davon wegen Totschlag. Dazu kamen noch ein paar kleinere Vergehen, darunter Körperverletzung und Nötigung. Unter anderem hatte er eine junge Frau ziemlich übel zugerichtet. Leider war aus den Unterlagen nicht ersichtlich, ob diese Frau rote Haare hatte.
Roy Anselmo war als Jean Marquanteur in Quebec geboren worden. Nachdem frühen Alkohol-Tod seiner Mutter war er in einem Heim gelandet und bald wegen psychischer Auffälligkeiten und einem Hang zur Gewalttätigkeit in Erscheinung getreten. Um der Strafverfolgung zu entgehen war der Mann, den wir bisher als Roy Anselmo kannten, untergetaucht. Man hatte in Kanada nie wieder etwas von Jean Marquanteur gehört. Das musste wohl die Geburtsstunde einer anderen Identität gewesen sein. Er wurde in die Fahndung eingegeben. „Der Mann hat es gelernt, sofort zu verschwinden, wenn der Verfolgungsdruck zu groß wird“, analysierte Dr. Franklin Martin. „Ich nehme an, dass er sich nicht zum ersten Mal eine neue Identität zulegt.“ „Aber diesmal werden wir dafür sorgen, dass es schwieriger für ihn wird“, kündigte Captain Josephson an. „Wir werden Fotos an die Medien geben.“ „Die Fahndungsfotos der Kollegen aus Kanada sind allerdings deutlich veraltet“, stellte Milo fest. „Darauf wird ihn niemand wieder erkennen.“ „Man müsste ihn künstlich altern lassen“, stellte ich fest. „Kein Problem“, erklärte Josephson. Er grinste. „Wir haben hier vielleicht nicht eine ganz so perfekte Ausstattung, wie Sie es vom FBI her gewohnt sind, aber so etwas können wir auch.“ Ein Pizza-Service brachte für uns alle etwas zu essen. Es war klar, dass unser Einsatz noch etwas länger dauern konnte und wir eine lange Nacht vor uns hatten. Wenn wir es nicht schafften, Anselmo alias Marquanteur einigermaßen schnell zu fassen, bestand die Gefahr, dass wir ihn völlig verloren. Er hatte schließlich ausreichend Erfahrung darin, sich unsichtbar zu machen. Der Kaffee im Headquarter war stark genug, schmeckte aber etwas bitter. Immerhin sorgte er dafür, die Müdigkeit zu vertreiben. Ich kaute auf einem Stück Pizza herum und machte mir Gedanken darüber, welches Netz man auslegen konnte, um diesen Täter in die Falle laufen zu lassen. Milo schien meine Gedanken zu erraten.
„Er ist uns einfach einen Schritt voraus gewesen“, meinte er. Dann meldete sich plötzlich eine Kollegin aus dem Innendienst zu Wort. „Anselmo hat sein Handy für etwa eine halbe Minute aktiviert“, meldete sie. „Jetzt ist das Signal wieder weg.“ „Reicht das, um seinen Aufenthaltsort zu bestimmen?“, fragte ich. „Es reicht“, nickte die Kollegin. „Anselmo – oder vielleicht auch nur sein Handy – hält sich inmitten der Hafenruine am Lake Erie auf!“ Ich wandte mich an Josephson. „Mobilisieren Sie alles, was im Moment noch im Dienst ist, Captain!“ „Das werfe ich!“, versprach er. Ich ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. „Dies ist vielleicht unsere letzte Chance, den Kerl noch zu fassen“, murmelte ich.
33
Im Gefolge von einem Dutzend Einsatzwagen des Buffalo Police Department erreichten wir die Industrieruine am Hafen. Captain Josephson hatte die Einsatzleitung. Vom See her näherten sich zwei Helikopter, die mit großen Scheinwerferkegeln das Gelände absuchten. Wir stellten unseren Sportwagen ab und stiegen aus. Dann legten wir unsere Kevlar-Westen an, die bei einem Einsatz wie diesem unerlässlich waren. Schon peitschten Schüsse in der Dunkelheit. Überall kreisten Scheinwerfer. Zusammen mit den Einsatzkräften der Polizei arbeiteten wir uns voran. Etwa hundert Meter von uns entfernt befanden sich mehrere Fahrzeuge, die offenbar von einem halben Dutzend Personen bewacht wurden. MPis knatterten los und Mündungsfeuer blitzten auf.
Aufgeregte Stimmen gellten durch die Nacht. Eine Megafonstimme ertönte und forderte die Bewaffneten auf, sich zu ergeben. Im nächsten Moment heulte der Motor eines Van auf, dessen Insassen offenbar einen Durchbruch versuchten. Der Wagen fuhr mit einer halsbrecherischen Geschwindigkeit auf die Einsatzkräfte zu. Schüsse in die Vorderreifen ließen den Van zur Seite ausbrechen. Nachdem das Gummi innerhalb von Augenblicken verbrannte, kratzten die bloßen Felgen funkensprühend über den Asphalt. Josephson und seine Leute kreisten den Van ein. Die Insassen ergaben sich. Handschellen klickten. Den Verhafteten wurden die Rechte vorgelesen. Inzwischen gaben auch die Männer in der Nähe der anderen Fahrzeuge auf. Die Übermacht der Polizei war einfach zu überwältigend. „Wo ist Roy Anselmo?“, fragte ich. „Wir haben sein Handy geortet und wissen, dass er hier war!“ Milo deutete auf einen Ford, der gegenüber den Limousinen und dem Van doch erheblich abfiel. „Das dürfte sein Wagen sein!“ Ein Kennzeichenvergleich ergab tatsächlich, dass es sich um ein Fahrzeug handelte, das auf den Namen Roy Anselmo zugelassen war. Wenig später fand Milo das Handy auf dem Boden. Es war zertrümmert worden. Ich wandte mich an einige der Gefangenen. „Wo ist der Mann, dem dieser Wagen gehört? Wenn Sie selbst juristisch mit einem blauen Auge davonkommen wollen, dann sollten Sie jetzt kooperieren.“ Schweigen schlug uns zunächst entgegen. Dann gab sich einer der Festgenommenen einen Ruck. „Sehen Sie in der Halle
da vorne nach!“, murmelte er. Wir verloren keine Zeit, sondern arbeiteten uns weiter voran. Zusammen mit den Beamten des Buffalo Police Department näherten wir uns der Halle. Unmenschliche Schreie waren von dort zu hören. Gewaltsam öffneten wir die Tür. Mit der Dienstwaffe in der Hand stürmten wir hinein. Die Lichtkegel unsere Taschenlampen schwenkten herum. Aber es war niemand zu sehen. Ein stechender Geruch hing in der Luft und etwa hundert halbverrostete Fässer standen dort. Erneut war ein dumpfer Schrei zu hören. „Vielleicht gibt es hier noch eine Keller!“, vermutete Milo. Die Einsatzkräfte der Polizei schwärmten aus. Wenig später hatte jemand den Kellerzugang gefunden. Vorsichtig gingen wir die schmale Treppe hinab. Es roch feucht und modrig. Wir folgten einem schmalen Gang. Mehr als das, was die Lichtkegel unserer Taschenlampen erfassten, konnten wir nicht sehen. Die Schreie wurden lauter. Vermutlich hatte sich unten mal eine Heizungsanlage befunden, aber es war alles entfernt und ausgeschlachtet worden, bevor man diese Lagerhalle dem langsamen Verfall preisgegeben hatte. Wir erreichten eine Metalltür. Milo riss sie auf. Ich stürmte hinein, in der Rechten die Dienstwaffe, in der Linken die Taschenlampe. Der Raum, der sich uns offenbarte, war kaum zwanzig Quadratmeter groß. Es gab nur einen einzigen Zugang, was allen, die sich im Moment hier befanden eine Flucht völlig unmöglich machte. Anselmo lag auf dem Boden. Er war gefesselt und seine Augen vor Entsetzen geweitet. Die Männer, die um ihn herum standen hatten ihn offenbar mit einem Elektro-Schocker zugesetzt. Wie sich später herausstellte handelte es sich dabei um Anselmos eigenes Gerät. „Die Hände hoch und keine Bewegung“, sagte ich. Niemand sagte ein Wort.
Die Blicke gingen zu dem übergewichtigen Mann hin, dessen Identität sich wenige Augenblicke später herausstellen sollte, als wir seine Sachen durchsuchten und Papiere sicherstellten. „Brad Norinsky!“, sagte ich, als die Handschellen bereits klickten. „Wer hätte das gedacht…“ „Kennen wir uns vielleicht?“, knurrte Norinsky. „Nicht unmittelbar“, erwiderte ich kühl. „Aber das macht nichts.“
34
Die Verhafteten wurden abgeführt. Roy Anselmo alias Jean Marquanteur wurde zunächst einmal in eine Klinik gebracht. Eine Gefängnisklinik allerdings. Wie sein Fall zu bewerten war und wie weit er als schuldfähig gelten konnte, das mussten die Gerichte entscheiden. Jedenfalls war seine grausige Mordserie gestoppt. In den nächsten Tagen folgten Durchsuchungen von Norinskys Anwesen sowie einer Reihe von gewerblichen Immobilien, die er unter dem Namen von Strohmännern erworben hatte, um dort Giftmüll zu lagern. Und nachdem nach und nach seine Untergebenen ihr Schweigen brachen, wurde mehr und mehr das ganze Ausmaß seiner Geschäfte offenbar. Die JAMAICA BAY sollte nicht das einzige Schiff bleiben, das mit hochgefährlichem Giftmüll auf eine ungewisse Reise geschickt werden sollte. Norinsky fühlte sich zunächst ziemlich sicher, weil es nur wenige Zeugen gab, die in der Lage waren, ihn direkt zu belasten. Die Rolle des Mannes im Hintergrund, einer grauen Eminenz der Müll-Mafia, hatte er perfekt gespielt. Und dazu auf eine Weise, die sein eigenes Risiko nahezu minimiert hatte. Aber einen Zeugen gab es, der sehr genau über Norinsky Bescheid wusste. Roy Anselmo alias Jean Marquanteur.
Die traurigen Einzelheiten seiner Lebensgeschichte kamen schließlich ebenso ans Licht wie die beispiellose Grausamkeit, mit der er vorgegangen war, um seine Opfer ins Jenseits zu befördern. Wir verließen Buffalo schon nach ein paar Tagen, sodass wir das juristische Gezerre nur noch am Rande und aus den Medien mitbekamen. ENDE