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VORTRAGSREIHE DER NIEDERSÄCHSISCHEN LANDESREGIERUNG ZUR FÖRDERUNG DER W I S S E N S C H A F T L I C H E N F O R S C H U N G IN N I E D E R S A C H S E N herausgegeben im Auftrage des Niedersächsischen Ministerpräsidenten H E F T 36
ANDRE R O B I N E T
L E I B N I Z UND WIR
VANDENHOECK
& R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N
2 tt W ft '-^Vortragsreihe der Niedersächsischen Landesregierung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Niedersachsen, herausgegeben im Auftrage des Niedersächsischen Ministerpräsidenten •
H E F T 36
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Leibniz und wir
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VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
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© Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1967 — Printed in — Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. — Gesamtherstellung: Erich Goltzc KG, Göttingen 8638
L E I B N I Z U N D WIR Von Prof. Andre Robinet, CNRS, Paris Vortrag, gehalten auf der Vortragsveranstaltung der Niedersachsischen Landesregierung am 17. November 1966
Wenn ich Ihnen heute vorschlage, über das Thema „Leibniz und wir" nachzudenken, dann muß ich mich zuerst entschuldigen, daß in dem „wir" mehr oder weniger viel „ich" enthalten ist. Ich möchte aber aus dem „wir" nicht einfach ein „man" machen, noch eine der hervorragendsten Persönlichkeiten der Geistesgeschichte auf allzu unpersönliche Weise behandeln. Und wenn ich sage, der Geistesgeschichte, dann meine ich damit unserer Geschichte, der Geistesgeschichte des Abendlandes im weitesten Sinne. Ich bin überzeugt, daß uns Leibniz von allen Philosophen des XVII. Jahrhunderts am nächsten steht. Jede Epoche, jede Generation hat ihre Wahlverwandten. Wir haben eine Geistesverwandtschaft mit Descartes empfunden, mit Kant, Hegel oder Marx. Heute nähert sich uns Leibniz. Er nähert sich uns, weil wir uns ihm nähern. Dennoch ist der Zugang zu ihm noch keineswegs leicht. Die Weite seiner Gedankenwelt, die Vielfalt der Sondergebiete, mit denen er sich beschäftigte, die Tiefe seines Geistes waren stets ein Hindernis zwischen uns und einem Genie dieser Größenordnung und werden es auch stets sein. Ich verzichte darauf, all die Entdeckungen anzuführen, deren direkter oder indirekter Urheber er war, und ich möchte auch nicht all die Entwürfe aufzählen, die wir erst heute verwirklichen. Um dies zu tun, müßte ich die Enzyklopädie des Wissens durchgehen. Fontenelle bemerkte in der Lobrede, die er ihm zu Ehren in der Akademie der Wissenschaften in Paris hielt, Leibniz gleiche 3
den antiken Wagenlenkern, die die Kunst beherrschten, ein Gespann bis zu acht Rossen Kopf an Kopf zu lenken. Welch seltsamer Zufall: ein Kollege aus dem Kreis der hannoverschen Geschichtswissenschaftler sagte in einem Vortrag während der Leibniztage im Centre de Synthese in Paris: „Nicht weniger als ein Team von acht namhaften Historikern war — wenn auch unter anderen Voraussetzungen — tätig, die Jahrbücher der Deutschen Geschichte für einen Zeitraum zu bearbeiten, den 150 Jahre vorher noch ein einzelner bewältigt hatte." Wir beginnen erst, dieses Gespann kennenzulernen. Obgleich zahlreiche Ausgaben dazu beigetragen haben, seine Werke bekanntzumachen, warten wir immer noch auf die Vollendung der Monumentalausgabe, die seiner würdig ist. Das Werk, vor 50 Jahren begonnen, ist noch nicht über seine Anfänge hinausgekommen. Von manchen Reihen, in die diese Edition aufgeteilt ist, ist noch nichts erschienen. Nach denjenigen zu urteilen, die zügig fortschreiten, bleibt uns nur zu wünschen, daß dieser Kongreß, die Leibniz-Gesellschaft, die gerade gegründet worden ist, und das Interesse, das Sie alle Leibniz entgegenbringen, die Vollendung dieses Werkes beschleunigen mögen. Seit 50 Jahren besitzen wir die gesammelten Werke von Descartes und Spinoza in verschiedenen prachtvollen Ausgaben. Wir haben jetzt auch die gesammelten Werke Malebranches vorliegen: von den vier „Großen" des XVII. Jahrhunderts ist Leibniz, was die wissenschaftlich vollgültigen Ausgaben anbetrifft, noch der kleinste. Mit Genugtuung begrüße ich alle hartnäckigen Bestrebungen, die hinsichtlich der Herausgabe der 70 vorgesehenen Bände heute unternommen werden. Und vor allem begrüße ich die ausgezeichnete „Leibniz-Bibliographie",die soeben erschienen ist, als hervorragendes Zeugnis des „steten Fortschritts". Die Ursache der editorischen Schwierigkeiten ist nicht allein in ungünstigen Umständen zu suchen. Sie ergeben sich vielmehr aus der unfaßlichen Vielseitigkeit und Fülle dieses Wer4
kes. Ein jeder hat sich aus den unveröffentlichten Handschriften der Landesbibliothek das herausgepickt, was ihn interessierte. Ich kenne aber ganze Manuskriptreihen, die noch niemand bearbeitet hat. Im Magazin dieser großartigen Bibliothek, deren Bestände Leibniz zusammenzutragen begann, findet man täglich auch noch Drucke, die die Spuren seiner aufmerksamen Lektüre tragen. Noch immer entdeckt man in den hintersten Winkeln der Archive unbekannt gebliebene Stücke. Die Zusammenstellung der Schriften Leibniz' ist eine unvollendete Symphonie, und die Verleger müssen stets gewärtig sein, daß noch in letzter Minute neue Funde auftauchen. Solange die „Sämtlichen Schriften" nicht vollständig erschienen sind, können wir Leibniz lediglich wie die Gestalt eines Erlkönigs heraufbeschwören. Aus einigen ineinanderverschlungenen Zweigen zeichnen wir ein Gesicht, das ihm vielleicht gar nicht entspricht. Unsere Arbeit an seinem Werk gleicht der der Archäologen, welche die Bruchstücke eines Mosaiks entdecken. Gewiß wird unsere Generation die Vollendung dieses großen Werkes nicht erleben. Und nehmen wir selbst an, es sei schon vollendet, so darf man sich doch keine Illusionen machen. Alles bliebe noch zu tun übrig. Denn wie könnte man mit einem Blick, und mit den Augen eines einzelnen, diese zahllosen und mannigfaltigen Schriften erfassen, die den unablässigen blitzartigen Ausstrahlungen des Leibnizschen Geistes entsprungen sind! Leibniz ist die letzte jener sagenhaften Gestalten der Renaissance, die alles über alles wußten. Sein Wissen aber, und das hebt ihn über Gelehrte wie Pico della Mirandola hinaus, war kein bloß im Gedächtnis aufgenommenes Vielwissen: er wußte alles über alles, wie es keinem anderen gegeben war. Er wußte es aus eigenem Erdenken. Es ist also vorauszusehen, daß wir uns auf allen einzelnen Gebieten ebenfalls zu acht einspannen müssen, um die ver5
schiedenen Entdeckungen Leibniz' neu zu erfassen. Dies beweist unser Kongreß. Der einzige Leibniz hätte sich in jeder unserer verschiedenen Kommissionen zu Hause gefühlt: wir aber mußten uns nach unseren Fachgebieten aufteilen, um uns auf gebührende Weise mit ihm auseinanderzusetzen. Dem muß ich noch hinzufügen, daß man seiner Gedankenwelt nur dann wirklich näherkommen kann, wenn man die Begriffe und Vorstellungen erfaßt, in denen sich sein Denken historisch manifestiert hat. Wir unterscheiden heute nicht mehr die „Wilden" von uns „Zivilisierten" durch wertende und ausschließende Begriffe. Wir bemühen uns um ein Verstehen, das in die Tiefen der Denk- und Handlungsweisen andersartiger, fremder Gesellschaften eindringt. Nicht anders studieren wir heute in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften die Philosophen in ihrer eigenen Ausdrucksweise und im Kontext des Wissens ihrer Epoche. Das setzt, was Leibniz betrifft, die Kenntnis aller Kenntnisse siebzigjähriger Geistesgeschichte voraus. Ich weiß nicht genau, was wir sind, aber ich glaube sagen zu können, daß wir gerade erst anfangen zu ahnen, was Leibniz war. Aus diesem Grunde wäre es lächerlich, wollte ich den Anspruch erheben, Ihnen zu sagen, wer er war. Was wir aber erkennen können, das sind die zahlreichen Fäden, die uns mit ihm verbinden. Jenes Gespann nämlich lenkte direkt auf uns zu, und Leibniz hält uns weitgehend am Zügel, ob wir es uns eingestehen wollen oder nicht. Ich will versuchen, Ihnen darzulegen, wie er mitten durch unsere fundamentalen Probleme zieht. Leibniz lächelt über folgende Geschichte: ein indischer Philosoph wurde gefragt, worauf die Erde ruhe. Er antwortete, auf einem großen Elefanten. Darauf fragte man ihn, was denn den Elefanten trage. Er behauptete, eine große Schildkröte. Man bedrängte ihn, doch zu offenbaren, auf was sich die Schildkröte stütze. Auf „irgendetwas", war seine 6
Antwort. Als man ihn dann drängte, sich näher über dieses „irgendetwas" auszulassen, erklärte er, sie werde von „ich weiß nicht was" getragen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: sind wir, ob wir nun im tätigen Leben stehen oder Philosophen sind, sehr viel klüger? Sind wir nicht froh, mangels eines festen Punktes, der die Erde trägt, ein „ich weiß nicht was" zu Hilfe rufen zu können, das es uns erlaubt, die Völker zu lenken oder unsere Gedanken zu beschwichtigen? Ich könnte sagen, daß Leibniz, genau wie der indische Philosoph, Grundweisheiten aufgetürmt hat, indem er uns von der Psychologie auf die Logik, von der Logik auf die Metaphysik und von der Metaphysik auf die Theologie verwies. Meine Kollegen möchten es mir verübeln, wenn ich öffentlich erkläre, wir hätten den Urgrund des Leibnizschen Denkens nicht entdeckt. Doch kann man sich mit jenen annähernden Definitionen zufriedengeben, welche die größten unserer zeitgenössischen Philosophen für die Metaphysik Leibniz' gefunden haben? Ein erstes Beispiel versetzte mich in Erstaunen, als ich die Bergson-Gesamtausgabe zum hundertsten Geburtstag vorbereitete. Bergson hatte während seines Studiums durch Boutroux von Leibniz gehört. Er hat einige seiner philosophischen und wissenschaftlichen Schriften gelesen. Wiederholt stellt er uns in seinen Werken einen Leibniz vor, der mir eher mythisch als wirklich erscheint. Solange er sich über sehr allgemeine Dinge äußert, ist das nicht weiter schlimm. Er weiß, was die Menschheit dem Infinitesimalkalkül und der Leibnizschen Dynamik verdankt. Später schrieb er sogar — was in seinen frühen Werken noch nicht zu lesen ist —, daß mit der Leibnizschen Konzeption von mathematischen Symbolen etwas gewonnen sei, das man auf die wahre Dauer („duree") habe anwenden können; was für Bergson das größte Kompliment bedeutet. Er sieht völlig zu recht, daß die Gesamtauffassung Leibniz' spiritualistisch ist und daß er eher dazu neigt, die 7
Materie zu vergeistigen, als den Geist zu materialisieren. Er kennt die These, in der Leibniz der Finalität wieder Achtung verschafft, und auch die, in der er die Virtualität zum Stoff selbst der Substanz erhob. Bergson glaubt, daß Leibniz damit eine neben Descartes verlaufende Entwicklung einleitet. Wiederholt betont er in ähnlichen Sätzen wie diesem: Leibniz gehöre dem hohen Geschlecht der Philosophen an; er zähle zu jenen „königlichen Seelen", die nicht für sich allein, sondern für die ganze Welt geboren würden, die dem Urimpuls treu geblieben seien und mit dem Grundton des Alls übereinstimmten, welcher der Ton der Großherzigkeit und der Liebe sei. Da es anderseits seit dem Erscheinen Zenos keine Metaphysik mehr gibt, die dieses Namens würdig wäre, sieht man, daß Leibniz im Bereich der verratenen Metaphysik zu denen gehört, welche noch die geringste Schuld trifft. Er ist, sagt Bergson, dem „Urimpuls treu geblieben". Manchmal nämlich lodert, trotz Zenos Verrat, das Feuer des „elan vital" in awählten Seelen wieder auf: in Helden, Heiligen und großen Philosophen. Alles wäre für Bergson zum besten bestellt, wenn Leibniz nicht nach Zeno gelebt hätte. Er ist nämlich der Auffassung, daß die Metaphysiker unter dem Einfluß der abstrakten Symbole der Mathematiker den Kontakt zur reinen Dauer verloren haben, welche die Art und Weise ist des in uns wirkenden „£lan vital". Das Leibnizsche Genie kann also kein vollberechtigtes, voll ausgebildetes Genie sein. Was ist denn dieser Finalismus, der besser als gar nichts ist? Im Grunde ist er ein „umgekehrter Mechanismus". Die substantielle Entwicklung der Monade vollzieht sich dergestalt, daß das Individuum einem vorgezeichneten Programm folgt. Weder Erfindung noch Schöpfung, Kennzeichen der reinen Dauer, sind in einem solchen Zeit-Muster möglich. „Alles ist gegeben." Zeitliche Folge ist nur Schein, eine relative Entwicklung in einer verräumlichten Zeit. Es gibt in der Einzelexistenz keine wahre 8
Dauer mehr. Denn Leibniz, schreibt Bergson, „widersetzt sich der Vorstellung einer Realität, die sich fortlaufend erneuert, das heißt im Grunde, einer absoluten Dauer". Hier erkennt man genau, was Bergson von der Lehre Leibniz' gelten läßt und was er verwirft. Ist dies aber Leibniz' Meinung? War es dies, was Leibniz sagen wollte, als er vielmehr die monadische Existenz als eine Art blitzartiger Ausstrahlung der Gottheit erklärte? Lehrt seine Physik nicht auch die ständige Veränderlichkeit der lebendigen Kraft? Beruht seine Psychologie nicht auf einem Virtualitäts-Begriff, welcher besagt, daß sie gerade eben durch die „uneasiness", die Unruhe, ständig gelenkt wird? Gründet seine Metaphysik nicht auf der Infragestellung aller Erscheinungen und der Entdeckung der spontanen schöpferischen Einmaligkeit der Monade? Zeugt schließlich seine Theologie nicht von einem Gott, in dem Existenz vor Essenz geht und das Mögliche vor allem dazu befähigt ist, Neues zu schaffen, zu „existiturieren". Freilich streben eben in der Interpretation des Möglichen die Leibnizsche und die Bergsonsche Philosophie auseinander. Dies darf aber nicht auf die Gründe zurückgeführt werden, die Bergson, dessen Gott eigentlich niemals die Philosophie berührt hat, dafür angab. Dieses erste Beispiel offenbart den mythischen Gebrauch, den wir gern vom Leibnizschen Denken machen. In der französischen Philosophie spielt Leibniz die Rolle, die Mephisto in Goethes Tragödie zugeteilt ist. Man zieht ihn zu Rate, ohne jedoch bis zum Blutpakt zu gehen. Vor allem vermeidet man, eine Annäherung sichtbar werden zu lassen, die als kompromittierend gilt. Man verdankt ihm vieles, aber man will es nicht wahrhaben. In der deutschen Philosophie spielt Leibniz dagegen eher die Rolle des Kammermädchens in den Stücken Molieres. Er taucht im rechten Augenblick auf, um es der Herrschaft zu erleichtern, die Wahrheit an den Tag zu bringen. Man spricht viel von ihm, aber man steht ihm geistig fern. Wenn Bergson 9
Leibniz nur als Gegensatz gebraucht, um sich von ihm abzuheben, so werden ihm Husserl und Heidegger allerdings auf sehr viel positivere Weise gerecht. Bergson hat uns erlaubt, den Platz zu erkennen, den man Leibniz in der Geschichte zuweisen könnte. Husserl hilft uns einzusehen, welchen Platz seine Philosophie im Erfassen der zwischenmenschlichen Beziehung einnimmt, und Heidegger lehrt uns, die tiefe Originalität des hannoverschen Philosophen zu erkennen, freilich, wenn ich mich so ausdrücken darf, gegen den Gebrauch, den die deutschen Philosophen selbst davon machen! Im Grunde glaubt Husserl, nicht anders als Bergson, daß es sich um die „Metaphysik eines Abenteurers" handelt, vollgestopft mit Vorurteilen und einzig angetrieben vom Willen zum System. Dennoch war Husserls Einstellung Leibniz gegenüber weit verständnisvoller als die Bergsons. Man hat sogar im Werke Husserls einen „leibnizianischen Wendepunkt" feststellen können, der dem Einfluß Natorps zu verdanken ist. In der Tat machte Leibniz, Husserls Meinung nach, ein „geniales Apercu" über die transzendentale Phänomenologie, und die Monadenlehre ist nichts anderes als eine Phänomenologie, die sich als solche noch nicht kennt. Daraus wäre abermals zu schließen, daß es nicht sein Verdienst ist, wenn Leibniz von uns verstanden wird, daß er sich aber auch nicht absichtlich verschloß. Leibniz' große Bedeutung umreißt Husserl in seiner Spätphilosophie, als er sich mit dem Problem der Intersubjektivität beschäftigte. Unmittelbar erfahren wir die Gegenwart fremden Seins (Fremderfahrung); wie ist es nach der Phänomenologie möglich, eine Erfahrung zu erfassen, die ein alter ego betrifft, da ja gerade ein ego nur für sich selbst Quelle der existentiellen Gewißheit sein kann. Wenn ich Gewißheit nur von meinen inneren Evidenzen erwarte, so reduziere ich den anderen auf meine Vorstellung von ihm. Wie kommt es, 10
daß wir uns selbst nicht die Bewegungen und Gedanken zuschreiben, mit deren Hilfe wir die anderen unterscheiden? Husserl versucht dieses Problem zu lösen, indem er die Leibnizsche Terminologie zu Hilfe nimmt. Der Paragraph 60 der „Cartesianischen Meditationen" erinnert auf seltsame Weise an die Sprache der Monadologie. Die Erfahrung des Ichs der Monade stellt sich immer nur in Begleitung der Erfahrung anderer Ichs ein, inmitten einer echten Monadengemeinschaft. Diese einzige Monadengemeinschaft bildet eine einzige objektive Welt, eine einzige Zeit, einen einzigen Raum, eine einzige Natur. In meiner eigenen Monade spiegeln sich alle fremden Monaden. Folglich ist es mir möglich, diese Welt in getrennte Welten aufzuteilen. „In Wirklichkeit . . . kann es nur eine einzige Monadengemeinschaft . . . geben." Denn diese Welten, die ich als getrennt umdenke, behalten in mir eine gemeinsame Wurzel, die eine Urmonade ist. Husserl schreibt: „Der Sinn dieser Einzigkeit der monadologischen W e l t . . . muß aber recht verstanden werden. Natürlich hat Leibniz recht, wenn er sagt, daß unendlich viele Monaden und Monadengruppen denkbar sind, aber darum nicht alle diese Möglichkeiten kompossibel, und wieder, daß unendlich viele Welten hätten geschaffen sein können, aber nicht mehrere zugleich, da sie inkompossibel sind". Denn jede Veränderung, die ich mir in dieser Welt vorstelle, wird auf eine Einheit zurückgeführt, da ich es bin, der sie erdenkt, und sie ohne mich unverträglich wäre. Husserl fährt fort: „Das Faktum Ich bin schreibt vor, ob und welche anderen Monaden für mich andere sind; ich kann sie nur finden, aber nicht, welche für mich sein sollen, schaffen"; er stellt fest: „Man versteht,... wie Fragen sinnvoll werden, . . . die für die Tradition jenseits aller wissenschaftlichen Grenzen liegen mußten." Ich begreife sehr gut, daß Husserl, wenn er sich mitten in diese Fremderfahrung, die das transzendentale Bewußtsein empfindet, hineinversetzt, den Fremden als von ihm getrennt 11
seiend betrachtet, als alter als Ich. Worauf aber beruht die Vielheit und die ebenfalls erfahrene Trennung der anderen voneinander? Im Grunde spürt Husserl genau, daß er das Problem auf halbem Wege fallen läßt, während Leibniz diesen Weg weiterverfolgte. Husserl sagt an späterer Stelle: „Dieser Idealismus ergab sich als eine Monadologie, die bei allen absichtlichen Anklängen an Leibnizens Metaphysik ihren Gehalt rein aus der phänomenologischen Auslegung der . . . transzendentalen Erfahrung schöpft." Husserl ist wie Bergson der Meinung, daß er, indem er sich der Intuition unterwirft, auf die konkreten Gegebenheiten der Erfahrung zurückgreift und somit die traditionellen metaphysischen Konstruktionen vermeidet. Diese Intuition entdeckt uns einen „Sinn, der philosophisch enthüllt, aber nie geändert werden kann". Nun ist aber genau dies die Aufgabe, die Leibniz der Metaphysik zuwies, die er nicht mehr als eine Beschreibung nur jener der „Veränderung" unterworfenen Relationen verstanden wissen will, sondern als Wissenschaft von den Prinzipien und im besonderen als Erforschung des Prinzips von der Einheit der Monaden in einem Wesen, das die Gesamtheit der Monaden transzendiert. Dies ist es zweifellos, was Husserl „abenteuerliche Konstruktion" nennt. Heidegger hat den Mut, sich diesem Abenteuer zu stellen. In der Selbstbefragung, der er sich in seinem Werk „Der Satz vom Grund" unterzieht, sucht er nach einer Antwort auf Leibniz' Versuch, aus sich herauszutreten, um seinen eigenen Grund zu finden. Er stellt das Werk Leibniz' unmittelbar in die Perspektive des menschlichen Geschicks. „Der Name Leibniz steht deshalb in unseren Überlegungen nicht als Bezeichnung für ein vergangenes System der Philosophie. Der Name nennt die Gegenwart eines Denkens, dessen Stärke noch nicht ausgestanden ist, eine Gegenwart, die uns erst noch entgegenwartet. Nur im Blick zurück auf das, was Leibniz denkt, können wir das gegenwärtige Zeitalter, das man das Atom12
Zeitalter nennt, als jenes kennzeichnen, das von der Macht des principium reddendae rationis sufficientis durchmachtet wird." Die Übersetzung des Satzes vom Grunde, „nihil est sine ratione", lautet: „nichts ist ohne Grund". Jedes Sein hat seinen Seinsgrund, und jene Erscheinungen anderen Seins müssen als Phänomene für die transzendente Erfahrung ihre Rechtfertigung erhalten. Dieses Problem ist uns geläufig; 2000 Jahre brauchte es aber, bis die denkende Menschheit sich dieses Gesetzes bewußt wurde. Der Platz, den Leibniz in der Geistesgeschichte einnimmt, ist ein ganz anderer als der, den Bergson ihm zuwies. In den Augen Heideggers nämlich hat Leibniz einen engen Kontakt mit den Vorsokratikern bewahrt, die im Besitze einer Wahrheit waren, welche die Metaphysik in der Tat nicht immer zu achten verstand. Geben wir den Grund hinzu, wird unser Urteil eine Wahrheit. Der hinreichende Grund garantiert die Objektivität des menschlichen Vorstellens. Der Satz vom hinreichenden Grunde durchwaltet die Vorstellungen, die wir von der Welt und den anderen haben. Wir warten auf einen Kalkül, der die Genauigkeit der Aussagen über unser Wissen bestätigt. Heidegger beurteilt die Bedeutung einer derartigen Entdeckung folgendermaßen: „Diese vollbringt nichts Geringeres als die innerste, zugleich aber verborgenste Prägung des Zeitalters der abendländischen Geschichte, das wir Neuzeit nennen." Aber hören wir Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts noch diesen Ruf? fragt Heidegger. Wir haben seine Betonung verkehrt, denn voller Eifer, eine mathesis universalis aufzubauen, hat das moderne Denken den Grund zur Ursache und den Kalkül zur bloßen Formel erniedrigt, mittels derer die Gegenstände durchgehend berechenbar gemacht werden. Es gibt sogar Philosophen, die behaupten, daß „wir mit dem Atom leben werden". Dazu gewinnt die Macht der Information in allen Wissensgebieten Oberhand, und schon kann man sich aus13
malen, wie ein Minister des Informationswesens (der in Frankreich gerade eingesetzt wurde) die Macht an sich reißt, um uns zu „informieren". Heidegger sieht deutlich, daß dies noch nicht das letzte Wort über das Leibnizsche Prinzip sein kann. Beschränkt sich das nachsinnende Denken auf das berechnende Denken? Gibt es nicht eine zweite Weise, den Satz vom hinreichenden Grunde zu interpretieren? In der ersten Weise, in der wir ihn oben kennenlernten, hörten wir: „nichts ist ohne Grund". Wir sind selbst mit der verkürzten Form vertraut gemacht, die dieser Grund-Satz in der Technik und Informationstheorie annimmt: „nichts ohne Grund". Wir haben nur das kleine Wort „ist" übersprungen. Nun ist der Satz vom Grunde aber eine Feststellung, die sich für Leibniz nicht allein auf einen okkasionellen ursächlichen Grund und auf eine mechanische Bestätigung bezieht. Er betrifft das Sein selbst in seiner Existenz. So sagt Heidegger, daß „in dem Satz ,nichts ist ohne Grund', das ist den alles stimmenden Ton angibt". Dementsprechend klingt er „nicht mehr: ,nichts ist ohne Grund', sondern .nichts ist ohne Grund'". In diesem Sinne entschleiert der Satz das Sein des Seienden. Sein und Grund klingen zusammen. Es handelt sich nicht mehr bloß um das Vorstellen meines Seins, sondern um mein Sein selbst. Sein heißt Grund. Er bezeichnet nicht mehr den Schluß in der Antwortenkette „weil", sondern die Antwort auf die immer offene Frage „warum". Und die Behauptung des Satzes vom Grund hinsichtlich des Seins begründet den Satz vom Grund hinsichtlich des Vorstellens. Für Heidegger gibt es, im Gegensatz zu Bergson und weit eindeutiger als für Husserl, keinen Zweifel daran, daß die Ontologie für Leibniz das Fundament der Logik ist und nicht umgekehrt. Bin ich nun aber damit zufrieden? Hätte ich nicht eine viel zu hohe Achtung vor meinen großen Vorfahren, so würde ich sagen, daß Husserls „Schildkröte" das „bloß transzendental" 14
und Heideggers „ich weiß nicht was" der „Grund" ist. „Grund" schreibt Heidegger, „ist das, worauf alles ruht, was für alles Seiende schon als Tragendes vorliegt". Aber dieses „ich weiß nicht was" bleibt ebenso stumm wie die Schildkröte, und Heidegger gibt nun auch seinerseits das Spiel auf, indem er sagt: „Weil jedoch Leibniz und alle Metaphysik beim Satz vom Grund als einem Grundsatz über das Seiende stehenbleiben, verlangt das metaphysische Denken dem Grundsatz gemäß einen ersten Grund für das Sein: in einem Seienden, und zwar dem Seiendsten." Hieraus glaube ich zwar nicht schließen zu können, daß Leibniz über die Dauer, die Intersubjektivität, das „Tragende des Tragenden" besser Bescheid wußte als wir, wohl aber, daß keiner der zitierten Autoren dasjenige in Leibniz trifft, was seine Originalität eigentlich ausmacht. Selbst wenn wir nur von dem ausgehen, was wir von Leibniz wissen, ist es aus der Perspektive des Historikers doch möglich, eine Wiederherstellung vorzunehmen, die der militante Metaphysiker in seiner Perspektive nicht sucht. „Mein Weg führt", schrieb Heidegger, „wie Sie richtig sehen, über einen Kreuzweg; er wird dadurch, historisch betrachtet, einseitig. Es läßt sich aber in derselben Weise zeigen, daß Leibniz selbst und Descartes am ursprünglichen Sinn der griechischen ousia und energeia vorbeigegangen sind, was kein Fehler ist, sondern die vorgezeichnete Treue gegenüber dem Geschick des Seins im Sinne der Anwesenheit." Der Historiker hingegen würde gern antworten, daß der „Sinn der Anwesenheit" wohl auch der Sinn eines bestimmten Philosophen sei und daß die Urbedeutung des Seins, die Leibniz wieder ans Licht bringt, in ebenso enger Beziehung zur paulinischen und augustinischen Tradition wie zu Heraklit und Empedokles steht. Wenn man den Satz vom Grund versteht als „et nunc calculemus", denn „cum Deus calculat, fit mundus", oder ihn auslegt als „et nunc medite15
mur", weil „omnis meditatio a Deo est", so wäre das wohl kaum der Sinn, den Leibniz ihm geben wollte. Es hieße zugleich, daß das Beziehungssystem zum Sein verändert würde und damit das Sein selbst. Wenn Heidegger den Satz vom Grund in zweifacher Bedeutung versteht, so zeigt das immerhin, daß er zwei Ohren hat, zu hören. Brauchen wir aber nicht eine dritte Auslegung? Will der typisch Leibnizsche Sinn nicht besagen: einmal „nichts ist" und zugleich damit „ohne Grund" ? Wenn der Seinsgrund der Grund der Existenz ist, dann deswegen, weil „durch Grund sein" das „beste Sein" ist. Das Prinzip vom Grund findet seine Erfüllung im Prinzip vom Besten. Und dieses Beste wird ebenso in dem „calculemus" wie in dem „meditemur" sichtbar. Bergson, Husserl und Heidegger aber würden einstimmig ausrufen: „Gerade das ist ja die Metaphysik eines Abenteurers!" Unser Kongreß hat bewiesen, daß Leibniz* Anwesenheit unter uns in allen Disziplinen ähnlich unmittelbar zutage tritt, wie in den schönen Beispielen, die ich Ihnen hier vorführte. Wurde Leibniz aber im vollen Maße seiner Gegenwärtigkeit in den von mir angedeuteten Arbeiten heraufbeschworen? Führte die Konvergenz von Eins und Sein, ens et unum convertuntur, nicht zu dem, was Husserl „abenteuerliche Apercus" nennt, die für ihn die am wenigsten abenteuerliche Metaphysik waren? Ich möchte schlicht fragen: was ist die Ordnung dieser hervorbrechenden Dauer, was die Ordnung dieser Monadengemeinschaft; was ist die Ordnung dieser Reihe von Gründen, die dem Nachdenken über die Natur, die Gemeinschaft der Menschen oder die letzten Prinzipien Sicherheit und Gültigkeit geben? Eigentlich war Leibniz existentialistischer als die Existentialisten, da der Grund, aufgefaßt als logische Basis, auf einem als ontologisch erfahrenen Grund ruhen sollte. Dieser ontologische Grund wiederum ruhte in der höchsten Vollkommenheit, von der es unmöglich war anzunehmen, sie 16
bestünde nicht. Wie denn ist dieser „logos" beschaffen, den Bergson in seinem Begriff der Dauer zu erkennen meint und den er in dem Werk „Deux Sources" (Die beiden Quellen) Gott nennt, ihm Macht und Liebe verleiht, ihm aber das Attribut der Weisheit verweigert. Wie beschaffen ist der „logos", auf den sich Husserl am Schluß der „Meditationen" beruft, wo er einen „universalen Logos allen erdenklichen Seins" fordert? Wie ist der „logos" beschaffen, den Heidegger unaufhörlich in seinen rationalen Argumentationen und poetischen Beschwörungen verfolgt? Hier schweigt der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts. Für uns beginnt das Schweigen in dem Augenblick, wo es heißt, das Wesen des „ich weiß nicht was" zu bestimmen. Dauer, Bewußtsein, Vernunft — dies alles, würde Leibniz sagen, sind noch Merkmale eines Begrenzten, einer Endlichkeit, die uns veranlassen müßten, Ursache um Ursache hinabzusteigen auf der Suche nach ihrem letztlichen Ursprung. Nun, Bergson hat seinen Glauben, vielleicht sogar seine zwei Religionen, Husserl hat seine Konfession, Heidegger glaubt an sich selbst. N u r kann man nicht sagen, daß sich bei ihnen die Vereinigung von Vernunft und Glauben, von Logischem und Theologischem, den Gewißheiten und dem Wagnis vollzogen hat, die Leibniz für seine Person verwirklicht hat. Mir scheint daher, daß ihn das Gefühl bewegte, den Zusammenschluß unseres Wissens im Schöße der Vollkommenheiten, aus dem jedes Wissen hervorgeht, zu vollbringen. Gerade dieses Gefühl für die Einheit haben wir verloren. Bergson spricht nicht zu unrecht von zwei Quellen der Moral und der Religion, Husserl sagt zu recht, daß sich das zeitgenössische Denken in einer Krise befindet, Heidegger hat recht, wenn er die Zusammenhanglosigkeit der Gründe zeigt. Indem sie von der Vielheit sprechen, beweisen sie ihre Sehnsucht nach der Einheit. In der Trennung des Seins von der Einheit aber liegt eben der Ursprung des Tragischen. Tragisch ist nicht, daß unsere Freiheit an ein „Fatum" gekettet ist, sondern daß 17
sie unfähig wird, die Regeln, Gesetze und Bindungen zu begreifen, unter welchen sie steht. So reißt sich unsere Freiheit los von der einzigen Wurzel des menschlichen Geschicks, welcher Herkunft dies auch immer sein mag. Was Leibniz betrifft, so begnügt er sich nicht mit seiner Einsicht in die ständige Zwietracht, die die Menschheit sowohl unter sich selbst als auch von der Einheit ihres Seins trennt. Er verknüpft das Geschick der Menschheit mit dem einen seiner möglichen Ursprünge, welcher für ihn der notwendige Ursprung ist. Es mag sein, daß wir nicht mehr die Seelenkraft haben, uns auf eine absolute Transzendenz zu berufen, ein unendlich unendliches Unendliches, Quelle und Koordination unserer gemeinsamen Erfahrung einer Natur, einer Intersubjektivität, eines einzigen Ursprungs. Für uns ist die Transzendenz in die Dauer, in das Bewußtsein, in die augenblickliche Existenz eingesenkt. Für Leibniz war die Transzendenz jene einzige Existenz, aus der unsre Existenzen hervorgingen, und zwar nicht zufälligerweise, sondern gemäß dem Gesetz einer Harmonie. Und diese Finalität, dieses „geniale Apercu" über die Monadologie des Bewußtseins, dieses unruhige Forschen nach dem „warum", waren weder ein Ende des philosophischen Strebens, noch eine dem in sich selbst eingeschlossenen Bewußtsein aufgezwungene Grenze, noch ein Bruch zwischen der Zeit und dem Sein. Außerdem reicht es nicht zu, wenn man sagt, Leibniz habe hier „Fertiges" vorgefunden, etwas, bei dem er ausruhen konnte, oder er habe die alte Frage der Griechen nach dem Schicksal des Seins fallengelassen. Denn nichts war zerbrechlicher als die Einheit des Seins, zumindest wenn man sie in ihrer primordialen Erscheinungsform, dem menschlichen Schicksal, begreift. Wie könnte ich dieses Hervorrufen Leibniz' in uns selbst beenden, ohne ein Wort über die Bemühungen zu sagen, die er unternommen hat, um die kompromittierte Einheit des Seins wiederzufinden. Das „ich weiß nicht was" war für ihn 18
kein leeres Wort noch der Grund für eine tragische Lähmung, sondern Quelle seiner Tatkraft, die er gleichzeitig mit seiner inneren Kraft in der Welt entfaltete. Denn liegt auch das Schicksal in jeder von uns in sich geschlossenen Monaden eingeschlossen, und kann auch keine andere Substanz auf uns einwirken, noch wir auf sie, so hat doch die einzige und unendliche Substanz diese Macht. Anders ausgedrückt: wir werden „gehandelt", zum Handeln bewegt, so aber, daß unsere verschiedenen einzelnen Handlungen zusammenklingen. Daraus folgt, daß sich dieses Insichabgeschlossensein der Monade, das allein die Quelle tragischen Mißverständnisses sein kann, auf sich selbst zurückwendet und sich damit dem Prinzip der intermonadischen Einheit öffnet. Man muß stets, wenn man von der Leibnizschen Monade spricht, bedenken, daß ihre unzusammengesetzte Einfalt sie isoliert, zugleich aber ebendie Eigenart ist, durch welche sie mit dem Ganzen verbunden ist. Denn das, was uns von einander abhebt, vereint uns auch. Wir sind nicht durch eine grundsätzliche Verschiedenheit in Wesen und Gestalt voneinander getrennt. Wir unterscheiden uns lediglich durch die Art und Weise, in der sich die Einheit des Seins in der Vielzahl unserer Substanzen wiederspiegelt. Folglich bedarf es nur der Reflexion und Selbstergründung, welche inneren Ursprungs sind, um den großen Bauplan zu erfassen, der uns unseren Platz unter den anderen zuweist und transzendenten Ursprungs ist. Die Transzendenz hat sich aber mit dem Urblitz in uns eingesenkt, und diese blitzartige Ausstrahlung hört im Grunde nie auf. Anders als in der Interpretation, die Leibniz bei Bergson erfährt, entsprechend aber dem, was Bergson selber denkt, setzt sich auch bei Leibniz die Schöpfung ununterbrochen fort, vollzieht sich in jedem Augenblick. Daher sind wir frei. Denn in jedem Augenblick eröffnet sich uns die Gesamtheit des Möglichen aufs neue, inbegriffen darin das Unmögliche und das Unzeitgemäße. Die individu19
eile Substanz schöpft ihre Kraft, weiter vorzudringen, nicht aus dem Rechenergebnis einer Information, sondern aus dem ewigen Kampf der Möglichkeiten untereinander um die Behauptung ihrer Verträglichkeit. In diesem Sinne zumindest faßte Leibniz seine Freiheit auf, und so bewies er sie auch auf politischem und religiösem Gebiet. Sie wissen von seinen Bemühungen um die Verwirklichung des irenischen Gedankens in den Beziehungen zwischen den deutschen Staaten und zwischen den europäischen Nationen. Sie kennen auch seine Bemühungen um die Aussöhnung der verschiedenen protestantischen Bekenntnisse, der protestantischen Kirche und der katholischen Kirche und schließlich der christlichen und chinesischen Religionen. Denn sein großer Gedanke ist, daß das Sein im tiefsten Grunde Eins ist. Dieser Leitgedanke ist keine einfache abenteuerlichmetaphysische These. Ist er aber doch abenteuerlich, dann deswegen, weil er das menschliche Abenteuer in seiner Gesamtheit berührt. Mir scheint, wir geben das Problem von der Einheit des Seins, und damit auch das von der menschlichen, politischen und religiösen Einheit, heute zu früh auf. Es ist eine schöne Aufgabe, die verschiedenen Quellen der moralischen und sozialen Dynamik zu benennen, die Krisen zu diagnostizieren und die verschiedenen Bedeutungen des Satzes vom Grund nachzuweisen. Leibniz aber fand in dem Prinzip des Besten ein Gebot für das Handeln. Er stieg in die Arena hinab. Es mußte eine Möglichkeit geben, die Krise zu überwinden, da es geistbegabte Wesen waren, die darunter litten, und der Geist im Grunde Eins ist. (Was wir heute das frem^ew-Problem nennen, war für Leibniz die Liebe zum Ne^enmenschen.) Noch heißt es heute, jenen Grund zu erreichen. Hier ist die Metaphysik Gottes auf den guten Willen der Menschen angewiesen. Man darf nicht auf Evidenz warten, will man zur Handlung schreiten. Die Menschheit ist in eine 20
Unendlichkeit von Relationen verstrickt, die es ihr unmöglich machen, das Geschick zu analysieren und zu berechnen. Die Meditation umschließt die Berechnung und ergänzt sie. Leibniz beleuchtete dieses und jenes; wir zehren noch heute von kulturellen Einrichtungen, an deren Gründung er mitgewirkt hat. Er arbeitete Pläne für wissenschaftliche Akademien aus und wurde der Begründer der Berliner Akademie. Er regte eine „societe des souverains" an, ein Herrscher-Kollegium, das die Schutzwache des Friedens sein sollte gegen die Gewalt, die „Drachensaat". Er unternahm alles, um ein echtes ökumenisches Konzil zusammenzubringen. Und wenn ich als Bürger der Stadt Orleans aktiv im Ausschuß für die Beziehungen zu unserer Schwesterstadt Münster, der Stadt der „pax optima rerum", mitwirke, so habe ich manchmal das Gefühl, daß Leibniz mein Tun gutheißt. Alles, was lebt, ist Eins. Alles andere ist flüchtige Erscheinung. Sie sehen aus diesen wenigen Bemerkungen, daß das Erbe des Leibnizschen Denkens weit lebendiger geblieben ist, als man gewöhnlich annimmt. Ein Kollege hat vor kurzem in glänzender Weise gezeigt, wie die Leibnizsche Auffassung der Monade im neunzehnten Jahrhundert weiterlebte in der historischen Linie Fichte-Hegel. Eine Logik des Denkens, und nicht des Gedachten, führt zur Logifizierbarkeit des Individuellen. Wenn Sein Denken ist, sind Monade und Begriff tief verbunden, und ist Leibniz mit Fichte und Hegel einig. Aber der Verfasser erkennt, daß in der Monade ein „Prius" liegt, „das Prius des schöpferischen Grundes vor dem der Schöpfung". „Damit", so endet das Buch, „hatte Leibniz die Logik des Vorstellens von Dingen zu einer Logik des Lebens, des Lebens wirklicher Wesen, erweitert." Diese Aussagen können auf unser zwanzigstes Jahrhundert angewendet werden. Das Prius des schöpferischen Grundes erklärt die treibende Kraft der Natur wie auch die zwischenmenschliche Verbindung und befindet sich im Mittelpunkt des Grundes aller Gründe. 21
Hier muß ich den Fortschritts-Begriff einschalten. Voltaire hätte Leibniz gegenüber recht, wenn die „beste aller Welten" mit unserer augenblicklichen Welt, der des 17. November 1966, identisch wäre. Aber der Begriff des „Besten" — das ergänzende und übergeordnete Prinzip für den Satz vom hinreichenden Grunde, welcher das Prinzip des Besten nur ausführt — gilt allein für die vollendete, die erfüllte Geschichte. Das Denken Leibniz' kann nicht getrennt werden von seiner Anschauung von der natürlichen und übernatürlichen Welt. Die von der Phänomenologie beschriebene Gemeinschaft erfüllt sich in der Gesellschaft des Geister-Staates, welcher das neuzeitliche Wiederaufleben des Augustinischen Gottesstaates ist. Sie sehen also, worin wir Leibniz, und gleichzeitig damit uns selbst, verstehen. Denn entweder sind wir fähig, wieder zu einer Existenz hinzufinden, die uns die Sicherheit gibt, daß sich die unsrige in ihr zur Vollkommenheit vollendet, oder aber wir sind dessen nicht mehr fähig und dürfen uns dann nicht wundern, wenn der Satz vom Grund in der Technik und im Herrschaftsbereich der Information entwürdigt wird; auch die Krise des abendländischen Denkens darf uns nicht überraschen, ebensowenig, daß aus den Ursprüngen nur noch Getrenntes hervorgeht, nur geschlossene Gruppen. Lassen wir also als Prinzip der Philosophie die Materialisation des Geistes gelten und als Ziel der Geschichte die Herrschaft der Information. Einer unserer bedeutendsten Kollegen berief sich am Anfang seines Buches über Leibniz auf Janus, den Gott mit den zwei Gesichtern, „Symbol der schicksalsträchtigen kriegerischen Entscheidungen". Leibniz' beide Gesichter schauten gleichzeitig die Vergangenheit und die Zukunft. Die Reflexion war für ihn nicht das bloß augenblickliche Erfassen einer aufscheinenden Evidenz, sondern eine Erfüllung in der Gewißheit: sie war für ihn der kostbarste Besitz des Einzelwesens, da es in ihr die kosmische Zeit und selbst die Ewigkeit 22
zu erfassen vermochte, die sie durchdrang mit den ihr gleichgearteten blitzartigen Ausstrahlungen der Monade. Leibniz besaß die Gabe und den Mut, im Vorhofe des Kriegstempels zu wachen und den Fuß vor seine allzu leicht aufspringenden Tore zu setzen. Lassen Sie mich schließen mit einer Anspielung auf die Worte, mit denen ein Dichter des Friedens in dem Augenblick, als der Trojanische Krieg doch stattfinden sollte, sein Drama abschloß: „der Leibniz des siebzehnten Jahrhunderts ist tot — es lebe der Leibniz der kommenden Jahrhunderte!"
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