Eva Lejonsommar
Sie zu lieben
Übersezt von Regine Elsässer
Saga
Sie zu lieben
Übersezt von Regine Elsässer
Titel der Originalausgabe: Att älska henne
Originalsprache: Schwedischen
Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1998, 2021 Eva Lejonsommar und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726921915
1. E-Book-Ausgabe Format: EPUB 3.0
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Sie zu lieben ...
1
Marie schob den Sitz zurück, streifte die Schuhe ab und stützte die Füße an das Handschuhfach. Sie drehte eine helle Haarsträhne um den Zeigefinger. Sie drehte immer weiter, bis sie die Strähne von der Schulter bis zum Haaransatz aufgewickelt hatte. Dann ließ sie sie los und nahm eine neue. »Was ist denn, Marie? Hat dir das Haus nicht gefallen?« Anna nahm die Hand vom Steuer und legte sie auf Maries Schenkel. Sie schaute in Zweisekundenintervallen zwischen Marie und der Straße hin und her, um nicht in den Graben zu fahren. »Doch, es war schön, aber ich muß erst noch ein bißchen darüber nachdenken.« Anna schaute sie weiter mit diesen schnellen Kopfbewegungen an und strich dabei mit der Hand über Maries Schenkel. »Konzentrier dich aufs Fahren«, sagte Marie und legte Annas Hand wieder aufs Steuer. Marie machte das Handschuhfach auf und wühlte in den Kassetten, bis sie die mit Tina Turner fand. Sie schob die Kassette in den Recorder und drehte die Lautstärke auf. Dann setzte sie sich wieder zurecht, die Füße am Handschuhfach, und starrte in die vorbeiziehende Landschaft. Sie hatte es schon immer gemocht, wenn es Herbst wurde; die sakrale Stille, wenn das All sich weitete, und das ruhige Atmen der Erde kurz vor dem Einschlafen. Es war eine Jahreszeit, in der sie normalerweise mit sich und ihrem Leben im reinen war. Aber jetzt pochte die Unruhe wie ein eingesperrter Zugvogel in der Brust.
Das Haus, das sie angesehen hatten, war sehr reizvoll, vielleicht ein wenig heruntergekommen, aber es hatte die richtige Größe und war so nahe an der Stadt, daß sie dort die Wochenenden verbringen konnten. Sie hatte nur Schwierigkeiten, den Gedanken zu Ende zu denken, jetzt, wo er Wirklichkeit werden sollte. Anna sprach seit fünf Jahren davon. Aber es war, wie so vieles andere, über das sie geredet hatten, ein Traum in einer fernen Zukunft, nichts Konkretes, das eine Entscheidung verlangte. »Sie ist über fünfzig, das sollte man nicht glauben.« »Wer?« »Tina Turner«, sagte Anna und trommelte mit den Händen aufs Steuer. »I don’t wanna lose you ... true love«, sang sie den Refrain mit. Sie fuhren an Arboga vorbei und näherten sich der Raststätte, an der sie auf dem Weg zu Annas Eltern immer eine Pause machten. »Hast du die Milch vergessen?« fragte Anna, als sie die Becher und die Thermoskanne aus der Picknicktasche holte. »Du hast gepackt.« Anna fand das Glas mit der Milch in einer der Außentaschen. »Warum packe eigentlich immer ich?« fragte sie und goß Milch in den Kaffee. »Ich weiß nicht. Es gefällt dir vielleicht.« »Nein, das stimmt nicht. Aber außer mir macht es ja niemand.« »Und außerdem können wir dann sicher sein, daß es ordentlich gemacht wird, nicht?« sagte Marie und ließ zwei Zuckerstücke in ihren Becher fallen. Sie fuhren schweigend weiter. Es waren fast noch hundert Kilometer, aber Marie war in Gedanken schon mehrmals angekommen. Es gab ein bestimmtes Geräusch, beziehungsweise eine Sequenz von Geräuschen, die sie sehr mochte. Es war das Geräusch, wenn vier schwer belastete Gummireifen über eine dicke Schicht Kies fuhren und die Steine gegeneinanderdrückten. Es war das
Geräusch, wenn ein neuer Automotor mit niedriger Drehzahl im zweiten Gang durchs Tor und den Kiesweg zum Haus hinauffuhr und dann auf dem Kies nach links abbog und stehenblieb, der Motor abgestellt und die Handbremse mit einem leisen, ratschenden Geräusch wie bei einem Reißverschluß angezogen wurde. Und genau dann, in der Sekunde von Stille, vor dem Ausatmen, vor dem »Wir sind da«, bevor die Haustür geöffnet wurde und Karin heraustrat, bevor die Hunde zu bellen anfingen, bevor alles wieder konkret wurde – da war dieses wohlige Gefühl. Marie bekam Gänsehaut, wenn sie sich nur vorstellte, wie es sich anhörte. Sie bogen in die lange Allee ein, in der die Kronen der Ulmen ineinanderwuchsen. Auf der Kuppe eines langgestreckten Hügels, der sich wie eine Welle in der Landschaft erhob, wie eine Welle aus Kies und Lehm, lag der Hof. Von weitem konnte man rotbraune Dachziegel und Teile der gelben Fassade durch Laubwerk und Gebüsch sehen. Auf der rechten Alleeseite weideten Bengtssons Jungkühe. Einige hoben die Köpfe und schauten dem vorbeifahrenden Auto lange nach. Auf der linken Seite war Bengtsson mit Pflügen beschäftigt. Er saß auf einem Traktor, den Oberkörper hatte er halb nach hinten gedreht, damit er sehen konnte, ob der neue sechsschärige Pflug die Schollen wendete, wie er sollte. Am Ende der Allee teilte die Straße sich in drei Wege. Links war das Pächterhäuschen. Da wohnten Bengtsson und seine Frau Signe. Rechts waren die Scheune und alle Nebengebäude, und geradeaus lag das Wohnhaus. Das gelbe, zweistöckige Haus war fast völlig von Hopfen überwachsen und von einem Garten umgeben, in dessen Mitte ein Kiesplatz mit einem Herz aus Gras und Rosen lag. Marie schloß die Augen, als sie an den Torpfosten vorbeifuhren. Sie lauschte andächtig auf das Geräusch. Wartete. Dann machte Anna den Motor aus und zog die Handbremse an. »So, wir sind da«, sagte sie mit einem Seufzer und lehnte sich im Sitz zurück. Dann bellten die Hunde, die Haustür ging auf, und Karin stand auf der Treppe. Marie machte die Augen wieder auf und lächelte Karin durch die Autoscheibe an.
Die gleichen dicken schwarzen Haare wie Anna. Die gleichen haselnußbraunen Augen und der neugierige Blick. Die gleiche Nase und auch ein Mund, in dem die Zähne nicht in gleichmäßigen Reihen Platz gefunden hatten und sich deshalb ein bißchen hintereinander stellen mußten. Sie glichen sich auch im Körperbau, Anna war jedoch mit den Jahren runder geworden und Karin schlanker, seit sie wieder angefangen hatte zu reiten. Marie und Anna stiegen aus. Die zwei Rauhhaardackel schafften es vor Karin, die beiden Frauen zu begrüßen. Sie bellten laut, wedelten mit dem Schwanz und sprangen an ihnen hoch, als wollten sie die beiden langbeinigen Gäste umwerfen. »Schluß, habe ich gesagt!« schrie Karin und machte einen Schritt zur Seite, damit die zwei Dackel ihr nicht die Strümpfe zerrissen. »Sie gehorchen mir überhaupt nicht mehr, die beiden Biester«, jammerte sie, stemmte die Hände in die Hüften und starrte Roy in die Augen, was zur Folge hatte, daß er nur noch hysterischer bellte. Anna nahm Roy und Roger, unter jeden Arm einen, und trug sie zum Hundezwinger. Karin machte ein paar Schritte auf Marie zu, beugte den Oberkörper vor, legte ihre Hände auf Maries Schultern und zog sie schnell zu sich. »Marie! Wie schön, daß du da bist«, rief sie aus und schob Marie dann wieder von sich. Marie holte das Gepäck aus dem Kofferraum und trug es ins Haus. Die Treppen knarrten unter ihrem Gewicht. Durch das kleine Fenster im Zwischenstock sah sie, wie Anna den Zwinger verriegelte und sich dann zum Haus wandte. Marie stieg weiter die Treppe zu Annas altem Zimmer hinauf, das jetzt ein Gästezimmer mit Doppelbett und neuen Schränken war. Das Zimmer erinnerte an ein Hotelzimmer, es fehlte bloß der Fernseher und das Telefon. Es hing sogar ein Schild mit der Aufschrift »Bitte nicht stören!« an der Türklinke. Sie hatten sich bisher nicht getraut, das Schild zu verwenden, auch wenn das Bedürfnis nach Ungestörtsein manchmal heftig war. Es wurde irgendwie stillschweigend vorausgesetzt, daß dieses Recht nur den heterosexuellen Gästen
und den heterosexuellen Familienmitgliedern wie Niklas und seiner Exfrau Susanne zustand. Sie und Anna waren immer herzlich willkommen in der Familiengemeinschaft, solange sie ihr Liebesleben in Stockholm ließen. Marie öffnete die eine Tasche und holte ein eingepacktes Buch heraus, das sie Karin mitgebracht hatte. Sie machten sich hin und wieder kleine Geschenke. Wie eine Art Bestätigung für das Band, das es zwischen ihnen gab, das aber keinen Namen hatte.
Karin hatte im Wohnzimmer den Kaffeetisch gedeckt. Die Sonne schien durch die gemusterten Tüllgardinen. Die Katze hatte sich auf der Fensterbank zwischen den Blumentöpfen ausgestreckt. Das Buch lag ausgepackt auf dem Tisch. »Greif nur zu, Marie«, drängte Karin und reichte ihr zum drittenmal den Kuchenteller. Marie nahm ein Nußstückchen und reichte dann den Teller weiter an Ulf. Er inspizierte den Kuchenteller eingehend und stellte ihn dann auf den Tisch. »Da heißt es Charakter zeigen«, sagte er und schaute Anna vielsagend an. »Hör nicht auf ihn«, sagte Karin und reichte Anna den Teller. »Das hat sie doch noch nie getan, warum sollte sie das jetzt tun?« Ulf legte ein Bein übers andere und rümpfte mißbilligend die Nase angesichts des Schokoladentörtchens, das Anna demonstrativ auf ihren Teller schob. »Fangt jetzt bitte nicht an zu streiten. Erzählt lieber von dem Haus, das ihr euch angeschaut habt.« »Es ist ein Wahnsinn, eine halbe Million für eine alte baufällige Holzhütte auszugeben, in der ihr nur am Wochenende sein wollt«, unterbrach Ulf. »Wird man so verrückt, wenn man in Stockholm wohnt?«
»Aber Ulf!« rief Karin aus. »Diese alte Holzhütte ist, soweit ich es verstanden habe, ein richtiges Schnäppchen, nicht wahr, Marie?« Marie nickte mechanisch. Sie wollte sich am liebsten aus den Familienstreitigkeiten heraushalten. »Woher weißt du das? Nur weil die Dachziegel ganz sind, heißt das nicht, daß auch die Dachpappe dicht ist und die Lattung noch in Ordnung ist. Wart ihr auf dem Dachboden?« »Ja, waren wir.« »Und ihr hattet natürlich auch Gelegenheit, nach Feuchtigkeit und Ungeziefer zu schauen.« »Selbstverständlich.« »Was war das denn für ein verdammter Makler?« »Das war kein Makler, sondern Bekannte von uns ...« »Das ist ja merkwürdig. Warum wendet er sich nicht an einen Makler?« »Es war auch kein Er, sondern eine Sie. Und sie möchte das Haus an Leute verkaufen, die sie kennt und mit denen sie sympathisiert.« Ulf schaute Anna lange an. Dann zuckte es in seinen Mundwinkeln. Es kostete ihn Mühe, das Kinn und die Unterlippe an ihrem Platz zu halten, und er wandte den Blick nach unten und ließ ihn auf seinen sich drehenden Daumen ruhen. Sein Bauch bewegte sich, und schließlich brach das Lachen aus ihm hervor. »Du und deine Freundinnen«, prustete er. »Ich kann mir nicht helfen ... an Leute, mit denen sie sympathisiert ... mein Gott ... und das wart ihr beide ...« Er lachte jetzt laut. Seine ganze schlaksige Gestalt hüpfte auf dem Stuhl. Seine Schultern zuckten, und die Arme fielen auf die Oberschenkel. »Entschuldige«, grinste er und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Tränen aus dem Gesicht. Er fischte ein großkariertes Taschentuch aus der Tasche und schneuzte sich. Es klang wie Trompetenstöße. Er steckte das Taschentuch
wieder ein und strich sich verlegen durch den Bart. Dann bewegte sich wieder der Bauch, er stand auf und verließ das Zimmer, sein Lachen explodierte erst draußen in der Halle. Marie streckte die Hand aus und berührte Annas Oberschenkel mit den Fingerspitzen. Sie hatte gewußt, daß es Krach geben würde, sobald sie Ulf begrüßt hatten. Er hatte sofort angefangen, auf Anna herumzuhacken. »Das ist die Scheidung«, verkündete Karin. »Ich glaube manchmal, es ist schlimmer für ihn als für Niklas.« Sie schaute sie ein bißchen ängstlich an, um zu sehen, ob sie einer Meinung mit ihr waren oder Einwände hatten. Als keine etwas sagte, fuhr sie fort: »Morgen ist es ein Jahr her, daß Niklas erzählt hat, er wolle sich scheiden lassen. Ich habe in diesen Tagen daran gedacht, daß dieses Jahr so schlimm ist wie noch nie. Findest du nicht auch, Anna? Alles scheint auf dem Kopf zu stehen. Denk doch nur mal an Weihnachten, als Susanna die Kinder bringen sollte und nicht kam. Und wie wütend Niklas wurde, als Papa selbst zum Hörer griff und sie anrief.« »Es war nicht seine Sache, sie anzurufen«, sagte Anna und starrte weiter blind die Wand an. »Ich verstehe gut, daß Niklas wütend wurde.« »Sie haben schon immer ein schwieriges Verhältnis gehabt, Papa und Niklas.« Karin streckte den Arm nach der Thermoskanne aus, hatte jedoch Probleme, sie zu erreichen. »Niklas kann einem leid tun«, sagte sie dann entschieden und schraubte den Deckel ab. »Ja, Niklas kann einem leid tun«, wiederholte Anna mechanisch. »Du sollst mich nicht nachäffen.« »Ich äffe dich überhaupt nicht nach.« »Natürlich tust du das. Und überhaupt, wie willst du denn wissen, wie es Niklas nach der Scheidung gegangen ist?«
»Er hat mich darüber auf dem laufenden gehalten. Besonders nachts.« Karin wandte sich an Marie. »Tut mir leid, daß du das mit anhören mußt.« »Ich verstehe, daß ihr darüber reden müßt. Ich gehe raus und begrüße die Hunde.« Marie stand vom Sofa auf und nahm die leere Kaffeetasse mit in die Küche. Es war schon dunkel, als sie zum Stall gingen. Der Himmel war voller Sterne, und alle Geräusche wurden groß und deutlich; die Schritte unter ihren Füßen, das Rascheln von Stoff um ihre Körper. Sie flüsterten, als ob der Oktoberabend Ohren hätte, und sie hielten sich an der Hand wie zwei kleine Mädchen. Der Stall leuchtete von weitem mit seinen Reihen gelber Augen. »Es ist lange her, daß ich mit dir hier war«, flüsterte Marie. »Du wolltest ja nie mitkommen.« »Ich bin froh, daß ich es jetzt getan habe.« »Obwohl bei uns so viel gestritten wird?« »Ihr prügelt euch wenigstens nicht.« Sie waren fast beim Stall. Noch ein paar Meter, und sie standen im Lichtschein der Fenster. Marie hielt Anna am Arm fest, und die blieb stehen. Der Anorakstoff raschelte, als sie Anna an sich zog. Die Lippen waren weich und warm und der Mund halb geöffnet. Marie drückte ihre Nase an Annas Hals und sog ihren Duft ein. Ihre Blicke konnten sich nicht treffen, dazu war es zu dunkel. Sie schob ihre Hände unter Annas Anorak und den Rücken hinauf. Dieser vertraute Körper, Annas Körper. Sie kannte ihn so gut. Sie kannte all seine Eigenheiten und Geheimnisse, die Schutzmauern und Hintereingänge. Sie wußte, wie die Brüste sich in die Handfläche wölbten, wie die Haare in der Achselhöhle kitzelten, wie der Schlaf im Nacken roch. Sie wußte, wie stark die Beine waren, wie die Hüften sich rundeten, wie ihr Schoß schmeckte, wie die
Schamlippen aussahen, wenn sie sich geliebt hatten. Sie kannte Annas Körper besser als ihren eigenen. Ein vertrauter, wohlbekannter Körper, der im Lauf der Jahre ein bißchen schwerer und schlaffer geworden war, der sie aber immer noch mit Wärme und Liebe erfüllte. Es war schade, daß sie nicht mehr so elektrisiert wurde, nicht mehr naß wurde und erregt von diesem Körper, von dem sie einmal gar nicht genug bekommen konnte. »Ich liebe dich«, flüsterte sie Anna ins Ohr und spürte sofort die Antwort in der schweigenden Umarmung und der Wärme, die hell von Annas Herz zu ihrem strömte. Eine gefleckte Katze schlüpfte durch die Stalltür, als sie sie öffneten. Marie bückte sich, um sie zu streicheln, aber sie huschte scheu davon. »Sie hat gerade Junge bekommen«, sagte Anna. »Sie hat sie natürlich versteckt. Sie traut niemandem.« »Das kann man verstehen«, brummte Marie und schaute der Katze nach, die mit einem Sprung über den Futtertrog und die Absperrungen auf einem Balken auf gleicher Höhe mit den Milchund Vakuumröhren war. Sie wußte, Bengtsson erschlug die Katzenjungen, sobald er sie fand, und es half nichts, wie sehr sie auch für ihr Leben bat und bettelte. Im Stall war das Melken in vollem Gang. Die Vakuumpumpe gab wie ein Metronom den Takt an. Die Milch gluckste weiß in den Schläuchen, die in die Milchkammer und von da in den Tank liefen. Die Kühe waren angebunden, die großen Köpfe bewegten sich über den Futtertrögen, die großen Hinterteile über der Urinrinne. Die mächtigen Körper dampften vor Wärme. Es roch nach Ammoniak und Silage. Marie schaute gerne die Kühe an. Sie hatte ein bißchen Angst vor ihnen, auch wenn sie angebunden waren, sie hielt deshalb Abstand und beobachtete sie nur. Sie fand, daß sie so eine eigenartige Ruhe ausstrahlten. Als ob sie sich in der Mitte einer Achse befänden, ruhig und unberührt, wie sehr es auch an der Peripherie schaukeln mochte. Die Schiefertafeln, die über jeder Kuh hingen, waren eine Art Personalausweis mit Namen, Nummer, Geburtsdatum, Milchleistung, Fettgehalt der Milch, Inseminationsdatum, Datum des Kalbens und anderen Informationen, die aufgezeichnet werden mußten. Bengtsson taufte die Kühe. Es gab keine Blenda oder Blondie oder Stern. Aber es gab eine Kuh, die Anna, und eine, die Marie
hieß. Bengtssons Frau Signe lief zwischen drei Melkmaschinen hin und her und prüfte, ob eine Kuh fertiggemolken war. Sie strich über ein Euter, das schlaff und mit leeren Zitzen herabhing. Sie wog es in der Hand und drückte dann mit einer raschen Bewegung auf einen Knopf an der Unterseite der Melkmaschine, wodurch die Vakuumleitung gefüllt wurde und die vier Melkbecher wie eine welke Blume in ihre Hand fielen. Dann machte sie die Schläuche von den Leitungen an der Decke ab und ging zur nächsten Kuh. Anna ging zu ihr und sprach ein paar Worte mit ihr. Nach einer Weile streckte sie ihren Kopf hinter einer Kuh hervor, und ein paar blinzelnde Augen lächelten Marie freundlich zu. Marie lächelte zurück und vermutete, daß Anna gefragt hatte, ob sie die Kälber füttern durften. Sie gingen in die Milchkammer und holten zwei grüne Eimer und einen großen Schneebesen von der Spüle und rührten die Milchersatznahrung an. Dann gingen sie mit den Eimern zu den Kälberboxen. »Nein, ist das süß!« Das Kalb, das noch keinen Namen hatte, schaute Marie mit runden, braunen Augen unter langen Wimpern an. Es hatte einen weißen Stern auf der Stirn. »Da mußt du reingehen und ihm ein bißchen helfen«, sagte Anna und stellte die Eimer in die Halterung der Kälberbox. Marie kletterte über die Boxenwand zu dem Kalb, das gefüttert werden sollte. Erst bekam es Angst, wich aus und stieß mit dem Hinterteil gegen die Wand. Marie ging in die Knie und streckte die Hand aus. Sie sah, wie die Augen größer wurden und die Nasenlöcher sich weiteten. Es dauerte nicht lange, und das Kalb nukkelte an zwei Fingern und drückte sie gegen den Gaumen. Es saugte und schmatzte, aber es kam keine Milch. Marie versuchte, den Kopf in den Eimer zu lenken, es bekam auch ein paar Schlucke in den Mund, dann machte es eine zuckende Bewegung. Es schaute Marie an und muhte jämmerlich, und die Milch tropfte ihm vom Maul. »Am Anfang ist es immer schwer, später geht es leichter«, versuchte Marie zu trösten. »Du mußt lernen, von unten statt von oben zu trinken und die Milch
nicht durch die Nase einzusaugen und den Eimer nicht umzuwerfen, weil die Milch sonst ausläuft.« »Ich möcht mal wissen, ob Bengtsson wohl noch auftaucht oder ob er die ganze Nacht auf seinem Traktor sitzen will.« Anna hatte kaum ihren Satz zu Ende gesprochen, da hörten sie, wie Bengtsson seine Stiefel auf dem Zementboden vor der Milchkammer sauberstampfte. Er war ein großgewachsener Mann um die Sechzig in einem grünen Overall. Er nahm die Schirmmütze mit Werbeaufdruck vom Kopf und strich sich über die Haare, mit einer Faust, so groß wie ein Vorschlaghammer. »Feiner Besuch aus Stockholm!« grinste er, und jede Falte in seinem wettergegerbten Gesicht war zu sehen. Er kam zu ihnen und begrüßte zuerst Marie. Ihre Hand verschwand in der seinen wie in einem Baseballhandschuh, und es sah aus, als würde er einen dünnen Zweig schütteln, als er ihr die Hand gab. »Du warst lange nicht da. Ich dachte schon, ich würde dich hier überhaupt nie mehr sehen, aber da habe ich mich geirrt.« Er sprach in kurzen Sätzen. Als ob er Anlauf nähme, um eine schwere Tonne einen Abhang hinaufzurollen und über den Rand, wo sie dann mit einem schweren Poltern hinunterfiele. Bei Anna verschwand seine Unbeholfenheit ein wenig. Zwar strömten die Worte nicht gerade aus ihm heraus, aber sie kamen leichter und landeten weicher. Auch Anna veränderte sich in Bengtssons Gegenwart. Sie verwandelte sich von einer sechsunddreißigjährigen Frau in eine viel jüngere und wechselte außerdem irgendwo im Teenageralter das Geschlecht. Wenn sie mit Bengtsson zusammen war, wurde sie ein zehnjähriger Junge. Sie steckte die Hände in die Gesäßtaschen und schaute ihn unter dem Pony hervor an, stieß mit der Stiefelspitze ins Stroh und erzählte von dem Haus, das sie angeschaut hatten, und fragte ihn vorsichtig, was er dazu meinte. »Es ist viel Geld«, sagte er und kratzte sich im Nacken. »Aber wenn ihr es euch leisten könnt und das Haus euch gefällt, dann müßt ihr zuschlagen. Ihr müßt es als Investition in die Zukunft sehen.«
2
Marie zog das Fahrstuhlgitter zu und drückte auf den Knopf. Der Fahrstuhl brachte sie mit quietschenden Seilen ins Erdgeschoß. Sobald sie draußen war, füllte sie die Lungen mit Luft. Es war unerwartet kühl, und sie schlug den Mantelkragen hoch und ging mit großen, schnellen Schritten Richtung Stadt. Gelbe und rote Blätter wurden über den Fußpfad unten am Wasser gewirbelt, als ob jemand sie an einer Schnur befestigt hätte, um mit ihnen zu spielen. Sie dachte an die Laubhaufen, die sie unter den Apfelbäumen bei Annas Eltern zusammengekehrt hatten, und fragte sich, ob Karin sie wohl weggeräumt hatte, nachdem sie gefahren waren, oder ob der Wind schneller gewesen war. Marie machte einen Schritt zur Seite und zog die Füße nach wie ein Schlittschuhfahrer. Sie pflügte durch Berge von Laub, die aufgewirbelt wurden und über das Wasser davonflatterten. Sie lachte laut über ihr Benehmen und war beinahe glücklich. Als sie zur St. Eriksgatan mit dem morgendlichen Berufsverkehr kam, war auch das Unbehagen wieder da. Helen Källberg würde im Lauf des Tages vorbeikommen und ein persönliches Gespräch mit allen Angestellten im Reisebüro führen. Offiziell hieß es, sie wolle ihre Mitarbeiter kennenlernen und umgekehrt. Aber es bestand der Verdacht, es sei nur ein Scheinmanöver, ein pfiffiger Schachzug aus dem Hauptquartier. Der Branche ging es insgesamt nicht gut, und viele machten sich Sorgen um ihren Job, auch die freiesten Vögel, weil die unbesetzten Zweige, auf die man sich flüchten konnte, knapp wurden. Wenn es gelang, die Solidarität unter den Angestellten aufzubrechen, sie glauben zu machen, daß sie die eigene Haut retten konnten, wenn sie der neuen Chefin nach dem Mund redeten, würde es am Ende leichter sein, einzelne Leute herauszupicken. Wenn man die Gewerkschaft draußen halten konnte, versteht sich. Aber der Organisierungsgrad war schlecht. Sie selbst war auch nicht Mitglied, weil sie sich nicht mit ihrem Beruf identifizierte. Es war als vorübergehende Lösung gedacht gewesen, die jetzt
permanent geworden war. Obwohl sie von Anfang an mit dem Gedanken gespielt hatte zu kündigen, spürte sie jetzt doch, wie sich alles in ihrem Bauch zusammenzog, wenn sie daran dachte, daß sie vielleicht eine von denen war, die gehen mußten. Sie ließ sich oft krankschreiben. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrem Job – weder mit den Kollegen noch mit den Aufgaben. Sie ließ gerne andere zuerst das Telefon abnehmen und die Kunden oft wieder gehen, anstatt sie festzunageln, um zu einem schnellen Abschluß zu kommen. Sie war eigentlich eine miserable Verkäuferin, und das wußte sie auch. Manchmal riß sie sich zusammen, wenn sie eine höhere Provision brauchte und es nicht über sich brachte, am Monatsende Anna um Geld anzubetteln. Aber sie schaffte es nie, sich über einen längeren Zeitraum zu motivieren. Sie konnte, wenn sie wollte. Aber sie wollte meistens nicht. Irgendwie sehnte sie sich danach, daß jemand zu ihr sagte: »Dieser Job liegt dir nicht. Er hat dir noch nie gelegen und wird dir nie liegen. Es ist also am besten, du hörst gleich auf damit.« Sie widerspräche nicht, wenn jemand das zu ihr sagte. Die Frage war, was sie statt dessen machen sollte. Wenn sie doch nur eine Berufung hätte, einen Sinn in ihrem Leben gesehen hätte. Aber nichts trieb sie voran. Sie kam sich vor wie der kleine Japaner, der bei ihr seine Reisen buchte; er reiste nicht mehr, weil er neugierig war, sondern weil es das einzige war, was noch blieb, wenn alles andere ihn mit Leere füllte.
Es fing an zu regnen, als Marie auf der Centralbron war. Erst ein paar Tropfen, die ihr nichts ausmachten, aber kurz darauf folgte ein richtiger Wolkenbruch, und sie mußte das letzte Stück laufen. Als sie zum Reisebüro kam, ging sie naß und tropfend in die Toilette und schloß sich ein. Der Brustkorb hob und senkte sich heftig nach dem Dauerlauf. Die blonden Haare klebten am Kopf, und nasse Strähnen hingen ihr über die Schultern, als ob ihr jemand einen Mop auf den Kopf gesetzt hätte. Die
Wimperntusche löste sich auf und lief ihr über die Wangen. »Du siehst aus wie eine Hure«, tönte es aus einem dunklen Korridor in ihrem Hinterkopf. Sie senkte den Blick, ohne zu widersprechen, und wünschte, der Tag wäre schon vorbei. Marie hatte ihre neue Chefin erst einmal getroffen. Das war vor ungefähr einem Jahr bei einem Katalogkurs. Sie hatte Helen Källberg als sehr elegante Frau in Erinnerung, sie hatte sie gerne angeschaut und ihr gerne zugehört, aber sie hatte sich auch davor gehütet, in ihre Nähe zu kommen. Sie wußte, daß Helen ursprünglich aus Griechenland kam, obwohl sie einen schwedischen Nachnamen hatte und akzentfrei Schwedisch sprach. Aber das Wissen um Helens Vergangenheit machte Marie nervös. Rosmarie kam aus der Personalküche und klapperte auf Stahlabsätzen zu Maries Platz. »Helen möchte jetzt mit dir sprechen«, sagte sie, und es gelang ihr fast, ein gemeines Grinsen zu unterdrücken. Helen stand an der Spüle und wusch die Kanne der Kaffeemaschine mit heißem Wasser aus und versuchte gleichzeitig, einen Schrank aufzumachen, zu dem sie nicht ganz hochreichte. Sie sah aus wie eine Seiltänzerin, die zwischen zwei entgegengesetzten Bewegungen balancierte, der Schwerpunkt lag ungefähr da, wo der pepitagemusterte Rock um Hüften und Oberschenkel spannte. Marie blieb in der Tür stehen und wartete darauf, daß Helen sich umdrehte. Sie dachte, Helen suche vermutlich den Kaffee, der in einer Dose neben der Kaffeemaschine stand, weil sie eine Schranktür nach der anderen aufmachte. Marie ging zur Kaffeemaschine und hob die Dose hoch. »Hier.« Helen zuckte zusammen und drehte sich um. Sie starrte Marie an wie ein Gespenst.
»Hast du mich erschreckt!« »Entschuldige. Ich dachte, du hättest mich kommen gehört.« »Schleichst du dich immer so an die Leute ran?« Die dunkelbraunen Augen waren wieder ein wachsamer Scheinwerfer und kein offenes Fenster. »Ich wollte dich überhaupt nicht erschrecken«, antwortete Marie und setzte sich an den Küchentisch. Helen drehte sich um und beendete, was sie angefangen hatte. »Das Gebräu, das in der Kanne war, ist viel zu schwach für meinen Geschmack. Ich hoffe, du hast ihn nicht gemacht. Wenn doch, mußt du mich entschuldigen.« Marie verzog den Mund. Bestimmt hatte Rosmarie den Kaffee aufgesetzt. »Ich bin dabei, mir ein Bild zu machen – nimmst du Zucker in den Kaffee? –, wer in der Region arbeitet«, sagte Helen und setzte sich, um gleich wieder aufzustehen. »Nein, ich nehme Milch, aber ich kann sie selbst holen.« Marie mußte um den Tisch herumgehen, um zum Kühlschrank zu gelangen. Sie dachte, ich muß mich an Helens Stuhl vorbeiquetschen, ohne sie zu berühren. Das gelang ihr auch, aber als sie die Kühlschranktür aufgemacht hatte, wußte sie nicht mehr, was sie da wollte. Sie sah nur ein einziges Durcheinander von Bechern und Verpackungen, auf die mit schwarzem Filzstift Namen geschrieben waren, braune Bananen und halbaufgegessene Brote. Auf dem Rückweg zu ihrem Platz stieß sie dann doch an Helens Stuhl, so daß die Handtasche mit einem lauten Klirren von Schlüsseln und Schminkutensilien zu Boden fiel. »Hier steht, du arbeitest seit sieben Jahren für uns und hast davor in Griechenland und Deutschland in der Tourismus- und Dienstleistungsbranche gearbeitet. Stimmt das?«
»Ja.« »Mil’te ellenika?« »Nein, lieber nicht.« Helen beugte sich vor, die Lippen glitten über weißen Zähnen auseinander, und ein dunkler Schatten zeigte sich auf der Oberlippe. Sie glich einem Rennhund, der gerade richtig in Fahrt gekommen war. »Warum nicht? Nach dem, was ich gehört habe, sprichst du richtig gut Griechisch.« Marie errötete. Helen kam ihr mit ihren Fragen plötzlich viel zu nah. Es stimmte, daß sie fließend Griechisch sprach, aber zur Zeit nie in nüchternem Zustand. »Das ist eine lange Geschichte, die heben wir uns für ein anderes Mal auf«, antwortete sie und spürte, daß sie schon zu viel gesagt hatte.
Als Marie aus dem Aufzug stieg, roch es noch intensiver nach frischgebackenem Kuchen als auf dem Weg nach oben. Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und machte die Wohnungstür auf. »Hast du heute abend keine Vorlesung?« rief sie in die Küche. »Ich habe geschwänzt«, sagte Anna und schob ein Blech mit Zimtschnecken in den Ofen. »Wenn das deine Schüler wüßten.« »Niemand würde es besser verstehen als sie.« Marie hängte ihren Mantel auf und stellte sich in die Tür. »Du scheinst nicht sehr erfreut zu sein, mich zu sehen«, sagte Anna. »Ich bin müde.« Marie hob das Handtuch hoch und schaute die frischgebackenen Zimtschnecken
an. »Darf ich eine nehmen?« »Natürlich darfst du eine nehmen. Aber ich habe gerade Kaffee aufgesetzt. Wenn du so lange warten kannst.« Marie nahm Tassen und Teller mit ins Wohnzimmer und legte sich dann aufs Sofa. Sie war müde, aber sie hatte auch nicht erwartet, daß Anna zu Hause sein würde. Sie schloß die Augen, und sofort traten Bilder von Helen hervor. Sie hatte winzige Kleinigkeiten bemerkt, die sie jedoch nicht richtig hatte studieren können. Einen goldenen Anhänger um den Hals, wie eine Orchidee geformt und mit gefaßten Steinen, die in der Spalte zwischen den Brüsten glitzerten. Ein Muttermal am Hals, eine Locke, die ihr immer wieder in die Stirn fiel. Ihre Art, immer zwei Dinge gleichzeitig zu machen, und ihr Eifer, als sie schließlich doch über Griechenland redeten. Ihr Lachen und die Wärme ihres Handschlags, als sie sich trennten. »Du siehst völlig fertig aus«, sagte Anna, als sie mit dem Kaffee hereinkam. »Du hast doch deine neue Chefin getroffen. Wie ist es gelaufen?« Marie setzte sich mit einem Gähnen auf. »Ich weiß nicht«, sagte sie und gähnte noch einmal. »Sie hat mich gefragt, wie mir die Arbeit gefällt und ob das der Job ist, den ich am liebsten mache.« »Und was hast du geantwortet?« »Ja, was soll man darauf sagen? Ich habe Angst, rausgeworfen zu werden. Ich kann wohl kaum sagen, daß ich es verabscheue hinzugehen. Ich weiß ja auch nicht, was ich statt dessen machen sollte.« »Das weißt du sehr wohl«, sagte Anna leise. »Hör jetzt bitte auf damit«, sagte Marie und nahm sich eine Zimtschnecke. »Ich habe überhaupt nichts gesagt.« »Nein, aber ich weiß, was du sagen willst, und ich habe keine Lust, darüber zu diskutieren.«
»Du könntest ein Studium anfangen.« »Meinst du, ich sollte feministische Pädagogik studieren, damit du jemanden hast, mit der du diskutieren kannst, wenn du nach Hause kommst? Willst du das sagen? Daß ich deinen abstrakten Gedanken ... wie sagt man?« »Gängen?« »Nein.« »Bahnen?« »Schämst du dich für mich?« fragte Marie und drehte sich zu Anna um. »Nein. Ich möchte nur, daß du glücklich bist.« »Es ist lange her, daß ich solche Forderungen ans Leben gestellt habe.« Marie biß ein Stück Zimtschnecke ab, und es wurde in ihrem Mund immer größer. Sie konnte es nicht bremsen. Sie konnte den Anblick nicht verscheuchen. Es war, als ob sie ganz plötzlich unter dem Einfluß einer halluzinatorischen Droge stünde. Als ob der vom Gegenlicht beleuchtete Pickel auf Annas Nase eine chemische Reaktion in ihrem Gehirn ausgelöst hätte, der Annas Gesicht zu einer gemeinen Karikatur verzerrte. »Woran denkst du?« Marie rührte sich nicht und antwortete auch nicht. War das der Anfang vom Ende? Sie wagte kaum, den Gedanken zu denken. Hatte Angst, auch er könnte sich festsetzen. Aber genau wie das Zerrbild biß der Gedanke sich immer fester, je mehr sie versuchte, ihn loszulassen. War das das Ende? Sie sah eine schwarz-weiß gewürfelte Flagge im Wind flattern. Der Wettlauf war zu Ende. Das entfernte Brausen des Publikums. Ein Gefühl der Erleichterung. »Ist es die Arbeit?« fragte Anna noch einmal.
Marie faltete die Hände im Schoß. »Dieses verfluchte Reisebüro«, murmelte sie. »Es frißt mich auf wie Krebs. Bald ist nichts mehr von dem übrig, was mich ausmacht. Was immer das sein mag«, fügte sie hinzu und lachte auf.
3
Anna sah nur das blaue Wasser des Beckens, weiße Kacheln und die anderen Menschen, die sich im gleichen Wasser bewegten, im gleichen Raum, aber in anderen Bahnen. Sie sah, ohne etwas zu sehen, sie hörte, ohne etwas zu hören; das Gewicht des Sprungbretts, das Brett, das in die Luft wippte, das Kreischen und Planschen der badenden Kinder. Sie bewegte sich mit ruhigen, kraftvollen Zügen durchs Wasser und dachte an das Haus. Sie dachte daran, daß sie schon im Januar mit dem Renovieren anfangen könnten. Sie sah vor sich, wie es Frühjahr wurde, wie es wäre, auf der Steintreppe zu sitzen und während einer Arbeitspause eine Tasse Kaffee zu trinken. Nah beieinanderzusitzen. Ein bißchen zu reden, zu fühlen, wie die Lust wiederkam, die Freude und das Lachen. Sie war schon auf der Bank gewesen und hatte einen Kreditantrag geholt. Der Gedanke an das Haus, das ihres werden könnte, machte sie so aufgeregt, daß sie sich kaum bremsen konnte. Aber sie mußte sich ein bißchen zurückhalten, bis Marie sich entschieden hatte. Eine Frau mit einer wilden, feuerroten Mähne kam ihr entgegengeschwommen. Es war Barbro, ihre engste Freundin und Kollegin in der Schule. »Siebenundzwanzig«, sagte Barbro, als sie bei ihr war. »Ich höre auf.« »Wartest du auf mich?« fragte Anna. »Ich bin in der Sauna.« Anna schwamm weiter. Sie wollte mindestens noch fünfhundert Meter schaffen, ehe sie aus dem Wasser stieg. Sie wäre sonst unzufrieden mit sich. Die Donnerstage mit Barbro im Schwimmbad und das Bier danach waren ein fester Bestandteil ihres Lebens geworden. Für eine Weile konnte sie alles andere fallenlassen und sich nur darauf konzentrieren, nicht unterzugehen.
Sie hatte sich mal wieder zu viel vorgenommen. Daß sie einen Abend die Uni schwänzte, bedeutete nur, daß sie am nächsten Tag die halbe Nacht aufbleiben mußte, nachdem sie Aufsätze korrigiert und die Unterrichtsstunden des nächsten Tages vorbereitet hatte und mit den Eltern schwänzender Teenager gesprochen hatte. Dann war im Haus Vorstandssitzung, die sie mit dem Kassenwart des Vereins vorbereiten mußte. Sie würden einen neuen Kredit aufnehmen müssen, um das Dach neu decken zu lassen. Was auch bedeutete, daß die Umlage erhöht werden mußte. Und dann mußte sie noch für das Essen am Freitag einkaufen. Sie hatte Maggan und Siv eingeladen, die besaßen schon seit vielen Jahren gemeinsam ein Haus. Die wußten, was Sache war. Wo der Traum aufhörte und die Wirklichkeit begann.
Als Anna in die Sauna kam, war es schon ziemlich voll. Kleine Mädchen drängten sich zu zweit auf einem Handtuch. Wer keinen Platz auf den Bänken fand, stand oder hatte sich auf den Boden gesetzt. Auf der obersten Bank lag Barbro und sorgte für böses Blut. Als sie Anna bemerkte, setzte sie sich und schlug mit der Hand auf die Bank, auf der sie ihre langen Beine ausgestreckt hatte. »Komm rauf und setz dich«, rief sie. Anna kletterte Entschuldigungen murmelnd zu Barbro hinauf und setzte sich neben sie. »Na, wie viele Bahnen hast du geschafft?« »Ich weiß nicht«, antwortete Anna und versuchte, sich anzulehnen. »Natürlich weißt du es. Laß hören.« »Fünfzig, aber die letzten Wenden habe ich kaum mehr geschafft.« Anna schloß die Augen und spürte, wie die Schulterblätter an den Holzbrettern brannten. »Aber du hast dich gezwungen. Hundert Meter mehr als letzten Donnerstag. Wenn du so weitermachst, werde ich demnächst gelyncht in der Sauna.«
»Du hättest mir keinen Platz freihalten müssen.« »So habe ich es nicht gemeint.« »Wie hast du es denn gemeint?« »Ich meine, es würde dir guttun, ein bißchen langsamer zu machen«, sagte Barbro und drückte mit dem Daumen auf den Oberschenkel, so daß sie die Schweißtropfen zum Knie hin schieben konnte. »Du beklagst dich doch immer darüber, daß du nie Zeit für dich hast und daß du mit Marie nur noch das Bett teilst. In dem ihr doch nur schlaft ...« »Das war ein Scherz«, unterbrach Anna sie. »Aber vielleicht lag doch ein bißchen Ernst darin.« »Können wir bitte woanders darüber reden?« »Ich wollte dich nur auf ein Muster aufmerksam machen, das ich gesehen habe.« »Barbro, bitte.« »Ich frage mich, ob du dich nicht selbst betrügst.« »Hör jetzt bitte auf!« Anna nahm ihr Handtuch, verließ die Sauna, ging unter die Dusche und drehte den Thermostat auf Blau. Sie keuchte, als der Strahl sie traf. Sie nahm das Duschgel und schäumte ihren Körper ein wie eine Wahnsinnige, als ob sie Barbros Kommentare so abwaschen könnte. Es fiel ihr plötzlich ein, daß Barbro vielleicht jemandem in der Schule etwas von ihrem und Maries Zusammenleben erzählt haben könnte. War ihr das wirklich zuzutrauen? Als sie die Seife aus dem Gesicht spülte, sah sie, daß Barbro aus der Sauna kam. Sie war am ganzen Körper rot und dampfte, die Haare standen wie eine Löwenmähne um ihr herzförmiges Gesicht. Anna drehte sich schnell weg, aber sie wußte, daß Barbro auf dem Weg zu ihr
war. Im nächsten Moment spürte sie Barbros Hand auf ihrer Schulter und sah den sommersprossigen Körper in die Dusche kommen. »Entschuldige, Anna. Ich bitte dich um Verzeihung«, brachte Barbro hervor. »Kannst du mir verzeihen?« Anna sah die ausgestreckte Hand, brachte es jedoch nicht über sich, sie zu nehmen. Statt dessen spürte sie, wie die Wut sich wie eine Brandblase in ihrem Körper ausbreitete, und sie spuckte, mit der Absicht zu treffen: »Du hast es gerade nötig, etwas zu sagen! Du hast dich doch durch jeden einzelnen Jazzclub in dieser Stadt gevögelt. Und dann beschwerst du dich, daß die Männer immer nur das eine wollen. Von wegen Selbstbetrug. Du rennst doch weg, sobald ein Mann es ernst meint.« Anna sah, wie Barbro blaß wurde und Richtung Umkleidekabine verschwand. »Komm zurück! Verlaß mich nicht auch noch!«
4
»Schau mal nach der Lasagne. Ich glaube, sie ist bald fertig. Ich versteh gar nicht, warum es immer so viel Geschirr gibt.« »Weil ich versprochen habe abzuwaschen«, sagte Marie und prüfte die Lasagneplatte mit einer Gabel. »Wie fühlt es sich an?« »Bald fertig.« Anna stellte sich ans Küchenfenster und hielt auf der Straße nach Maggans altem Opel Ausschau. »Wo sie bloß bleiben?« sagte sie und schaute auf die Uhr. »Sie sind bestimmt zurückgefahren, weil Siv vergessen hat, Labans Futternapf auf den Boden zu stellen. Oder das Kaninchen hat das Telefonkabel durchgebissen, und sie können nicht anrufen und sagen, daß sie die Katze nicht ins Haus bekommen haben.« »Wenn sie die große Töle dabeihaben, verlasse ich die Wohnung nicht«, brummte Anna. »Dann könnt ihr ohne mich ausgehen. Er wird nicht noch mal was aus meinem Schrank anknabbern.« Anna korkte den Rotwein auf und ging dann ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Sie faltete die Jeans und legte sie in den Korb mit der Schmutzwäsche. Dann machte sie den Kleiderschrank auf, holte ein paar schwarze Jeans heraus und warf sie aufs Bett. Sie sah die Blusen durch und entschied, den letzen Spontankauf mit der Aufschrift »We shall overcome« auf dem Rücken einzuweihen.
Sie zog die neue Bluse an und fragte sich bei jedem Knopf, was zwischen ihr und Marie nicht mehr klappte. Es war klar, daß die Beziehung nicht mehr so taufrisch und spannend war wie vor fünf Jahren, als die andere noch ein unerforschter Kontinent war. Jetzt war die Herausforderung nicht so sehr, sich gegenseitig zu verstehen, sondern viel mehr die eigene Persönlichkeit zu entdecken und weiterzuentwickeln. Und da war es wohl schiefgelaufen. Marie wagte sich nicht richtig in das Abenteuer. Sie war es gewohnt, daß andere die Spannung in ihrem Leben lieferten. Sie traute sich nicht, selbst die Expedition anzuführen, obwohl alles darauf hindeutete, daß es höchste Zeit war, Neuland zu betreten. Sie mochte ihre Arbeit nicht, sie war ständig müde und hatte nie Lust zu etwas, sie war oft ärgerlich und kurz angebunden, und Sex wollte sie auch nie. Sie ergriff auch keinerlei Initiativen, was das gemeinsame Leben betraf. Alles, vom Einkaufen über Putzen und Mitdem-Geld-Auskommen, bis hin zu den Weihnachtskarten, der Urlaubsplanung und den Essenseinladungen überließ sie nur zu gerne ihr. Anna setzte sich aufs Bett, zog die Socken aus und schleuderte sie mit Kraft Richtung Wäschekorb. Wie immer, wenn sie ärgerlich war, traf sie nicht und mußte aufstehen und sie aufheben. Wenn sie nur an die Geige dachte, die sie Marie zum dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte. Maries Mutter hatte nie Geld für eine Geige gehabt, außerdem hatte sie behauptet, das Gejaule würde ihre Migräne verschlimmern. Also hatte Marie nicht das machen können, wozu sie offenbar am begabtesten war, und so konnte sie hemmungslos und jederzeit im eigenen Unglück baden. Und da war es nur folgerichtig, daß sie die Geige nach einer Woche zerbrach und dann ein Jahr lang die Decke über den Kopf zog und sich in allem suhlte, was in ihrem Leben je kaputtgegangen war. Warum, warum, dachte Anna und zog frische Socken an, ging es nur nicht in Maries Kopf, daß man, um dahin zu gelangen, wo man hinwollte, mit dem ersten Schritt beginnen mußte.
Marie goß sich ein Glas Wein ein und stellte es auf die Abzugshaube. Sie hatte
eigentlich keine Lust auf Maggan und Siv. Es waren ursprünglich Annas Freundinnen gewesen, obwohl sie die beiden jetzt auch zu ihren Freunden zählte. Maggan war sehr unterhaltend, und auch Siv hatte ihre komischen Seiten. Aber gerade heute abend hatte Marie den Verdacht, daß es einen Hintergedanken für die Einladung gab. Sie hatte das Formular für einen Kreditantrag auf Annas Schreibtisch gefunden, als sie einen Reiseprospekt suchte. Was sie so wütend machte, war, daß die Formulare unter einem Stapel von Papieren von der Uni lagen. Als ob sie sie nicht sehen sollte. Marie trank einen großen Schluck Wein und steckte die Hände ins Spülwasser, daß es auf den Boden spritzte. Sie dachte, Anna sei eigentlich eine miserable Pädagogin. Eine von der Sorte, die ständig etwas übernahmen und anderer Leute Initiative abtöteten. Hoffentlich hatte sie mit ihren Schülern mehr Geduld. Sonst sollte sie aufhören, Lehrerin zu sein. Sie sollte vielleicht Geld damit verdienen, anderer Leute Leben zu verwalten, anstatt das in ihrer Freizeit zu machen. Dieser Kurs an der Uni hatte sie auch nicht runtergeschraubt. Es schien so, als ob sie sich um so mehr um andere Menschen kümmerte, je mehr sie zu tun hatte. Anna war so verflucht kompetent in allem, was sie tat, dachte Marie und zog den Stöpsel aus dem Spülbecken. Das einzige Gebiet, auf dem Anna keine Chance zum Brillieren hatte, war die Musik. Sie konnte nicht mal einen normalen Vierertakt halten. Außerdem hatte sie einen banalen Musikgeschmack. Marie nahm noch einen Schluck Wein und spürte, daß es sie überall am Körper juckte. Sie war schon die ganze Woche unruhig gewesen, seit dem Zusammentreffen mit Helen Källgren. Es saß wie ein Juckreiz direkt unter der Haut, und sie sehnte sich danach, sich zu bewegen, zu tanzen und sich zu betrinken.
Anna stellte die Lasagne wieder in den Ofen. Sie war froh, daß die Gäste endlich aufgetaucht waren. Sie und Marie waren den ganzen Abend kurz vor einem Krach umeinandergeschlichen. Es brodelte unter der Oberfläche, viel hätte nicht gefehlt, und es hätte sich entzündet und gebrannt. Aber in Maggans Gegenwart legte sich die Wut. Man konnte nicht gleichzeitig wütend sein und lachen. Maggan erinnerte an einen Reporter in einer
Lifesendung, der das Publikum bis zum nächsten Werbespot bei der Stange halten mußte. Und Siv folgte mit einem halben Schritt Abstand und hob auf, was Maggan übersprungen hatte, oder sortierte aus, was nicht zur Geschichte gehörte. Sie saßen nebeneinander auf der Küchenbank. Maggan, groß und breit, mit silbergrauen Haaren, die ihr lang über den Rücken fielen. Ein Überbleibsel aus den siebziger Jahren, mit Breitcordjeans, Gesundheitsschuhen und selbstgestrickter Wolljacke. Siv hingegen war klein und sehnig wie eine Bergbirke. Sie hatte helle, fast weiße Haare und kornblumenblaue Augen. Sie arbeitete in einer Baumschule, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Die übrige Zeit war sie unterwegs in ihren inneren Welten. Sie waren so verschieden, dachte Anna und goß ihnen Wein ein. War das das Geheimnis? Hatten sie sich deshalb gegenseitig behalten, ohne sich selbst zu verlieren? Anna schaute Marie aus dem Augenwinkel an. Sie stand an der Spüle und rieb Parmesan. Sie wollte Maggan und Siv nach dem Rezept fragen. Wie wurde man glücklich? Wie hielt man die Liebe am Leben? »Ich möchte einen Toast ausbringen«, sagte Maggan und erhob ihr Glas. »Du kannst vielleicht warten, bis alle sitzen«, wandte Siv ein. »Laß das Reibeisen, Marie, komm und setz dich!« Marie legte den Käse weg und spülte die Hände ab. »Worauf stoßen wir an?« »Wir stoßen auf dich und Anna an. Prost auf Anna und Marie! Und viel Glück für euer neues Haus.«
»Auf dem Land wohnen ist sehr interessant, das habe ich oft gedacht, seit wir umgezogen sind«, stellte Maggan fest und wiegte sich so sehr mit dem Körper,
daß der Wein im Glas rotierte. »Woran denkst du dabei?« »Ich denke zum Beispiel an die Nachbarin, die ich zu fragen pflege, wenn ich was nicht verstehe.« »Oder wenn du dir etwas borgen mußt«, fügte Siv hinzu und griff nach der Salatschüssel. »Ja, Britta hat immer eine Antwort oder einen Schraubenschlüssel für einen in Not geratenen Stockholmer. Außerdem backt sie wunderbare Mandeltörtchen.« Siv nickte zustimmend und schob eine Tomate in den Mund. »Ich hatte auf jeden Fall eine Menge Vorurteile gegen Leute, die auf dem Land wohnen«, fuhr Maggan fort. »Als ich neulich drüben war, um ein paar Sicherungen zu leihen, habe ich mit Britta gescherzt und gesagt, daß sie alle meine Vorurteile bestätigt habe. Und da sagte sie, das hätte ich auch. Erst war ich ein bißchen baff, aber dann fragte ich sie, ob sie meine, es hilft, wenn ich kalt dusche oder Holz hacke, wenn ich den Sog verspüre.« »Maggan dachte an den Sog in die Großstadt«, verdeutlichte Siv mit dem Mund voll grünem Salat. »Und woran dachte Britta?« fragte Marie und drehte zerstreut eine Haarsträhne um den Finger. »Britta dachte an etwas ganz anderes«, sagte Maggan lachend und verdrehte die Augen. »Aber das verstand ich nicht, bis wir noch eine ganze Weile über allerlei Vorurteile geredet hatten, wie sie entstehen und verbreitet werden.« »Manchmal bist du ausgesprochen langsam«, sagte Siv trocken. »Aber wer kann denn schon den ganzen Tag herumlaufen und an sich selbst als lesbisch denken. Da würde man ja verrückt werden.« »Deine Nachbarin muß ziemlich viel an dich als lesbisch gedacht haben. Hat dich das nicht geärgert?«
»Man kann auf eine Bauersfrau nicht böse sein. Auf jeden Fall nicht auf eine, die sagt, Vorurteile seien wie Wiesenhafer: Er gleicht der echten Saat, hat jedoch keinen Kern.« Maggan wippte mit dem Glas, daß der Rotwein von Glasrand zu Glasrand sauste. »Ist das nicht das Zeug, das man von Hand sammeln muß?« fragte Marie und schob die Lasagne zu Anna hinüber. »Es ist sogar gesetzlich vorgeschrieben«, verkündete Anna und füllte ihren Teller. »Das habe ich meine ganze Kindheit lang im Sommer gemacht. Eine Krone pro Sack. Dann wurde das Ganze verbrannt.« Sie dachte daran, daß sie irgendwie auch in ihrem Unterricht Wiesenhafer sammelte. Auch das war eine schreckliche Plackerei, aber das einzige, was gegen Vorurteile half. Sie war nur so müde geworden. Bald unterstützten nur noch Barbro und ein paar vergessene Zielvorstellungen im Lehrplan ihre Art des Unterrichtens. Die Schule, so wie sie sie kannte, wurde eingerissen und von Grund auf neu gebaut. Das bedeutete eine unendliche Menge an Mehrarbeit, Verwirrung und Turbulenzen, und sie hatte oft gute Lust, einfach abzuhauen, auf alles zu pfeifen, aufs Land zu ziehen und Mohrrüben anzupflanzen. Aber sie tat es nicht, sie blieb und stritt für das Recht der Berufszweige auf einwandfreien Unterricht, für die Anschaffung von Geschichtsbüchern, in der die Menschheit in zwei Geschlechtern vorkam, und für Zusatzunterricht in Schwedisch für Schüler mit fremden Muttersprachen. Der Wind würde sich wieder drehen, wie immer, aber wie lange würde es dauern? Der Kurs an der Uni gab ihr Kraft und Wut, um weiterzukämpfen. Aber Lust und Freude, woher nahm sie die? Sie sah Marie auf dem Stuhl neben sich aus den Augenwinkeln an. Die Leggings, die sie letzte Woche gekauft hatte, legten sich um ihre langen Beine. Es sah gut aus. Marie konnte immer noch Sachen anziehen, die mehr hervorhoben als verbargen. Auch das Oberteil war neu. Es würde ihre nackten Schultern zeigen, wenn sie das Jackett auszog.
Sie hatte Nylonstrümpfe an. Das bedeutete Pumps und mindestens zehn Zentimeter Größenunterschied. Anna trank einen Schluck Wein. Vielleicht ging sie nicht mit den anderen aus. Sie war eigentlich viel zu müde für das Getriebe in der Stadt. Es war immer so hysterisch. Als ob alle Frustrationen der Woche unbedingt in der Öffentlichkeit abgehandelt werden müßten. Beim ersten sich streitenden Paar würde sie ein Taxi nehmen und nach Hause fahren. Mit oder ohne Marie. Ihre Schwelle war nicht mehr sehr hoch. Das kam vom Alter. Sie hatte einfach zu viel gesehen. Zu viel Streit, Intrigen und Betrunkenheit. Und Verrat, so gemein, daß man nur staunte. Lesbische Frauen konnten so grausam sein. Vielleicht weil es unter ihnen keine mehr gab, die man treten konnte? Oder kam es von der psychologischen Konstellation zwischen Frauen? Oder war es bei allen Liebenden gleich? Gehörte es zu den Spielregeln der erotischen Liebe? Anna nahm noch eine Portion Lasagne und dachte, sie müsse nach den Feiertagen abnehmen.
Sie fuhren mit dem Taxi zum Sveavägen. Anna bezahlte und ging dann zu den anderen, die sich schon angestellt hatten. »Warum lassen sie uns nicht rein«, hörte sie Maggan schimpfen, sie war einen Kopf größer als alle anderen. »Sie verzögern den Einlaß absichtlich, damit wir den vollen Eintritt bezahlen müssen«, antwortete ein rothaariges Mädchen in einer Lederjacke. »Wieviel Uhr ist es?« fragte jemand. »Fünf vor zehn«, antwortete jemand. »Verflucht, ich kann es mir nicht leisten, siebzig Kronen nur fürs Reinkommen zu bezahlen. Ich stehe schon seit einer Viertelstunde hier. Ich mach mir gleich in die Hose.«
Ein Mädchen mit Punkfrisur und Lederrock versuchte, sich an den Türwächtern vorbeizudrängen. Sie argumentierte, bettelte, bat und beleidigte, bis sie endlich drin war. Je näher es auf zehn zuging, desto gereizter wurde die Stimmung in der Warteschlange. »Laßt uns rein, verdammt!« »Wir Frauen haben nicht so viel Geld wie die Schwulen!« Anna klappte den Mantelkragen hoch und dachte wie jedesmal in so einer Situation: Wenn jetzt ein Schüler vorbeikommt und mich hier stehen sieht. Dann ärgerte sie sich über sich selbst.
Marie ließ die anderen am Tisch vor ihrem Bier sitzen und verschwand Richtung Diskothek. Sie spürte die Blicke, als sie am Rand der Tanzfläche stand und versuchte, so zu tun, als ob sie jemanden suche. Es war noch früh und das Gedränge noch nicht überwältigend. Aber Blicke und Gesten waren voller Spannung. Frauenkörper, die sich im Takt der Musik unter blinkenden Lampen bewegten. Manche steif und nur vor und zurück, als ob sie ständig an ihre Grenzen stießen. Andere nahmen die Herausforderung der Musik an, benutzten sie, um den Lebensraum zu erweitern. Aber die meisten Frauen standen um die Tanzfläche herum oder bewegten sich genau wie Marie unruhig durchs Lokal. Manche suchten sicher nach jemandem, mit der sie verabredet waren, aber die meisten zirkulierten wie in einem ewigen Kreislauf. Marie schaute in ein Paar braune Augen, die ganz nah vorbeikamen. Es war ein junges Mädchen, kaum über zwanzig. Sie drehte sich um, um zu sehen, ob Marie ihr nachschaute. Dann ging sie auf die Tanzfläche und wiegte die Hüften im Takt von Madonna.
Worüber redet man hinterher mit ihr, dachte Marie. Über die Jugendarbeitslosigkeit? Sie bewegte sich von der Diskothek weg und schaute sich weiter um. Sie kannte ziemlich viele, aber keine, die sie direkt hätte ansprechen können. Das fehlte ihr. Ihr fehlte eine enge Freundin, mit der sie ihre Gedanken teilen konnte. Eine, die ihr zuhörte, wenn sie ihre Unruhe und ihre Zweifel Anna betreffend formulierte, ohne verletzt zu sein oder es weiterzutragen. Lena fehlte ihr und die alte Gruppe, die sie irgendwie verloren hatte. Und ihr fehlte ... Gott, wie allein gelassen sie sich fühlte. Es brannte in der Brust, als sie die Treppe hochstieg, sie mußte die Luft anhalten, um nicht zu weinen. Als sie in den zweiten Stock kam, ging sie zum Geländer und schaute auf das Atrium hinunter. Da unten wurde es allmählich voll. Wie so oft, wenn sie mit Anna ausging, spürte sie, daß sie alt wurde. Überall waren so viele junge Mädchen. Sie konnte auch kaum glauben, daß sie wirklich alle lesbisch waren. Man sah es ihnen nicht an, und doch küßten sie sich und flirteten, als ob sie nie etwas anderes gemacht hätten.
Anna löste sich aus der Umarmung, schob Marie weg, machte einen Schritt zurück und zog sie im nächsten Takt wieder an sich. Dann drehten sie sich rückwärts, gingen auseinander und wieder in die Umarmung. Maries Haare flogen, ihre Wangen waren rot, Arme und Schultern nackt, und Anna dachte, daß Marie sehr schön war und bestimmt viele sie anschauten, wenn sie tanzten. Anna fragte sich, ob Marie das wußte und ob sie es wohl genoß. Ob das sie so lüstern aussehen ließ. Als ob das Wissen, beobachtet zu werden, sie lächeln und lachen machte und sie deshalb den Kopf zurückwarf. Anna drehte sich immer schneller, in immer heftigeren und brutaleren Bewegungen. Marie folgte, als ob sie im voraus wüßte, wie der nächste Schritt aussah. Trotz des Eingespieltseins im Tanz wurde Anna den Gedanken nicht los, daß Marie nicht ihretwegen die Jacke ausgezogen hatte, nicht ihretwegen Kleider gekauft hatte, die eng am Körper anlagen und sehr viel Haut zeigten.
Die schnelle Musik verebbte und ging in eine Schmusenummer über. »Setzen wir uns?« gestikulierte Marie und strich sich mit der Hand über die Stirn. Sie sah fröhlich und aufgekratzt aus. Der Pony stand ab, und feuchte Strähnen klebten an Stirn und Hals. Der Brustkorb hob und senkte sich, und die Haut über der Brust glänzte vom Schweiß. Die Hand mit glitzernden Ringen ruhte auf der vorgeschobenen Hüfte, den anderen Arm hatte sie hochgestreckt, so daß der Körper sich allen Blicken frei darbot. Für wen? dachte Anna und suchte in der Tasche nach der Garderobenmarke. Sie würde ein Taxi nach Hause nehmen. Es tat zu weh, Maries Sexualität zu sehen und zu wissen, daß nicht mehr sie es war, die sie zum Leben weckte. Sie war zu einem Tanzpartner reduziert, einem Vorwand, sich zu zeigen. Marie legte mit fragendem Blick den Kopf auf die Seite. Anna versuchte zu lächeln, konnte jedoch die Mundwinkel nicht bewegen und nickte deshalb Richtung Ausgang. Sie würde keine Szene machen. Noch nicht. Und ganz bestimmt nicht vor Publikum.
5
»Ich habe um zwölf Uhr eine Verabredung mit Helen Källberg.« Die Empfangsdame schaute sofort mit ihrem »Zu-Ihrer-Verfügung-Lächeln« hoch. Exakt so freundlich und so zuvorkommend, wie sie es im Charmekurs gelernt hatten. Es war kaum zu entscheiden, ob es echt war oder nicht. Aber es hatte die beabsichtigte Wirkung. Marie wurde sofort ruhiger. »Ich werde Helen sagen, daß sie Besuch hat«, teilte die Empfangsdame mit und lächelte das »Seien-Sie-sicher-daß-wir-uns-um-Sie-kümmern«-Lächeln. Dann nahm sie den Hörer ab, wählte eine Nummer und sagte, daß der Besuch da sei. »Helen kommt gleich. Sie können hier warten«, sagte sie und wandte sich dann dem Stapel Papier zu, der vor ihrem Computer lag. Marie setzte sich und versuchte, die Nervosität niederzukämpfen, indem sie den Teppichboden studierte. Sie stellte fest, daß er blau war. Blau wie die Farbe des Unternehmens, blau wie Himmel und Meer. Blau wie die Sehnsucht. Sie hatte oft über die erste Begegnung mit Helen nachgedacht. Daran, daß sie über ihre Zeit in Griechenland sprechen konnte, ohne Angstzustände zu bekommen. Es war im Gegenteil richtig befreiend gewesen, mit jemandem zu sprechen, der das Land kannte, die Kultur und die Menschen, aber auch die Situation des Fremden und Außenstehenden. Sie war nicht mehr nach Griechenland zurückgekehrt, nachdem sie damals mehr oder weniger geflohen war und geglaubt hatte, es nie wieder sehen zu wollen. Aber nach dem ersten Gespräch mit Helen waren die Bilder erneut aufgetaucht, die Bilder, die sie zur ersten Reise dorthin gelockt hatten.
Endlich tauchte Helen aus einem Zimmer am Ende des Flurs auf.
Sie trug schwarze Hosen und eine kurze Bolerojacke. Ohne den engen Rock, den sie beim letzten Zusammentreffen angehabt hatte, war ihr Gang natürlicher. Und sie begrüßte sie mit einem Lächeln, das sie nicht im Charmekurs geübt hatte. Es war ganz echt und schien sowohl Entzücken als auch Erwartung zu enthalten. »Willkommen im Allerheiligsten«, sagte Helen und blinzelte sie an, als sie ihr die Hand gab. Marie wußte nicht, ob das als Versuch gedacht war, die Statusschranke zwischen der Hauptverwaltung und den einzelnen Büros zu durchbrechen, oder ob es wirklich ein Flirt war, wenn auch hinter Ironie versteckt. »Du bist ja schon mal hiergewesen, ich brauche dir also nicht das Haus zu zeigen. Wir gehen erst mal in mein Zimmer. Ich hoffe, du hast noch nicht gegessen.« Marie schüttelte nur den Kopf. Sie hatte nicht einmal richtig gefrühstückt. Der verdammte Overdrive heulte in ihrem Körper. Sie hatte am Morgen nur eine halbe Schnitte Brot essen können. Die Hauptverwaltung war im obersten Stockwerk des Hauses untergebracht, und die Büros lagen in einer Reihe parallel zur Straße, sie hatten alle eine schräge Decke von der Zimmermitte zum Fenster. Helens Zimmer war doppelt so groß wie die anderen, aber es befanden sich noch zwei große Säulen darin, wodurch die Stellfläche sehr klein wurde. Das Zimmer sah auch nicht aus wie das Arbeitszimmer in der Hauptverwaltung eines Reisebürokonzerns. Es vermittelte eher den Eindruck von Chaos als von Arbeitsruhe und Ferienreisen. »Entschuldige, daß hier so eine Unordnung ist«, sagte Helen und nahm einen Stapel Kataloge von einem Stuhl, so daß Marie sich setzen konnte. Sie trug die Kataloge zu einem Tischchen und legte sie dort auf einen Packen Papier. »Du möchtest natürlich gerne wissen, worüber ich mit dir sprechen möchte. Magst du japanisches Essen?« Es war sicher nicht leicht, mit ihr zu leben, vermutlich war ihr nicht bewußt, welches Chaos sie verursachte, dachte Marie, und ihr Blick fiel auf das Foto auf der Pinnwand. Es war ein Ferienbild aus Griechenland. Sie erkannte Helen auf dem Bild, am ganzen Körper schön braun, den Kopf zurückgeworfen in einem befreiten Lachen. An ihrer Seite ein Mann, auch er braungebrannt, aber mit ganz blonden Haaren. Sie sahen gut zusammen aus, ein schönes Paar. Kinder hatten sie offenbar auch; ein Mädchen und einen
Jungen im ersten Schulalter, die konzentriert direkt in die Kamera starrten. Marie spürte einen Stich von Neid. Sie hatte nie eine richtige Familie gehabt. Während ihrer Kindheit und Jugendzeit waren immer wieder Männer gekommen und gegangen. Das Leben mit Anna konnte man noch am ehesten Familienleben nennen. Sie hatten auch Ferienbilder, aber sie würden nicht einmal versuchen, sie am Arbeitsplatz aufzuhängen. Das würde doch nur für Gerede sorgen oder mit Schweigen übergangen werden. »Du mußt entschuldigen, daß ich am Telefon nicht sagen wollte, worum es geht. Ich hoffe wirklich, daß du dir keine Sorgen um deine Anstellung gemacht hast. Was ich mit dir besprechen will, ist ganz im Gegenteil eine Möglichkeit, in der Firma aufzusteigen.« Marie faltete die Hände im Schoß, um die Schmetterlinge ruhig zu halten. »Wir haben beschlossen, daß in diesem Stadium nur die direkt mit dem Projekt befaßten Personen informiert werden sollen«, fuhr Helen fort. »Aber soviel kann ich sagen, bei dem Projekt handelt es sich darum, die Umweltanforderungen, die Touristen und Umweltorganisationen an uns als Reiseveranstalter stellen, zu erfüllen.« Marie nickte schweigend zum Zeichen, daß sie verstanden hatte. »Die erste Reise nach Griechenland habe ich für Januar geplant. Und da würden wir etwa einen Monat bleiben. Dieses Projekt erfordert also, neben allem anderen, eine verständnisvolle Familie.« Helen legte den Kopf auf die Seite. »Bist du verheiratet?« fragte sie und blinzelte mit den Augen, als ob sie ihre Brille vergessen hätte. »Nein«, antwortete Marie etwas zögernd und spürte, wie sie sich in eine Untiefe schieben ließ, wo sie nur noch Wasser treten und weder auf der einen noch auf der anderen Seite Land gewinnen konnte. »Und hast du einen Freund?« »Nein, habe ich nicht«, sagte Marie. Sehr viel bestimmter.
»Kinder?« »Nein.« Helen schien mit der Antwort zufrieden zu sein.
Marie blinzelte in die Sonne, die sich in den Fenstern auf der anderen Straßenseite spiegelte. Die Luft war klar, aber es begann, kühl zu werden. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der erste Schnee fiel. Und dann würde es bis weit in den April hinein Winter sein. Wenn sie den Job mit Helen machte, wäre sie vielleicht einen Monat in dieser Zeit in Griechenland. Helen war auf dem Weg zum Restaurant bei Lindex reingegangen, um blaue Strumpfhosen zu kaufen. Marie kaufte ihre Sparpackungen immer bei H&M, man konnte sie doch nicht als Werbungskosten von der Steuer absetzen. Es war immer das gleiche mit diesen verdammten Strumpfhosen. Manchmal waren sie kaputt, ehe man sie überhaupt anhatte. Wenn sie in der Hauptverwaltung arbeitete, fiele wenigstens dieses ständige Ärgernis weg. Da könnte sie anziehen, was sie wollte. Und bestimmt brauchte sie nicht mehr fünf Tage pro Woche einen Rock mit enden Strümpfen zu tragen. Ein junger Mann war nach einigem Hinundhergehen auf der anderen Straßenseite stehengeblieben und hatte aus einem abgewetzten Futteral seine Geige geholt. Er hielt das Instrument erst vor sich wie einen Preispokal oder eine Opfergabe. Die Sonne glänzte im Holzkörper, auf dem geschwungenen Hals, den Stimmwirbeln und den gespannten Saiten. Schließlich nahm er das Instrument, legte es zurecht, rückte und schob, bis es so saß, daß es ein Teil seines Körpers geworden zu sein schien. Dann begann er zu spielen. Und wenn es je einen Zweifel gegeben hatte, wer er war, was er machte und mit welchem Recht, so verschwand der, sobald sein Instrument erklang. Menschen strömten ununterbrochen von beiden Richtungen in Maries Gesichtsfeld. Es war keine Bewegung, es war wie ein stillstehendes Rauschen. Wie im Fernsehen, wenn das Bild weg, der Ton aber noch da ist.
Helen kam atemlos aus dem Geschäft, sie trug eine Tüte, die erheblich mehr als nur ein paar Strumpfhosen zu enthalten schien.
»Entschuldige, daß es so lange gedauert hat. Ich mußte unbedingt einen Rock anprobieren, den ich im Geschäft sah.« Vermutlich hatte sie nicht nur einen Rock anprobieren müssen, dachte Marie und stellte fest, daß sie überhaupt nicht ärgerlich war über das Warten. Sie konnte Helen mit ihren durchschaubaren Entschuldigungen und ihrer vollgestopften Lindex-Tüte nur anlächeln. Im einen Moment korrekt und artikuliert, im nächsten irrational und voller Launen. Aber wie würde es sein, mit einem Menschen zu arbeiten, der gleichzeitig zwei entgegengesetzte Bewegungen machte? Konnte man sich auf sie verlassen, war das, was man sah, wahr? Oder fragte man sich ständig, wie viele Stockwerke man hinunterstürzen mußte, bis man endlich auf den Boden aufschlug? Helen hatte gesagt, daß sie mit jemandem arbeiten wollte, der Griechisch sprach und schon einmal im Land gewohnt hatte. Soweit konnte Marie folgen, aber dann kamen nur noch Fragezeichen und Spekulationen. Helen wußte eigentlich nichts über sie. Und doch schien sie nur noch auf ein Ja oder Nein zu warten, als ob sie sich schon entschieden hätte. Je mehr Marie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, daß sie nicht zu einem Job ja oder nein sagte. Wenn es nur so einfach gewesen wäre. Alles zwischen ja und nein wuchs so an, daß es zum Schluß ihr ganzes Leben zu umfassen schien. Und wieder einmal hatte sie nicht um die Frage gebeten. Sie war über ihren Kopf hinweg formuliert worden. Dieses Mal von Helen, die sie kaum kannte. Sie gingen die Kungsgatan hinunter. Marie betrachtete Helens scharfgeschnittenes Profil schräg vor sich. Sie erinnerte ein wenig an einen Raubvogel. Die Nase war nicht direkt groß, aber bestimmend, und sie schien zu den schwarz geschwungenen Augenbrauen zu gehören, die einen plötzlichen Schatten über das Gesicht fallen lassen konnten. Helen war sehr schön. Da gab es keinen Zweifel. Und Marie konnte die Augen
nicht von ihr lassen.
6
Anna stand am Kopierer des schwedischen Instituts und kopierte zum wer weiß wievielten Mal einen Klassensatz mit Beispielen aus Sapphos Dichtkunst. Sie fragte sich, ob sie deprimiert war, weil sie nur Müdigkeit verspürte, wenn sie an das eingeschlechtliche Raster dachte, das angelegt wurde, wenn die Goldklumpen aus dem Flußsand der Geschichte gewaschen wurden. Wenn man nach den Lehrbüchern in Schwedisch und Geschichte ging, konnte man sich fragen, ob der Frau jemals ernsthaft ein seelischer, mentaler und intellektueller Status zuerkannt worden ist. »Hallo, hallo, wie steht’s«, hörte sie, als die Tür zugeschlagen wurde und der Vergnügungsminister Åke Pettersson eintrat. Er hielt sich selbst für einen Hanswurst, aber Anna hatte sich schon lange für Würstchen entschieden. »So, so, du kopierst also«, sagte Åke und schob seinen Kopf über ihre Schulter. »Göttern gleich dünkt mich der Mann zu sein«, deklamierte er mit tiefem Baß und legte prustend die Kopie wieder zurück. »So, so, du meinst also, deine Schüler sollten Sappho lesen. Du kannst ihnen ja erzählen, daß ich an Levkos Klippen gestanden habe, wo sie sich das Leben genommen haben soll.« »Sie würden mich nur fragen, warum du nicht ihrem Beispiel gefolgt bist.« »Ha, ha, gut gekontert, Anna. Ich werde ein anderes Mal über die Levkosklippen erzählen. Ich wollte nur den Klassensatz von >Heiraten< holen. Weißt du, wo er steht?« »So, so, du meinst also, deine Schüler sollten Strindberg lesen.« »Wie bitte?« »Vergiß es. Strindbergs gesammelte Werke stehen drüben beim Fenster unter >S<.«
Der Kopierer gab ein wütendes Geheul von sich, und die rote Warnlampe blinkte. »Brauchst du Hilfe?« rief Åke. »Nein!« rief Anna zurück und öffnete die vordere Tür des Kopierers, um zu sehen, ob ein Papier sich zwischen den Walzen verklemmt hatte. Ehe sie sich bücken konnte, hatte Åke schon die Strecke vom Bücherregal am Fenster bis zum Kopierer neben der Tür geschafft. »Ich weiß, was los ist«, hatte er zwischen dem zweiten und dritten Schritt sagen können, und als er da war und sich bückte, konnte er nur feststellen, daß er recht gehabt hatte. Eigentlich sollte ich jetzt, dachte Anna, während Åke die Hemdärmel hochkrempelte, eigentlich sollte ich ihn jetzt bitten zu verschwinden, weil ich sehr wohl weiß, wie man ein verklemmtes Papier zwischen den Walzen herausholt, und weil ich gesagt habe, daß ich keine Hilfe brauche, weil ich nicht wie ein Kind behandelt werden will, nur weil ich eine Frau bin und mit einem technischen Gerät zu tun habe. Andererseits weiß ich, daß ich mir vielleicht meine Kleider verschmutze, wenn ich das Papier rauszuholen versuche, und ich weiß aus Erfahrung, daß man diese Flecken fast nicht mehr rauskriegt. Aber ich fühle mich überfahren, und Åke erwartet bestimmt auch noch, daß ich dankbar bin. Nur aus diesem Grund sollte ich ihn bitten, zum ... Das Papier löste sich mit einem Ruck, und Åke hielt triumphierend das geschwärzte, zerknitterte Blatt hoch. »Das saß aber fest! Gar nicht so blöd, wenn man manchmal einen Mann zu Hilfe hat, oder was meinst du, Anna?« Anna lächelte angestrengt und schaute weg, um nicht antworten zu müssen. Åke knallte die Klappe zu, wodurch die Maschine automatisch startete und die grüne Lampe bald wieder leuchtete. »Das iert nur, weil es hier drinnen so trocken ist. Papier braucht eine gleichmäßige und hohe Luftfeuchtigkeit.« Zu Hause wenigstens bleiben sie mir erspart, dachte Anna und zählte den Stapel
durch, um zu sehen, wie viele Kopien noch fehlten. »Möchtest du einen Rat, Anna?« »Nein.« »Halte dich an die Texte in der Anthologie, dann hast du in Zukunft keine solchen Probleme mehr.« »Das Leben, Åke, besteht aus solchen Problemen. Sie sind unter anderem die Triebkräfte der Literatur.« Åke machte den Mund auf, und Anna hatte plötzlich das Gefühl, als ob er blöken würde. Aber er zeigte nur auf die Uhr und verschwand schnell aus der Tür. »Pin-head!« sagte Anna und schloß die Tür zum Arbeitszimmer. »Von wem sprichst du?« »Åke Pettersson. Du weißt schon, der sich immer so wahnsinnig komisch findet.« »Er hat einen hübschen Po.« »Hör auf, Barbro.« »Doch, ich meine es ernst. Er hat einen hübschen Arsch. Die Bakken haben die richtige Größe, sind gut geformt und fest wie Bowlingkugeln.« »Und wie findest du den Kopf?« »Auf den kann ich verzichten.« »Ich kann auch auf die anderen Teile verzichten«, seufzte Anna und setzte sich an den Schreibtisch. »Das ist ein Problem.« »Was?« »Daß es viel zu viele gutaussehende Männer gibt, die besser nicht den Mund
aufmachen sollten.« »Ich gebe dir teilweise recht.« »Mir wird ganz schwach, wenn ich daran denke, wieviel Quatsch ich mir habe anhören müssen, um wenigstens in die Nähe der wesentlichen Teile zu kommen.« »Ich verstehe nicht, wie du das aushältst.« »Manchmal ist es die Mühe wert. Das weiß man ja vorher nie.« »Du bist nicht zu retten, Barbro.« »Ja, das hast du bereits gesagt.« »Entschuldige.« »Vergiß es. Eigentlich müßte ich mich entschuldigen.« »Das hast du bereits getan.« Das Gespräch war plötzlich zu Ende. Das kleine Arbeitszimmer, das Anna sich mit Barbro teilte, konnte an manchen Tagen groß wie eine Unendlichkeit sein, ohne Grenzen in Zeit und Raum. Aber sobald sie in die Nähe der Auseinandersetzung in der Schwimmhalle kamen, richteten sich Wände auf, das Dach fiel herab, und das Arbeitszimmer war wirklich sehr klein für zwei Personen. Barbro band sich das Haar mit einem Gummiband zusammen und wandte sich wieder ihren Korrekturen zu. Anna öffnete ihre Mappe und holte die Kopien heraus, die sie gerade gemacht hatte. Sappho stand nicht in der Anthologie, obwohl sie im Lehrbuch erwähnt wurde. Das einfachste wäre, sich an den Text zu halten und sie nur mit ein paar Zeilen zu erwähnen: »Geboren 600 v. Chr., hatte auf der griechischen Insel Lesbos eine Schule, unterrichtete junge, adelige Mädchen in Dichtkunst, Tanz und Musik.« Sie in die Rubrik »Lyrik« zu tun und weiterzugehen zu den richtigen Schwergewichten. Zu den Männern, die im Lauf der Geschichte so viele andere Männer zu ihren Meisterwerken inspiriert haben.
Anna nahm eine Kopie und begann zu lesen. » ... blick ich dich ganz flüchtig nur an, die Stimme stirbt, eh sie laut ward, ja, die Zunge liegt wie gelähmt, auf einmal läuft mir Fieber unter der Haut entlang, und meine Augen weigern die Sicht, es überrauscht meine Ohren ...« Sie legte das Papier weg, noch bevor sie zu Ende gelesen hatte. Genau so ein Gefühl ist es, dachte sie und schauderte, besinnungslos in eine andere Frau verliebt zu sein. Sie las weiter im Lehrbuch, daß viele von Sapphos Gedichten als Abschiedsgedichte für Schülerinnen geschrieben worden waren. Das war keine Lüge, aber es war auch nicht die ganze Wahrheit. Bestimmte Informationen wurden immer wieder weggelassen, als ob sie nicht die Fähigkeit besäßen, auf dem Papier zu haften. Das Wort »lesbisch« zum Beispiel, das vom Namen der Insel stammte, wo Sappho ihre Liebeslyrik an ihre Schülerinnen schrieb. Die Verbindung lesbisch – Lesbos zeigte einen historischen Faden, der sich für lesbische Frauen weit in die Vergangenheit spann. Aber dieser Faden gefiel vielen nicht, und dann schnitten sie ihn ganz frech durch. Das Reisebüro, in dem Marie arbeitete, verkaufte keine Reisen nach Lesbos mehr, sondern nach Mytilini. Aber das war nicht nur ein kommerzieller Einfall, der inoffizielle Namenswechsel hatte auch in Griechenland eingeschlagen. Man hätte darüber lachen können, daß die Angst vor der lesbischen Liebe zum Kulturmord an der eigenen Geschichte führen konnte. Aber wie lange noch? Wie lange würde es noch dauern, bis einem das Lachen im Halse steckenblieb? Wie lange würde es dauern, bis Sappho eine verstaubte Statue auf der Insel Mytilini war? Für die Schüler in ihrer Klasse würde es auf jeden Fall ein kleines bißchen länger dauern, dachte Anna und schrieb die Informationen auf, die nicht auf dem glatten Papier der Lehrbücher haftengeblieben waren.
»Wie weit seid ihr mit dem Haus?«
»Was?« Anna zuckte zusammen, als ob sie aus einem tiefen Schlaf geweckt worden wäre. »Du hast ausgesehen, als würdest du einen Lustmord begehen«, sagte Barbro und steckte die korrigierten Aufsätze in ihre Tasche. »Mir fiel nur eben das Haus ein, das du und Marie kaufen wolltet. Wie sieht es damit aus?« »Das wird nichts.« »Warum denn nicht?« »Es ist nicht der richtige Zeitpunkt.« »Ach so.« Barbro zupfte ein paar verwelkte Blätter von der Azalee auf der Fensterbank. »Darf man fragen, warum nicht?« Sie hätte weinen können. Vermutlich sollte sie auch weinen. Ein Loch in das Blech schlagen und alles rauslaufen lassen, alles, was schmerzte und pochte wie eine infizierte Wunde. Barbro verstünde sie vielleicht, aber behielte sie es für sich, oder könnte sich die Szene in der Sauna wiederholen? In Barbros Art zu fragen gab es eine Aufforderung, die Freundschaft noch einmal zu versuchen. Anna spürte, daß sie eigentlich keine Wahl hatte. »Marie hat eine neue Arbeit angeboten bekommen«, sagte sie leise. »Wie schön«, rief Barbro erstaunt aus. »In diesem Reisebüro hat es ihr doch nie so richtig gefallen.« »Sie wird in der gleichen Firma arbeiten, aber sie wird etwas ganz anderes machen.« »Was denn?«
»Das weiß ich nicht. Ich glaube, daß sie es selbst noch nicht so genau weiß. Es ist offenbar ein neues Projekt, das in Griechenland vorbereitet werden soll. Es geht wohl um Verträge mit Hotels und so. Sie wird auf jeden Fall immer wieder eine längere Zeit weg sein.« »Das klingt wunderbar. So einen Job hätte ich auch gern. Kannst du Marie nicht fragen, ob sie eine Assistentin gebrauchen kann. Ich spreche zwar leider nicht Griechisch, aber Spanisch und Englisch kann ich gut.« »Marie wird selbst als Assistentin arbeiten, ich glaube nicht ...« »Anna«, sagte Barbro und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Das war doch nur ein Scherz. Ich freue mich für Marie, aber ich sehe, daß du nicht sonderlich froh darüber bist. Was macht dir Sorgen? Beunruhigt es dich, daß ihr so lange getrennt sein werdet? Hast du Angst, daß sie eine andere trifft?« »Ich habe Angst, daß das bereits geschehen ist«, sagte Anna. In dem Moment, als sie die Worte aussprach, hatte sie ein Gefühl, als ob alles Wasser unter ihr verschwände. Als ob eine Riesenwoge rückwärts ins Meer rollte und den Sandboden freilegte, wie wenn man eine Decke von einem schlafenden Körper wegzieht. Und sie wußte, wenn das versunkene Gerümpel sichtbar geworden wäre, käme die gleiche Woge wieder und stürzte sich mit zerstörerischer Kraft auf sie. Und sie hätte keine Chance davonzukommen. »Bist du sicher?« Anna schüttelte den Kopf. »Hast du sie gefragt?« »Ich habe Angst vor ihrer Antwort.« »Hast du Angst, daß sie dich anlügen würde?« »Nein, ich habe Angst, daß sie meinen Verdacht bestätigt. Ich war schon mehrmals kurz davor, sie zu fragen, aber dann dachte ich, sie würde mit Ja antworten, und da bekam ich solche Angst, daß ich nicht wußte, wohin. Solange ich nichts weiß, so lange kann ich mir wenigstens einbilden, alles sei gut. Alles
sei wie früher.« Barbro lehnte sich zurück, hob einen Stift auf und begann damit zu spielen. »Das habe ich nicht von dir gewußt. Ich habe nicht gewußt, daß du solche Ängste hast.« »Der Schein trügt«, sagte Anna und lächelte angestrengt. »Ja, wirklich. Ich habe tatsächlich nicht verstanden, warum du dich über das, was ich in der Sauna gesagt habe, so aufgeregt hast. Aber jetzt verstehe ich es ein bißchen besser, glaube ich.« Jetzt gab es kein Halten mehr. Die Dämme brachen, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Annas Körper zog sich zusammen, wie um sich gegen Schmerzen zu verteidigen, straffte alle Muskeln, so daß die Glieder sich krampfhaft versteiften. Barbro strich ihr sanft über den Kopf, die Schultern und den Rükken. »Wenn ich etwas für dich tun kann, dann sag es. Egal, was. Du kannst mich mitten in der Nacht anrufen. Wir können zusammen ausgehen. Wer weiß, vielleicht bildest du dir alles nur ein.«
7
Marie nahm den graphitgrauen Rollkragenpullover vom Bügel im Schrank. Anfang Januar konnte es in Athen ziemlich kalt sein. Natürlich nicht so kalt wie in Schweden, aber doch nicht richtig warm. Und draußen auf den Inseln würde sie ihre imprägnierte, winddichte Jacke und ihren dicken Pulli brauchen können. Sie erinnerte sich, wie es war, unter mehreren Schichten von Wolldecken in unisolierten Steinhän zu frieren, wenn der Wind vom Meer blies und an den Fensterläden zerrte. Jetzt wohnten sie zwar in Hotels, aber das war keine Garantie dafür, nicht zu frieren. Sie mochte das konzentrierte Packen. Die sauberen, frischgebügelten Sachen, die sie sorgfältig ausgesucht hatte, zu falten und zusammen mit den neuangeschafften in den Koffer zu legen. Es bedurfte ihrer ganzen Aufmerksamkeit, zwischen einem Paar dunkelblauer und einem Paar rosa Strümpfe zu wählen. Alles hatte eine Bedeutung – wie die Farben auf einem Bild –, ohne daß sie wußte, warum. Sie faltete den Rollkragenpulli sorgfältig und legte ihn auf die schwarzen Jeans. Dann spannte sie die Riemen und machte den Deckel zu. Die Kleider, die sie am nächsten Tag anziehen wollte, lagen über einem Stuhl neben dem Bett. Die Tasche mit dem Handgepäck stand halb gepackt auf dem Tisch im Flur. Jetzt gab es nichts mehr zu tun. Jetzt blieb nur noch Anna. Anna, die den ganzen Abend, ohne ein Wort zu sagen, im Sessel gesessen und mit leichenblassem Gesicht aus dem Fenster gestarrt hatte. Jetzt gab es nichts mehr zu tun. Jetzt blieben nur noch Anna und sie. Anna sah den Schneeflocken zu. Sie fielen in einen Halbmond unter der Straßenlaterne vor dem Fenster. Der gefrorene Regen glich dem Weinen in ihr; so lähmend, daß sie nicht aufstehen konnte. Sie konnte nur sitzen bleiben, den Blick auf die Straßenlaterne gerichtet, als ob die sie gegen die Geräusche von Maries Bewegungen im Schlafzimmer schützen könnte; Kleiderbügel wurden
abgehängt, Schubladen auf- und zugemacht. Manchmal hörte sie Marie in die Küche gehen und zurück, oder ins Bad, wo sie die Tür ordentlich zuschloß, als ob sie markieren wollte, wo die Grenze jetzt verlief. Das wäre nicht nötig gewesen. Marie hätte die Tür angelehnt, eine kleine Öffnung lassen können, ein kleines Vertrauen, nur eine kleine Geste, die gezeigt hätte, daß sie immerhin fünf Jahre zusammengewesen waren. Fünf Jahre mit morgendlicher Routine, alltäglichen Tätigkeiten, mit kleinen, zarten Fäden, die sie wie empfindliche Nervenfasern von der einen zur anderen gesponnen hatten. Aus Vertrauen oder aus Abhängigkeit, oder aus einer Mischung aus beidem. Kleine, zarte Fäden, und nun tat Marie so, als ob es sie nicht gebe, nie gegeben habe. Marie hatte den ganzen Abend gepackt, ohne ein Wort zu sagen. Gepackt, als ob sie fahren und nie mehr wiederkommen wollte. Wie eine Auswanderin, wie eine, die aus freiem Willen flieht, alle Bänder, alle Fäden durchschneidet, alle Wurzeln kappt und dabei glaubt, daß sie das frei mache, das Glück anderswo zu finden. Warum tust du mir das an, wollte Anna schreien. Warum verleugnest du mich? Warum verleugnest du all das Schöne, das wir zusammen erlebt haben? Aber die Fragen kamen nicht heraus. Sie fielen wie die Schneeflocken auf den Boden. Völlig geräuschlos. Und der Schein der Straßenlampe war wie eine Leinwand, auf die unablässig Bilder aus ihrer Beziehung projiziert wurden. Sie erinnerte sich noch an das erste Bild. Die langen, grazilen Glieder. Die Haare, die Marie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, was die Gesichtszüge deutlicher werden ließ. Die kräftigen Augenbrauen, die aussahen, als seien sie mit einem dicken Stift gezogen. Die leuchtendblauen Augen mit Lidern, die von einem nur halb entschwundenen Traum beschattet wurden. Es hatte gut angefangen. So überraschend und elegant arrangiert, wie immer, wenn etwas Wichtiges im Leben iert. Sie hatte Marie in einer Traube von Frauen entdeckt, die weder Fußball spielten noch in der Frauenbewegung aktiv waren. Eine in so einer Traube von Frauen, mit denen sie nicht viel gemein zu haben schien. Aber über die Cliquen hinweg, quer durch die Interessensphären und
Zusammenschlüsse hatte sie Marie gesehen, und Marie hatte sie gesehen. Sie hatte versucht, sich zu wehren. Sie hatte versucht, die Notbremse zu ziehen, bevor der Zug sich in Bewegung setzte. Aber sie konnte nur noch einsehen, daß sie besiegt worden war. Als sie tanzten, hatte sie die Sommersprossen gesehen. Diese kleinen Pigmentansammlungen auf der Nase und den Wangen und der Haut über dem Brustbein, die sie so gerne mit der Zungenspitze berührt hätte. Sie hatte Marie zum Essen zu sich nach Hause eingeladen und war so nervös gewesen, daß ihre Hände gezittert hatten und sie verwirrt hin und her gelaufen war und Sachen hatte fallen lassen. Marie hatte sie zuerst geküßt, so daß ihr die Luft wegblieb, hatte sie bei der Hand genommen und ins Schlafzimmer geführt. Sie hatte sich geniert, gefürchtet, daß Marie ihren Körper nicht mögen würde. Aber Marie und sie hatten sich geliebt, und Marie schrie, als sie kam. Dann hatte sie nur nahe bei ihr liegen wollen, ganz eng bei ihr im Schweigen danach. Anna hatte nicht gewagt, sich zu bewegen, ihr Arm war eingeschlafen, und sie hatte sich gewünscht, daß Marie bliebe. Schon nach einer Woche war Marie zu ihr gezogen. Als ob es ganz selbstverständlich wäre, daß sie zusammenwohnten. Natürlich hatte Anna Angst gehabt, doch nicht genug, um den Zug anzuhalten. Aber jetzt schrie die Angst wie eine Verrückte in ihrem Körper. Vielleicht stimmte das, was sie spürte. Vielleicht käme Marie nie mehr wieder. Warum hatte sie einen Job angenommen, der bedeutete, daß sie mehrere Monate im Jahr weg sein würde? Es war noch nicht mal eine Arbeit, die sie besonders gern machte. Warum entwickelte sie nicht lieber ihre musikalischen Talente? Auch wenn es nur auf der Amateurebene blieb, so gäbe es ihnen doch die Lust und die Freude in der Beziehung wieder. Aber Marie wollte eigentlich nicht weitermachen, dachte Anna. Und sie war zu feig, das zuzugeben, also hatte sie das mit dem Job erfunden, um der Verantwortung zu entgehen. Ihr nächster Zug wäre dann, daß sie eine andere getroffen hätte. Wenn das nicht sogar schon iert war ...
Nach einer Weile hörte Anna, daß Marie fertiggepackt hatte. Was würde sie jetzt machen? Käme sie zu ihr ins Wohnzimmer, oder legte sie sich einfach schlafen? Marie war in der Küche. Es klang, als ob sie Tee machte. Nur für sich oder für sie beide? Wenn Marie jetzt schlafen ginge, dachte Anna, dann bliebe sie die ganze Nacht im Sessel sitzen. Ihre Haut war wie über einen scharfen Stein gezogen. Bei der geringsten Bewegung platzte sie, und sie stürbe vermutlich vor Schmerz. Marie kam ins Zimmer und stellte einen Becher neben Anna auf den Tisch. Dann setzte sie sich aufs Sofa und zog die Beine unter sich. Sie streckte den Arm aus nach ihrem Becher, hielt ihn mit beiden Händen und blies in das dampfende Getränk. »Ich habe jetzt fertiggepackt.« Anna verzog keine Miene. »Willst du nichts sagen?« Sonst war immer Marie die Schweigsame. Jetzt bekam sie mal ihre eigene Medizin zu schmecken, dachte Anna und kniff den Mund zusammen. »Ich weiß wirklich nicht, warum du mich jetzt so strafst. Wie lange hast du mir in den Ohren gelegen, daß ich mir eine andere Arbeit suchen soll. Das habe ich jetzt getan. Du solltest dich freuen.« Marie stellte den Becher ab. »Wenigstens für mich könntest du dich freuen«, fügte sie hinzu. Anna spürte, wie die Lähmung aus ihren Gliedern verschwand und sich statt dessen wie ein hartes Knäuel im Magen zusammenrollte. Ein Knäuel aus schneidendem Stahl, ein federndes, rasiermesserscharfes Stahlknäuel, das sich nicht mehr zusammendrükken ließ und zurückfederte. »Ich freue mich für dich«, sagte sie mit der Stahlstimme. »Du wirst bestimmt eine tolle Zeit in Griechenland haben. Wer weiß, vielleicht entschließt du dich zu bleiben. Diese Helen scheint ja eine Meisterin im Organisieren zu sein. Sie kann dir da unten bestimmt auch einen Job und eine Wohnung organisieren. Dann kannst du einen Strich machen durch alles, was gewesen ist, und mit einer neuen Kugel anfangen. Du kannst mir ja eine Karte zum Geburtstag schicken. So wie
du es mit Renate machst.« »Hör jetzt auf, Anna«, bat Marie. »Du weißt, daß ich nicht bleiben werde. Ich halte es vielleicht nicht einmal vier Wochen aus. Ich bin ja nicht mehr dort gewesen ...«, sie schwieg und senkte die Stimme, » ... seit der Geschichte mit Dimitris.«
Marie schaute die unbewegliche Statue im Sessel an und wünschte sich, selbst ein bißchen gestützt zu werden. Sie hatte Angst vor der Reise. Sie hatte Angst, die Geborgenheit mit Anna zu verlassen, Angst, die Erwartungen, die Helen in sie setzte, nicht erfüllen zu können, Angst vor Situationen, die sie nicht durchstünde. Aber vor allem hatte sie Angst, Dimitris zu treffen. Es war ein dummer Gedanke, das wußte sie. Das Risiko, auf ihn zu stoßen, war lächerlich klein. Aber dennoch hatte dieser Gedanke sie in den letzten Wochen gejagt. Und je mehr sie sich zu wehren versuchte, desto deutlicher hörte sie sein Keuchen im Nacken. Sie hätte sich gewünscht, daß Anna sie in den Arm nähme. Ihr sagte, daß sie keine Angst zu haben brauche. »Ich habe Angst«, sagte sie schließlich. Anna drehte den Kopf. Das war die erste Bewegung, die sie seit einer Ewigkeit machte. »Dann fahr nicht, wenn du solche Angst hast«, sagte sie mit den Stahlbändern im Hals. Krieg, dachte Marie. So fängt es an. Sie sehnte sich danach, die Lungen mit frischer Meeresluft zu füllen, aber das konnte sie kaum zu Anna sagen. »Das Leben gibt mir eine Chance«, sagte sie statt dessen, »die ich nicht ablehnen kann. Ich habe Angst, nach Griechenland zu fahren. Das stimmt. Aber ich denke auch, die Zeit ist reif dafür. Du brauchst es nicht so zu sehen, daß ich vor etwas fliehe, sondern im Gegenteil, ich bleibe.«
»Du fliehst vor unserer Beziehung.« Marie sah gerade noch das Lächeln, das einer Grimasse glich, ehe die Worte sie erreichten. Hol dich der Teufel, Anna, dachte sie und spürte, wie die Röte ihr ins Gesicht stieg.
»Ich hatte also recht«, konstatierte Anna trocken und griff nach dem Teebecher. Sie trank ein paar Schlucke. Es brannte im Hals, aber sie wollte nicht anfangen zu weinen. Sie wollte Marie nicht den Gefallen tun und sie mit ansehen lassen, wie sie zusammenbrach. Dieses ganze Gerede über die Vergangenheit, über Griechenland und Dimitris, daß das Leben ihr eine Chance gebe, das war alles nur dummes Gerede. Darum ging es überhaupt nicht. Sonst wäre Marie nicht so betroffen gewesen. Was war sie nur für eine Idiotin gewesen, nicht früher gefragt zu haben. Wie lange ging es wohl schon, und mit wem? Anna holte tief Luft und stand aus dem Sessel auf, ging ein paar Schritte und blieb vor Marie stehen, den Couchtisch zwischen ihnen. Sie schaute die Frau an, für die sie egal was tun würde, wenn sie sie nur behalten könnte, und sie sah, daß es zu spät war. Die Koffer standen gepackt im Flur, morgen würde sie in einem Flugzeug nach Athen sitzen. Marie hatte ihr keine Chance gegeben. »Warum tust du mir das an?« fragte sie, ohne eigentlich eine Antwort zu erwarten. Marie war so wütend, daß ihr die Worte im Hals steckenblieben. So viel also zu all dem schönen Gerede von Freiheit und Selbständigkeit. Wenn es hart auf hart kam, dann ging es in der Beziehung nur um eine Person. Kein Wunder, daß sie so down war. »Und was zum Teufel tust du mir an?« brüllte sie. »Versuch jetzt nicht, dich rauszureden. Du willst doch abhauen, und ich habe das Recht zu wissen, warum.«
»Ich habe mit keinem Wort gesagt, daß ich abhauen will«, schrie Marie. »Im Gegenteil, ich will bleiben.« »Das sehe ich«, sagte Anna mit einer Kopfbewegung in Richtung der Koffer im Flur. »Wenn du es nicht erträgst, nicht vierundzwanzig Stunden am Tag die totale Kontrolle über mich zu haben, dann hättest du das gleich am Anfang sagen sollen. Dafür ist es jetzt ein bißchen spät.« »Darum geht es überhaupt nicht.« »Weißt du was, Anna. Ich glaube, daß es genau darum geht. Du kannst mich nicht mehr kontrollieren, und das macht dir angst.« »Ich habe dich nie kontrollieren wollen, ich wollte nur, daß du ehrlich zu mir bist, damit ich nicht so was wie mit Monika erleben muß.« »Ich bin ehrlich zu dir, aber ich glaube nicht, daß du wirklich ehrlich zu dir selbst bist. Ich habe mich immer gefragt, warum Monika während eurer Beziehung so heftig zu trinken angefangen hat, und ich glaube, ich fange an zu verstehen, warum. Ich glaube, du magst es, wenn Menschen sich vor dir erniedrigen. Ich glaube, du genießt es, wenn andere von dir abhängig sind. Deshalb wolltest du wohl auch nicht, daß ich wegen meiner Depressionen in Behandlung gehe.« »Ich wollte nicht, daß du von einem Haufen Medikamente abhängig wirst, das ist alles.« »Nein, du wolltest, daß ich von dir abhängig bin.«
Anna antwortete nicht, sie schaute wieder aus dem Fenster auf die Straßenlaterne. Marie riß alte Wunden auf, anstatt sich dem zu stellen, was jetzt ierte. Es tat weh, an die Vergangenheit erinnert zu werden, und sie spürte, wie die Übelkeit in ihr hochkroch. An allem war diese verdammte Geige schuld.
Wenn sie sich nur nicht über Maries Planlosigkeit aufgeregt hätte. Über Sätze, die anfingen »wenn ich eine Million gewänne« oder »wenn ich Geld hätte«. Und die schlossen mit »dann würde ich keinen einzigen Tag mehr arbeiten«. Das war ihr auf die Nerven gegangen, und sie hatte Marie gesagt, sie sollte das, was sie tun wollte, auch tun und nicht darauf warten, daß das Geld ihr in den Schoß fiele. Aber solche Ratschläge hatten Marie wütend gemacht, und der Streit endete dann immer mit ihrer unterschiedlichen Herkunft und Klassenzugehörigkeit. Sie hatte da nicht mehr richtig argumentieren können. Sie fand es natürlich auch ungerecht, daß manche einen viel besseren Start ins Leben hatten, was Geld, Selbstvertrauen und Unterstützung von zu Hause betraf. Sie war es ganz einfach nicht gewöhnt, sich selbst als eine von denen zu sehen, die sich ins gemachte Nest setzten, und sie konnte nicht verstehen, daß sie solchen Ärger und Neid bei jemandem weckte. Sie hatte auch spontan die Hindernisse nicht sehen können, von denen Marie behauptete, sie beständen. Aber wenn man darauf warten wollte, daß die kollektiven Werte sich änderten, dann konnte man sein Leben lang warten. Das waren ihre Überlegungen gewesen, und deshalb hatte sie Marie eine Geige zum dreißigsten Geburtstag geschenkt. Mit dieser Geige hatte sie überhaupt keine Forderungen verbunden, es war nur als Ermunterung gemeint gewesen, als Geste, mit der sie zeigen wollte, daß sie ihr Talent erkannt hatte, ihr wirkliches Ich. Aber Marie hatte das Geschenk wie einen Schlag ins Gesicht empfunden. Als Beleidigung. Diese verdammte Geige war viel zu teuer und viel zu schön. Aber das schlimmste war, daß sie mit ihrem Akademikergehalt ohne Probleme etwas hatte kaufen können, wovon Marie ein Leben lang geträumt hatte. Das faßte irgendwie all das zusammen, was sich hinter Sätzen wie »wenn ich eine Million gewänne« verbarg. Sie spürte immer noch, wie wütend sie auf Marie war. Nicht so sehr, weil sie die Geige kaputtgeschlagen hatte, sondern weil Marie sie beide damit strafte, in eine Depression abzutauchen. Ein Jahr lang hatte sie all ihre Kraft darauf verwendet, Marie wieder ins Leben zurückzuholen. Als sie nicht mehr konnte, hatte sie Marie in die Psychiatrie
gebracht. Marie wurde merkwürdigerweise von der Diagnose und den weißen Kitteln aufgemuntert, sie kam wieder auf die Beine und kehrte allmählich wieder ins Leben zurück. Aber von den Tabletten war sie nur schwer wieder losgekommen. Sie hatte wohl Angst gehabt, das Loch könnte sich wieder öffnen. Das war nicht iert. Aber ein ganz anderer Riß war sichtbar geworden. Da hatten die wirklichen Probleme angefangen. Anna wandte den Kopf und sah Marie wie eine Giftschlange auf dem Sofa sitzen, bis zum Schluß unfähig, Verantwortung zu übernehmen. Und dennoch liebte sie Marie. Liebte sie, daß es weh tat. »Willst du mich verlassen?« Marie antwortete ihr nicht, sie schaute auf den Tisch und schwieg. Es war so dunkel im Zimmer. Nur die Straßenlaterne und die Flurlampe gaben den Schatten Konturen. Ist auch egal, dachte Anna. Ich will ihre Augen nicht sehen, wenn sie lügt. »Manchmal möchte ich dich verlassen«, sagte Marie. »Aber ich habe das nicht vor, nur weil ich für ein paar Wochen wegfahre. Bei dieser Arbeit geht es nicht in erster Linie um unsere Beziehung. Es geht um mein Leben und was ich damit vorhabe.« »Hast du eine andere?« Marie lachte auf, vielleicht ein bißchen zu schnell. »Nein, habe ich nicht. Warum fragst du?« »Ich habe so ein Gefühl. Hast du eine andere, Marie. Ich will, daß du mir eine ehrliche Antwort gibst.« »Nein, habe ich nicht.« »Und was ist mit dieser Helen?« »Sie ist verheiratet. Mein Gott, was glaubst du bloß von mir?«
Und da war wieder das kleine Lachen, das Anna mißtrauisch machte. »Das pflegt kein Hindernis zu sein«, sagte sie trocken. Die Unruhe ließ sie nicht los, also fuhr sie fort: »Hat diese Helen dich angemacht?« »Nein, hat sie nicht. Anna, hör jetzt bitte auf. Ich habe keine Lust, auf solche Fragen zu antworten.« »Hast du Helen angemacht?« »Jetzt reicht es! Ich brauche nicht ...« »Ich möchte eine Antwort, sonst deute ich es so, daß ich recht habe. Hast du Helen angemacht?« »Nein, das habe ich nicht«, zischte Marie wütend. »Warum wirst du so wütend? Hättest du sie vielleicht gerne angemacht, dich aber nicht getraut, weil sie verheiratet ist?« »Du bist ein solches Ekel, Anna. Helen ist nicht nur verheiratet, sie ist außerdem meine Chefin. Würdest du deinen Rektor anmachen, wenn er eine Frau wäre?« »Wenn ich sie attraktiv fände, ja. Findest du deine Chefin attraktiv, Marie? Ich möchte, daß du mir jetzt ehrlich antwortest.« Marie schwieg eine Weile, dann richtete sie sich auf und starrte Anna wütend an. »Ja, das finde ich«, sagte sie schließlich.
und ihr treu zu sein ...
1
Als Marie versuchte, sich bequem hinzusetzen, brach der wackelige Stuhl aus Holz und Bast zusammen. Unter dem Saum ihrer Jeans leuchteten die rosa Strümpfe und erinnerten sie daran, wie sorgfältig sie die falschen Sachen eingepackt hatte. Neben Helen in ihren elegant geschnittenen Kostümen, Kleidern und Röcken kam sie sich jeden Tag entsetzlich schwedisch vor mit den flachen Schuhen und der Windjacke. Schwedische Touristin, blond und blauäugig. Ganz einfach. Sie sah es in den Blicken der Männer, die in dem Café auf dem Dexaminplatz in Athen um sie herum saßen; wie sie schauten, wie sie sich bewegten, wie sie den Platz einnahmen, der auch der ihre war. Eine Vespa fuhr auf den Bürgersteig vor dem Café, halb zwischen die Tische und Stühle. Ein junger Mann mit Pickeln auf der Stirn und zusammengewachsenen Augenbrauen rief etwas in das Café hinein. Ein Mädchen in kurzem Rock saß hinten drauf und hielt ihn um die Taille. Sie schleuderte ihre langen Haare zurück und sah zur Straße hin, um sich von den Männern im Café beschauen zu lassen. Und die nahmen, was sich ihnen bot. Die Sitzenden spreizten ihre Beine noch weiter, lächelten das Mädchen an und versuchten, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, als würden sie eine Katze locken. Ein Mann, der dem Jungen auf der Vespa ähnlich sah, kam aus dem Café und ging zu ihm, es war vermutlich sein jüngerer Bruder. Sie schüttelten sich die Hand und schlugen sich auf die Schulter. Sie boten sich Zigaretten an, auch dem Mädchen wurde eine angeboten. Sie lehnte ab und drehte wieder den Kopf weg. Die Sonne zog einen Streifen über den Tisch. Auf dem Trottoir kickte der Junge seine Vespa an und drehte den Motor auf, so daß alle Gespräche an den Tischen erstickt wurden. Das Mädchen setzte sich zurecht und spannte ihre Arme um seinen Körper. Dann gab er Vollgas und ließ die Kupplung los, so daß der kleine Roller mit einem Satz in den Verkehr hüpfte und im Strom der Autos verschwand.
Marie sah noch die Haare des Mädchens, die im Fahrtwind flatterten, und dachte, wenn Anna dabei wäre, hätten sie auch ein Moped oder Motorrad mieten können und zusammen herumflitzen können. Sie hätte Anna ihr Athen zeigen können. Eine Stadt, die sie durch lebendige Menschen kennengelernt hatte und nicht durch Geschichtsbücher. Wenn man nur die Uhr hätte zurückdrehen können. Dieses schwindelige Gefühl des Verliebtseins. Annas glitzernde braune Augen, ihr intelligenter Humor und ihre Wärme. Ihre ganze Erscheinung wie ein plötzliches, unerwartetes Geschenk. Zu schön, um wahr zu sein, hatte Marie damals gedacht. Aber sie hatte Anna doch angenommen und akzeptiert, daß das Leben auf einmal sehr einfach war; das Glück war da, wo Anna war. Und dann hatte sie noch ein Blatt im Buch gewendet. Mit Anna war sie ein Paar geworden. Mit Anna war sie im Auto durch Deutschland und Frankreich gefahren, anstatt eine Charterreise auf die Kanarischen Inseln zu machen. Mit Anna war sie auf Vernissagen und in Weihnachtskonzerte gegangen, anstatt auf Kneipentouren und zum Ausverkauf. Sie war so glücklich darüber, von Anna gewollt zu werden, daß es völlig gleichgültig war, was sie zusammen machten. Zwei Jahre lang hatte der Rausch angehalten. Es war wohl wirklich zu schön gewesen, um wahr zu sein. Es mußte vielleicht in einer Katastrophe enden. Aber eigentlich war die immer auch dagewesen. Sie hatte sich geduckt und hinter den Schatten versteckt, darauf gewartet, daß der Rausch vorüberginge. Es war nicht die Geige, wie Anna immer behauptete. Ihre Verschiedenheit holte sie am Ende ein. Anna liebte ihre Arbeit. Marie haßte ihre. Anna gab nie auf. Marie wagte nicht einmal zu hoffen. Anna hatte den Schmerz nie akzeptiert. Marie erlag ihm.
Marie trank den Rest aus ihrer Tasse und überlegte, ob sie noch eine bestellen sollte oder lieber bezahlen und gehen, ehe einer der Männer sich herausgefordert fühlte, seine Potenz zu beweisen. Sie wunderte sich, ziemlich in Ruhe gelassen zu werden. Lag es vielleicht daran,
daß sie älter geworden war und deshalb kein so interessantes Objekt, oder hatte ihre Ausstrahlung etwas Abschrekkendes? Wie auch immer, es war eine Wohltat. Sie konnte es brauchen, in Ruhe gelassen zu werden und nachdenken zu können. Ihr wurde immer klarer, daß sie die Arbeit nicht schaffen würde. Sie erforderte eine Unternehmungslust, die sie nicht hatte und nie gehabt hatte, nicht einmal als mittelmäßige Verkäuferin. Sie war mehrmals kurz davor gewesen, Anna anzurufen, aber jedesmal, wenn sie die Nummer gewählt hatte, hatte sie aufgelegt, sobald es klingelte. Einen Monat Probetrennung, keinen Kontakt und totale Freiheit für beide. Das war Annas Gegenzug, und das mußte sie respektieren, auch wenn es schwerfiel. Sie vermißte Anna. Aber es war auch schön, allein zu sein. Als ob der Teil von ihr, der ein Paar mit Anna war, am Ende so groß geworden wäre, daß sie vergessen hatte, wer sie allein war. Und es war an der Zeit, diesen Teil wiederzufinden. Höchste Zeit.
Die Tür war angelehnt, und aus dem Zimmer dröhnte das Radio mit voller Lautstärke. Helen schien nicht gehört zu haben, daß Marie anklopfte. Sie stolzierte in einem seidigen Hosenanzug umher. barfuß auf den roten Fliesen, im Takt zur Musik. Ihr Koffer lag offen auf dem Bett, sie schien zu packen. Die Sonne sickerte durch dünne Gardinen und verbreitete sich wie warme Flecken auf dem Boden. Es roch frisch nach Zitrone und Rosen, einem Parfüm, das Helen gekauft hatte, als sie nach Athen kamen. Sie schien gerade aus der Dusche zu kommen. Die Haare waren in nassen Wellen zurückgekämmt und hatten dunkle Flecken auf Kragen und Rücken hinterlassen. Ein nasses Handtuch lag über dem Schreibtisch, und das Zimmer hatte schon fast den Charakter ihres Arbeitszimmers in Stockholm angenommen, Berge von Kleidern und Papieren waren überall verteilt. Warum bittet sie mich nicht rein, dachte Marie und blieb mit der Hand auf der Türklinke stehen. Als ob Helen ihre Gedanken gehört hätte, drehte sie sich plötzlich um und schien erst ärgerlich zu werden, aber dann winkte sie Marie lachend ins Zimmer.
»Allmählich gewöhne ich mich daran«, sagte sie mit einem Blinzeln und drehte das Radio leiser. »Komm rein und setz dich. Ich will mit dir reden.« Sie zeigte auf das Sofa und ging ins Badezimmer, um das Zahnputzglas auszuspülen. Sie goß zwei ordentliche Drinks ein und zündete sich eine Zigarette an. »Rauchst du?« fragte Marie. »Eigentlich nicht«, antwortete Helen und paffte zwei perfekte Rauchringe. »Das habe ich vor vielen Jahren von meinem Bruder gelernt. Jetzt rauche ich nur manchmal aus Trotz. Ich dachte, du solltest ihn kennenlernen, meinen Bruder, meine ich. Ich habe Tickets nach Karpathos gekauft. Du wirst deine Jeans und deine Windjacke brauchen, morgen fahren wir aufs Meer hinaus.« »Fahren wir die ganze Strecke mit dem Schiff?« »Wir fliegen nach Heraklion. Dann nehmen wir in Agios Nikolaos das Schiff.« »Aber du hast doch versprochen ... daß wir nicht nach Kreta fahren.« »Wir bleiben doch nur ein paar Stunden. Warum ist es denn so schlimm?« Marie sah auf den Boden. Es schmerzte in Schultern und Hals, als ob sie anfangen müßte zu weinen. Sie sah, wie Helens Glas sich ihrem näherte, und hörte die beiden Gläser aneinanderklirren. »Jesses! Trink, dann fühlst du dich gleich besser. Ich werde nicht mit dir schimpfen, wenn du das meinst. Ich hatte das eigentlich heute schon vorgehabt, aber dann habe ich es mir anders überlegt. Ich war aus allen möglichen Gründen sehr angespannt vor dieser Reise. Was hältst du also von einem kleinen Abstecher auf ›die naturwüchsige und charmante Insel Karpathos, wo du deine eigene Badebucht finden kannst, von glitzerndem Wasser geblendet wirst und ruhige und angenehme Ferien verbringen kannst‹, wie es in unserem Prospekt heißt?« Marie trank das Glas leer, aber es gelang ihr doch nicht, das Schluchzen zu unterdrücken. »Hier, Marie, es ist nicht so schlimm«, sagte Helen tröstend und reichte ihr ein Taschentuch. »Jetzt vergessen wir diese Woche und fahren weiter.«
Marie trocknete die Tränen und schneuzte sich in das Taschentuch, das stark nach Zitrone und Rose duftete.
2
»Was ist eigentlich mit dir los?« Es war eine einfache Frage. Sie brauchte nur ein bißchen zu lügen und den Wein auszutrinken, den Helen ihr eingegossen hatte. Vielleicht noch ein Glas Wein zu trinken, bis die Angst verschwand und sie wieder normal atmen konnte. Sie hatte offenbar schon einiges getrunken, denn sie hatte den Eindruck, der Boden des Restaurants schwanke unter ihr. Als sie sich in der Toilette eingeschlossen hatte, begannen die Kacheln sich zu drehen, und sie brauchte sich nur über das Klo zu beugen, und das Mittagessen käme hoch. Marie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und drückte die Stirn gegen den Spiegel. In vier Stunden würde das Schiff ablegen. Die Gefahr, daß Dimitris auftauchte, war minimal. Er hatte in Heraklion andere Wege. Orte, wo man ihm auf die Schulter schlug und ihn zu einem Ouzo einlud. Und wenn er jetzt auftauchte und sie erkannte, was machte sie dann, überlegte sie und versuchte, die Hand ruhig zu halten, als sie die Wimpern neu tuschte. Was er machen würde, sah sie in ihren eigenen Pupillen, die sich zu zwei schwarzen Löchern zusammenzogen. Was er zu tun versprochen hatte, wenn er sie zu fassen bekäme. »Ich habe Angst«, sagte sie zu Helen, als sie an den Tisch zurückkam. »Das sehe ich. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Es ist jetzt vorbei.« Marie goß sich ein Glas Wasser ein und trank es in einem Zug. Sie hatte eigentlich nichts erzählt. Nichts darüber, wie ihre Beziehung wirklich ausgesehen hatte. »Ich habe geschworen, nie mehr meinen Fuß hierherzusetzen«, sagte Marie und betrachtete die ringgeschmückte Hand, die mit dem Handgelenk auf dem
Tischtuch ruhte. Sie sah stark aus. Klein und fest und mit breitem Handrücken. Sie wünschte sich, daß diese Hand sie anfaßte. Sie festhielte, bis die Furcht nachließ. »Das habe ich auch geschworen. Aber man wird immer irgendwie zur Rückkehr gezwungen.« Marie folgte dem sandfarbenen Licht- und Schattenspiel des Jakketts, den Falten, die sich nie in Knitter verwandelten, sondern glatt fielen, wenn der Stoff gestreckt wurde. Dem Ärmel, der an der wattierten Schulter angenäht war, hinüber zum Kragen, der Hals und Nacken berührte. »Er hat mich wirklich reingelegt«, sagte sie schnaubend. »Oder ich habe mich reinlegen lassen. Ich weiß eigentlich nicht, wie alles gekommen ist.« »Hast du Lust, es zu erzählen, oder tut es dir zu weh?« Marie schaute an ihr vorbei und aus dem Fenster, auf die Straße, wo Kinder spielten. »Ich war seit einem halben Jahr hier unten als Reiseleiterin. Als es Winter wurde, sollte ich eigentlich zurück, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, bleiben zu müssen. Das klingt vielleicht blöd, aber irgend etwas hielt mich hier fest, etwas, das ich erlebt hatte, als ich das erste Mal als Interrail-Reisende hier war.« Marie sah, daß Helen lächelte, und unterbrach sich. »Klingt das merkwürdig?« »Nein, überhaupt nicht. Sprich weiter.« »Ich hatte ein Dorf gefunden, wo ich den Winter über ein Zimmer mieten konnte. Dort habe ich Dimitris getroffen. Er kam jeden Sonntag seine Familie besuchen. Er unterschied sich von den anderen Männern durch sein Verhalten. Er schien kaum zu bemerken, daß ich ein junges, blondes Mädchen aus Schweden war. Er fragte nicht mal, was ich hier machte oder wie lange ich bleiben wollte. Aus der Art, wie die anderen Männer vor ihm krochen, konnte ich schließen, daß er vermutlich Macht und Geld besaß.« »Das ist meistens synonym«, sagte Helen und schnipste einen Tabakkrümel vom
Tischtuch. »Hatte er sein Geld im Ausland verdient?« »Nein, nicht daß ich wüßte. Er hatte verschiedene Geschäfte; Immobilien, Hotels, Restaurants. Er war reich, das war mir bald klar, oder auf dem besten Weg, es zu werden. Ich hatte immer das Gefühl, daß das, was ich dann machen sollte, ein Nebenerwerb war. Ich wurde nämlich von ihm angestellt. So lernten wir uns kennen. Ich vermietete Autos, Mopeds und Motorräder in einem Laden außerhalb von Heraklion, der ihm gehörte. Wir sind daran vorbeigekommen, als wir mit dem Taxi vom Flughafen fuhren.« »Aha, du hast nichts gesagt.« »Nein, ich hatte Angst, daß ich ihn sehen würde oder er mich, ich bückte mich deshalb. Eigentlich ist es total bescheuert. Ich brauche nur hierherzukommen, und schon habe ich das Gefühl, er sieht mich, egal, wo ich bin.« »Trink noch ein bißchen Wein, und versuch dich zu entspannen. Du brauchst keine Angst zu haben. Er kann dir nichts mehr anhaben.« In der Sonne, die durch das Fenster fiel, glänzte Helens schwarzer Angorapulli in einer Rundung über der Brust. Marie nahm das Glas, das Helen ihr reichte, und führte es zum Mund. Sie wollte nicht betrunken werden, nur nicht mehr so verspannt sein. »Habt ihr dort zu mehreren gearbeitet?« »Nein, ich war meistens allein. Stavros, ein Cousin, kam nachmittags und schaute nach den Autos. Er fuhr so laut mit den Motorrädern hin und her, daß man kaum telefonieren konnte.« »Das macht Markus auch«, seufzte Helen. »Ich zähle die Tage, bis er endlich den Autoführerschein machen kann.« Marie erstarrte. Warum sprach Helen von ihrem Sohn? Wollte sie nicht mehr zuhören? »Und wie kamt ihr zusammen?« Marie lauschte auf den Tonfall, aber sie konnte keine Spur von Angst heraushören. Vielleicht bildete sie es sich nur ein.
»Er fragte mich, ob ich für ein Wochenende mit nach Athen kommen wollte. Ich war nicht verliebt, nicht mal angezogen von ihm. Ich sehnte mich verzweifelt nach der Gesellschaft von erwachsenen Menschen. Die einzige Gesellschaft, die ich tagsüber hatte, war ein kleines Mädchen namens Maria. Ihrem Vater gehörte das Café neben dem Autoverleih, und sie kam immer zu mir, um mit mir zu sprechen oder dazusitzen und mir zuzuhören, wenn ich Vokabeln lernte. Wir spielten ein Spiel, bei dem sie mir griechische Wörter beibrachte und ich ihr englische. Sie brachte mir auch alle griechischen Lieder bei, die sie kannte. Sie glaubte bestimmt, ich sollte lieber im Bouzoukiclub auftreten, anstatt Autos zu vermieten.« »Das würde wohl wirklich besser zu dir en«, sagte Helen und lächelte vielsagend. »Möglich.« Marie schaute weg. »Ich sollte vielleicht nicht weitererzählen«, sagte sie und hielt die Luft an. »Du hast diese Geschichte bestimmt schon viele Male gehört oder in der Zeitung gelesen.« Auf der Straße standen ein paar Jungs und produzierten sich. Sie klopften ans Fenster, um Aufmerksamkeit zu erwecken. Helen sah aus, als ob sie sich durchs Fenster auf sie stürzen wollte. Ihre Augen wurden schwarz, und in der Daumenfalte schwoll ein Muskel an, als sie die Faust auf dem Tisch ballte. »Es tut mir weh, daß du ausgerechnet hier an so einen Mann geraten bist. Ich weiß, daß es genausogut auch in Schweden hätte ieren können«, sagte Helen und blitzte die Jungen wütend an, bis sie in einem Café ein Stück weiter verschwanden. Sie wühlte in ihrer Handtasche nach den Zigaretten. »Ich war auch selbst schuld. Ich hätte sofort gehen sollen. Aber ich wurde überrumpelt. Ich hätte nie gedacht, daß es mir ieren könnte.« »Was ist denn iert?« »Wir waren in Athen mit ein paar Freunden in einem Nachtclub. Er hatte mir ein Kleid gekauft, das ich anhatte. Es war eigentlich gar nicht mein Stil. Ein rotes, ziemlich ausgeschnittenes Etwas, aus einem Stoff, dünn wie ein Spinnennetz ...«
Marie schwieg. Dieses Geräusch von Stoff, der in Streifen gerissen wird. Jedesmal, wenn er nach ihr griff und sie zu fliehen versuchte, hörte sie dieses Geräusch, bis das Kleid in Fetzen an ihr hing und überall im Zimmer Rotes herumlag wie nach einer Schlacht. »Du kannst es vielleicht nicht erzählen.« Marie schaute Helen an. Sie bekam wenigstens keine Angst, so wie Anna. Aber wie würde sie am nächsten Tag reagieren? Würde sie so tun, als ob nichts iert wäre? Helen hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, das Kinn in der Hand. Sie hatte ein breites, beinahe viereckiges Gesicht mit kräftigen Wangen- und Kieferknochen. Auch ihr Hals war breit und muskulös. Sie hatte die Lider braun und silber geschminkt, die Wimpern waren kräftig getuscht, die Augen beinahe schwarz, die Lippen rot, wie aus Blut. Sie sah aus, als ob sie jemanden töten könnte, wenn es nötig war. »Als wir in der Nacht nach Hause kamen, sollte ich die Gegenleistung erbringen. Als ob ich eine Hure wäre, die er aufgegabelt hatte. Irgendwann hörte er dann auf, ich weiß nicht, warum. Dann zwang er mich, völlig ruhig neben ihm zu liegen. Jedesmal, wenn ich mich bewegte, bohrte er mir die Finger in den Arm, um mich daran zu erinnern, daß ich keine Chance hatte. Irgendwann schlief ich ein, gab auf und ließ ihn mich töten. Am Morgen war er wieder völlig normal. Es war, als ob es nie geschehen wäre.« »Bist du dann mit ihm zurückgefahren?« »Du brauchst mir nicht zu sagen, daß ich selber schuld bin«, fauchte Marie. »Das ist mir sehr wohl bewußt.« »Das wollte ich damit nicht sagen.« »Was mache ich, wenn er hier auftaucht?« Die Angst griff nach Maries Hals, und sie drückte sich gegen die Stuhllehne, um Luft zu bekommen. »Versuch, an etwas anderes zu denken.«
»Er hat mich vielleicht schon gesehen. Oder einer seiner Bekannten hat mich gesehen. Er kann jeden Moment hier hereinkommen.« Helen stand vom Tisch auf und wischte sich ein paar Brotkrümel vom Rock. »Ich möchte dir etwas zeigen, bevor wir hier abreisen«, sagte sie und streckte die Hand nach Marie aus. Die Straße schlängelte sich zwischen terrassierten Abhängen hindurch. Olivenhaine und Weinberge erstreckten sich in langen Reihen, mit steiniger, grauer Erde dazwischen in stummer Abgewandtheit. Im Westen türmte sich das Ida-Gebirge auf, weiß, majestätisch, hoch erhoben über die Kurzsichtigkeit des Alltags. Sie fuhren mit dem Taxi quer über die Insel nach Faistos im Süden. Touristenbusse, so groß wie Schiffe, kamen ihnen entgegen. Die Straße war schmal, und der Berghang fiel senkrecht neben ihr ab. Augen zumachen und an etwas anderes denken. Sich vom Fahrstil des Chauffeurs ablenken. Helen saß vorne und redete mit dem Kreter über Politik. Marie hörte nur mit einem Ohr zu. Sie fuhren durch Dörfer, in denen Hühner gackernd vor den Kühler liefen, die Blicke der Männer in den Cafés neugierig der gemächlichen Fahrt des hellblauen Dodge über den Marktplatz folgten. Er war weich gefedert und scheuchte Mopeds, Esel und Menschen an den Rand der schmalen Straße. Das Radio dröhnte ohrenbetäubend und sprang zwischen mehreren Stationen hin und her. Der Fahrer rauchte und schnipste die Asche aus dem Fenster. Der Himmel war blau. Die Luft klar. Das Wissen, daß das Meer ganz nah war, auch wenn es noch von den Bergen verdeckt wurde, machte das Atmen leicht. Marie dachte an Anna, daran, über eine Woche nicht mit ihr gesprochen zu haben, an den Abstand zwischen ihnen, der jeden Tag größer wurde, wie eine Spalte, die immer tiefer ging, je breiter sie aufriß. Sie hätte ihr gerne diesen Teil ihres Lebens gezeigt. Aber jetzt durfte Helen ihn mit ihr teilen.
Helen stand auf einer der Mauern des antiken Palastes von Faistos, der Wind spielte in ihren Haaren. Im Westen glitzerte ein Zipfel der Bucht von Messara, im Osten erhob sich das Dikti-Massiv, im Süden lagen die Asteroussia-Berge
und das libysche Meer und weit oben im Norden das Ida-Gebirge mit den schneebedeckten Gipfeln. Himmel, Berge, Meer. Die Minoer hatten den Platz für den Palast wirklich sorgsam ausgesucht. Marie ging in die Knie und strich mit den Fingerspitzen über den steinernen Boden. Er war glatt und noch warm von der Sonne. Sie wünschte sich, sie könnten bleiben, bis die Sonne unterging. Sie hätte den Ort gerne im Dunkeln gesehen, unter den Sternen. Sie schaute auf die Uhr. Sie mußten los, wenn sie das Schiff nach Karpathos erreichen wollten. Sie rief Helen, bekam jedoch keine Antwort. Sie lief die Treppen hinauf und stellte sich hoch oben auf die Mauer, wo Helen gestanden hatte. Die Touristen begaben sich zu ihren Bussen. Es waren nicht mehr viele Leute in der Anlage. Dann kam Helen wie aus dem Nichts. Sie winkte Marie zu, die Haare wehten im Wind. Wie schön sie war. Wie anders sie sich bewegte. Sie kam zu Marie und hielt sich die Hand über die Augen. »Ein merkwürdiger Ort, nicht wahr?« »Man fragt sich, wie es hier vor viertausend Jahren ausgesehen hat«, sagte Marie und sprang zu Helen hinunter. »Bestimmt ganz anders.« »Ich glaube, wir können uns das nicht einmal mehr vorstellen. Leider«, seufzte Helen und ging zum Auto. »Du hast deine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt«, sagte Helen und setzte sich neben Marie auf den Rücksitz. »Was ierte, als du mit Dimitris zusammengezogen warst?« »Es wurde schlimmer«, sagte Marie und beobachtete das Spiel der Armmuskeln, wenn der Chauffeur schaltete. »Ganz am Anfang ging es gut. Wir sprachen nie über das, was in Athen iert war. Ich fing sogar an zu glauben, daß ich alles nur geträumt hatte. Dimitris konnte ziemlich unterhaltend sein, wenn er gute Laune hatte. Ich wollte ihn deswegen zwar nicht heiraten, aber es war auch schön, nicht mehr allein zu sein.« »Wie reagierte seine Familie?« »Sie sahen es gar nicht gern, daß wir zusammenwohnten. Aber ich habe nie wirklich erfahren, was sie über mich redeten. Ich erinnere mich an eine Tante,
die immer ein Kreuz schlug, wenn sie mich sah, während ihr Alter sich am Sack kratzte. Dimitris hatte übrigens auch andere Frauen. Er ging ins Bordell, und ich hörte auch das Gerücht, daß er ein reiches Mädchen aus Rhodos heiraten wollte, dessen Vater in der Baubranche war.« Helen wühlte in ihrer Handtasche nach Zigaretten. Der Chauffeur reichte eine Marlboro zwischen den Sitzen durch, die er ihr dann unter großen Mühen anzündete. »Ich habe ihn nie richtig verstanden«, fuhr Marie fort. »Er sah aus wie ein Mann, der in einem großen Kampf stand. Er konnte am Fenster des Ladens stehen, die eine Hand in der Hosentasche, die andere auf dem Fensterkreuz, und hinausschauen, als suchte er nach den feindlichen Linien. Ich habe nie verstanden, was er sah.« Marie erinnerte sich daran, wie er aussah, wenn er sich zu ihr umdrehte und es ihm gelungen war, den Feind zu lokalisieren. Sein Lächeln; eine verzerrte Grimasse aus Verachtung und angewiderter Lust. Sie sah ihn vor sich, wenn er sie gefangengenommen hatte und verhörte. Wie er in der Wohnung auf und ab ging und ihr lange Vorträge hielt, wer sie eigentlich war, welche Motive und Absichten sie hatte, was sie dachte, fühlte und meinte. Es war ganz egal, ob sie sich verteidigte oder etwas erklärte. Er bohrte sich mit seinen Fragen und Folgefragen in sie hinein. Wiederholte sie immer wieder mit Finten aus allen Ecken. Er gab nie auf. Und Worte, die sich minimal im Tonfall oder in einer Nuance änderten, waren Anlaß für einen Ausbruch mit Schlägen und wütenden Beleidigungen. Sie erinnerte sich, wie klein die Welt geworden war, wie ihre Identität zerbröselte, wie die Selbstverachtung sie glauben machte, daß sie an allem schuld war. Sie erinnerte sich an die Angst als an einen Zustand, der nicht verging. Gewalt und Verzweiflung waren wie ein Kitt zwischen ihnen. »Bist du schwanger geworden?« fragte Helen. »Nein, gottlob nicht. Ich ließ mir aus Schweden die Pille schicken und versteckte sie, damit Dimitris sie nicht fand. Sie waren die Rettungsboje, an der ich mich festklammerte. Er konnte mich wenigstens nicht schwängern. Wenn das iert wäre, hätte ich mich ertränkt. Obwohl nicht viel gefehlt hat, und ich hätte es auch so gemacht. Am Ende war ich so deprimiert, daß ich bloß noch sterben
wollte. Ich weiß, daß Maria sich um mich sorgte, obwohl sie nie etwas sagte. Sie kam jeden Tag nach der Schule und saß im Büro und redete oder machte Schulaufgaben, als ob sie gespürt hätte, daß ich nicht mehr leben wollte. Irgendwie hat sie mich gerettet; sie war die einzige, die sich wirklich um mich kümmerte.« »Wie bist du aus dem allen herausgekommen? Ist jemand aus Schweden gekommen und hat dich geholt?« Es wurde still im Auto. So still, daß die Gedanken ein Echo an der Hirnschale hervorriefen. Konnte sie kaum atmen, weil Helens Hand so dicht neben ihrer auf dem Sitz lag, weil sie in einer scharfen Kurve aneinandergedrückt worden waren, weil ihre Nähe die Luft verdichtete? Oder war es schon so schlimm, daß sie von Vergewaltigung und Mißhandlungen erzählen konnte, aber nicht von Liebe, weil die sich auf Frauen richtete? »Ich glaube, ich erzähle die Fortsetzung ein anderes Mal«, sagte sie und sah den Ansatz zu einer Frage, die auf Helens Lippen hängenblieb. »Ich zwinge dich nicht«, sagte Helen, und sie fuhren weiter mit der Frage zwischen sich.
3
Sie kamen in das übliche Durcheinander, wenn alle gleichzeitig von der Fähre runter und hinauf wollen. Lastwagen voller Gemüsekisten, Personenwagen, Mopeds und Motorräder wurden in einer Wolke aus Dieselgestank und mit lauten Flüchen hin und her dirigiert. Marie übernahm das Kommando und drängte sich durch eine Ansammlung von Inselbewohnern mit lebenden Tieren, schwarzgekleideten Frauen mit Kartons und Tüten bis über beide Ohren beladen, Eltern, die ihre Kinder anschrien, und Kinder, die ihre Eltern anschrien, die sie anschrien. Sie drängelten sich durch bis zu einem mürrischen und schlechtriechenden Matrosen, der ihre Karten abriß und auf eine schmale Treppe zeigte. Sie gingen die Treppe hoch und stellten ihr Gepäck an zwei freien Plätzen ab. Dann gingen sie auf Deck und betrachteten das Spektakel von oben. Hupende Autos, Kommandorufe und Beleidigungen waren vom Kai zu hören. Der Wind trug den Geruch von Diesel und Meerwasser bis nach oben. Leere Plastikflaschen und Zigarettenschachteln schaukelten auf dem schwarzöligen Hafenwasser zwischen gelbbraunem Schaum. Helen betrachtete das Ganze mit einem wehmütigen Lächeln. »Wolltest du wieder zurückkehren?« fragte Marie. »Zu Hause ist, wo das Herz ist.« »Und wo ist das Herz?« »Das Herz ist unglücklich. Es gehört nirgendwo hin.« Marie schaute Helen fragend an. Meinte sie Griechenland, oder bezog es sich auf etwas anderes? »Nos-tal-ghea, vor Heimweh zu sterben. Ich wollte immer hierher
zurückkommen, aber ich werde es vermutlich nie machen.« »Hast du Lust, es zu erzählen, oder tut es dir zu weh?« Helen lachte, weil sie die Frage erkannte. »So, so, du meinst also, jetzt wäre ich an der Reihe? Ja, das ist wohl nicht mehr als recht. Ich weiß nur nicht, was ich sagen soll. Ich habe gerade dagestanden und gedacht, ich habe mir vielleicht alles nur eingebildet. Ich habe die Geschichte von meinem Leben vielleicht nur erfunden als Alibi, um nicht leben zu müssen.« »Ich glaube, wir brauchen bestimmte Beschränkungen, um leben zu können«, sagte Marie und stellte einen Fuß auf die Reling. »Wenn es die nicht gibt, müssen wir sie erfinden.« »Beschränkungen«, wiederholte Helen und folgte mit den Blicken einer Möwe, die ins Wasser tauchte. »Ich habe immer geglaubt, die Beschränkungen haben mich von hier weggetrieben. Aber vielleicht habe ich sie ja selber erfunden.« Marie bemerkte einen Mann, der sich neben sie gestellt hatte. Er hatte eine Zigarette angezündet und tat so unbeschwert, als ob es reiner Zufall wäre, daß er sich ausgerechnet hierhin gestellt hatte. Marie wußte, es war ihr unmöglich, sich zu entspannen, bevor sie ein Stück weit auf See waren und sie sicher sein konnte, daß Dimitris ganz bestimmt nicht auf dem Schiff war. »Was ist denn los, Marie? Hast du Angst vor Männern?« »Was?« Marie zuckte zusammen. »Du hast vielleicht Angst vor mir.« Helen sagte es leise, fast nebenbei, und holte dabei ein Paar Lederhandschuhe aus der Tasche und zog sie an. Sie spreizte die Finger, legte die Handgelenke auf die Reling und umschloß das Eisen dann mit einem Finger nach dem anderen zu einem Griff, der wie festgeschweißt zu sein schien. Dann drehte sie langsam den Kopf, bis sie dem Mann in die Augen schauen konnte, zog die Lippen von den
Zähnen und zeigte ein Wolfsgrinsen. Er ging weg. »Hat funktioniert«, konstatierte Helen zufrieden und streckte sich. »Sollte ich Angst haben?« »Vor Männern?« »Nein, vor dir.« »Das hoffe ich wirklich nicht.« Helen hob die Augenbrauen und versuchte, unschuldig auszusehen, aber Marie war keineswegs beruhigt. Wer war Helen eigentlich? Mit wie vielen Masken spielte sie? Wie sah ihr wirkliches Gesicht aus? »Du wolltest gerade etwas erzählen«, erinnerte Marie. Helen seufzte und verschwand in ihren Gedanken. Inzwischen wurden die Motoren angelassen, der Hafen wurde immer kleiner, und die Fähre bewegte sich ins Meer hinaus. Die Himmel war bleigrau, und es wehte ein kalter Wind. Sie gingen hinein und holten sich einen Becher Kaffee zum Aufwärmen. »Stell dich darauf ein, daß wir bald aufs offene Meer hinauskommen«, sagte Helen und blies in den Kaffee. »Auf dieser Reise kann es ziemlich stürmen. Ich hoffe, du überstehst es.« »Ich neige nicht zu Seekrankheit, wenn du das meinst.« Marie trank einen Schluck von dem schwarzen Kaffee und spürte sofort Übelkeit hochsteigen. Aber das kam mehr von der Anspannung und Nervosität als davon, daß der Boden unter ihren Füßen schwankte. Sie hatte keine Lust mehr, mit Helen Katz und Maus zu spielen, vor allem, wenn die Jagd immer nur in eine Richtung ging. »Ich möchte, daß du jetzt etwas über dich erzählst. Ich kann nicht Gedanken
lesen.« »Entschuldige, Marie. Ich bin ... ich erzähle fast nie etwas über mich. Ich kann besser Fragen stellen und zuhören.« »Ich kann auch zuhören.« »Das glaube ich gerne.« »Wir fahren zu deiner Familie. Sollte ich da nicht etwas wissen?« »Es ist besser, wenn du nichts weißt.« Marie erwartete, daß es weiterging, aber es kam nichts mehr, sie gab also auf und ging an Deck. Die nördliche Küstenlinie wurde zu einem langgestreckten Horizont, die Farben verschmolzen zu einem bläulichen Dunst. Marie gefiel es, die Insel kleiner werden zu sehen, um schließlich vom Himmel und vom Meer verschluckt zu werden. Sie hatte versucht, vier Jahre ihres Lebens in der Erinnerung in einen bläulichen Dunst zu verwandeln. Worüber man nicht redet, das gibt es auch nicht. Das war die gleiche Einstellung, die ihre Mutter zu ihrer Beziehung zu Anna hatte. Bald würde sie recht bekommen, das alte Scheusal. Totschweigen, warum funktionierte das nur manchmal? Warum war es ihr nicht gelungen, Dimitris totzuschweigen? Warum brauchte es so wenig, um ihn wieder zum Leben zu erwecken? Vielleicht, weil er nie richtig begraben worden war. Der Aufbruch hatte einer Flucht geglichen. Nein, falsch. Es war eine Flucht. Die Möglichkeit, den Mißhandlungen zu entkommen, zeigte sich an dem Tag, als Renate ins Büro kam und ein Auto mieten wollte. Sie hatte sich auf Kreta mit einer französischen Geliebten verabredet, die aber nicht auftauchte. Als Marie verstand, daß Renate der rettende Engel war, um den sie Gott gebeten hatte, begriff sie auch, daß sie die Komik des Daseins unterschätzt hatte. Und Dimitris offenbar auch. Das einzige, was sie bereute, als sie im Flugzeug nach München saß, war, sich nicht richtig von Maria verabschiedet zu haben. Aber damit mußte sie leben.
Marie hörte, wie eine Tür vom Innendeck aufgeschlagen wurde und Schritte sich von der Seite näherten. Sie starrte immer noch Kretas Bergmassive an, die Möwen, die plötzlich in die Wellen tauchten. »Marie«, hörte sie Helen sagen, und sie wünschte sich zum ersten Mal, eine andere Stimme hätte sie angesprochen. »Es ist wirklich wahr, ich erzähle fast nie etwas über mich«, fuhr Helen zögernd fort. »Als ich nach Schweden kam, wollte ich keine Geschichte zu erzählen haben. Ich wollte auslöschen, was mich beschränkt hatte. Und ich habe lange geglaubt, das sei mir gelungen. Ich heiratete einen schwedischen Mann, ich bekam zwei schwedische Kinder, ein schwedisches Häuschen, einen schwedischen Volvo und schwedische Wertvorstellungen. Ich lernte akzentfrei Schwedisch sprechen, damit ich keine Geschichte hatte, über die andere Menschen spekulieren konnten. Ich war das Schwedischste, was je in einem Paar Holzschuhe herumgelaufen ist. Das glaubte ich zumindest, bis die Kinder größer wurden und verstanden, daß sie Großeltern hatten und gleichaltrige Cousinen, die in einem Land lebten, das keineswegs auf der anderen Seite der Welt lag, sondern dort, wo viele Schweden ihre Ferien verbrachten.« Marie drehte sich um. »Warum ... hast du nicht ...?« »Ich wurde von meiner Familie verstoßen, als ich Peter kennenlernte«, fuhr Helen fort. »Mein Vater hatte mein Leben von der Wiege bis zur Bahre verplant. Er duldete nie irgendeinen Widerspruch. Wenn ich dageblieben und den Nachbarjungen geheiratet hätte, dann hätte ich das Leben meiner Mutter wiederholt. Und ein schlimmeres Schicksal kann ich mir wirklich nicht vorstellen.« »Lebt dein Vater noch?« fragte Marie. »Ja, merkwürdigerweise lebt er noch« sagte Helen und schüttelte den Kopf. »Er müßte eigentlich schon lange tot sein. Während der Besatzung durch die Deutschen war er Partisan. Danach kämpfte er im Bürgerkrieg auf der Seite der Republikaner. Er hat mehr Menschen umgebracht, als zu seinem Ruf als Freiheitskämpfer nötig gewesen wäre. Er saß im Gefängnis und wurde gefoltert. Aber Unkraut vergeht offenbar nicht.«
»Hast du Geschwister?« »Vier Brüder. Aber ich habe nur Kontakt zu Jannis, meinem großen Bruder. Es ist der einzige in der Familie, den ich liebe. Klingt das schrecklich?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Marie. »Es ist nicht mehr ganz so schrecklich, wie es gewesen ist.« »Deine Eltern müssen doch stolz auf dich sein, daß du es so weit gebracht hast.« Helen schaute Marie an, als ob sie nicht richtig gehört hätte. Dann begann sie hysterisch zu lachen. Sie hörte plötzlich auf, holte ein Taschentuch aus der Handtasche und wischte die Tränen ab. »Ich habe mehr Macht und Geld als sonst jemand in dieser Familie. Ich könnte ihnen helfen, aber ich darf nicht.« »Warum nicht?« »Wenn ein Mann mit allen Zeichen des äußeren Erfolgs aus dem Ausland zurückkommt, dann wird er in seinem Dorf wie ein Held empfangen. Wenn eine Frau den gleichen Empfang erwartet, begeht sie den größten Fehler ihres Lebens.« Helen holte wieder ihr Taschentuch hervor. Sie sagte nichts, aber die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Entschuldige«, murmelte sie und schneuzte sich. »Ich hätte dir das nie erzählen sollen. Es wäre besser gewesen, wenn du nie etwas erfahren hättest.«
4
Marie sah kaum das Tischtuch vor lauter Essen und Trinken, das auf dem langen Tisch in Schwager Elias’ neugebauter Taverna stand. Platten und Schüsseln wurden aus der Küche heraus- und wieder hineingetragen, Korken knallten, und die Gläser klirrten in ständigen Prosits und Glückwünschen für das Restaurant. Die Familie und entfernte Verwandte, der Dorfpriester, Nachbarn und Kinder wurden ihr gezeigt, Verwandtschaftsverhältnisse erklärt. Gleichzeitig wurde Maries Glas immer wieder gefüllt, so daß alles sich in einem einzigen großen Festrausch drehte. Helen hatte ihren Arm auf Maries Stuhllehne gelegt, und sie mußte sich weit hinüberlehnen, um gehört zu werden. Marie spürte den Duft von Helens Parfüm und ihren warmen Atem auf der Wange. Als sie den Kopf drehte, waren ihre Gesichter so nah beieinander, daß der Kuß schon im Blut zu spüren war. Sie sah, wie die Pupillen sich weiteten, die Brust sich hob, als Helen Luft holte. Sie gibt sich fast ein bißchen zu deutlich zu erkennen, dachte Marie und wandte den Kopf ab. Sie drehte sich ein wenig, um die tanzenden Männer beobachten zu können; die machten sich auch lächerlich, auf ihre Art, aber sie verbargen es wenigstens nicht. Sie nahm eine Aufforderung zum Tanz an, um Helen zu ärgern, bereute es jedoch sofort, als sie die starken Hände um ihre Taille spürte. Der Mann hob sie zu heftig hoch, und sie fürchtete, daß er sie auf den Boden schleudern wollte. Sie stolperte und fiel vor ihm auf die Knie, die anderen Männer lachten und klatschten in die Hände.
Helen lehnte sich an Maries Gesicht und machte eine Handbewegung, so daß die Retsinaflasche umfiel. Marie hob sie schnell wieder auf und begann, am Etikett zu kratzen.
»Marie, ich rede mit dir!« Helens Finger umklammerten ihren Unterarm. Es tat weh. Helen war stärker, als sie geglaubt hatte. Sie schaute auf die kleine, breite Hand mit den vielen Goldringen und den rotlackierten Nägeln, die ihr in die Haut stachen. Sie hatte sich so lange gewünscht, Helen möge sie anfassen, daß sie sich total verspannte. Sie wollte, Helen nähme sofort die Hand weg, und sie wollte es nicht. Marie sah, daß Jannis, Helens großer Bruder, sie beobachtete. Die anderen Familienmitglieder schienen von den lauten Gesprächen aufgeschluckt zu sein, die über den Tisch wogten; man aß, trank, scherzte und beleidigte einander mit dem gleichen gierigen Appetit, als ob das Leben jeden Moment aufs neue erobert werden müßte. Aber Jannis machte ein besorgtes Gesicht. Wußte er etwas über Helen, das für Marie wissenswert war? Dann ließ Helen plötzlich ihren Arm los und drehte das Gesicht weg. Ihre Finger hatten weiße Abdrücke auf Maries Haut hinterlassen. »Du hättest es gleich sagen sollen«, sagte Helen und füllte ihr Glas so heftig, daß es überlief. »Du hättest ja auch fragen können, wenn es dir so wichtig war, alles über mich zu wissen.« »Ich habe gefragt. Es war beinahe meine erste Frage.« »Du hast gefragt, ob ich verheiratet sei, ob ich einen Freund hätte. Als ob das das einzige wäre, was für dich in Frage kam.« »Du hättest trotzdem sagen können, wie es ist. Du hättest dich erklären können.« »Dazu hast du mir keine Möglichkeit gegeben. Ich habe mich einfach nicht getraut. Ich hatte Angst, daß du mich dann nicht haben willst.« »Du hast mich hinters Licht geführt. Die ganze Geschichte mit Dimitris. Mein
Gott, Marie, ich habe wie ein Tier gekämpft, damit sie dich in Ruhe lassen. Aber ich habe mich offenbar vergeblich bemüht. Du warst gar nicht zugänglich für Männer. Du hast die ganze Zeit an Frauen gedacht oder vielleicht an deine Frau zu Hause in Schweden. Hast du eine? Eine, die auf dich wartet?« »Ich weiß es nicht. Es lief nicht so gut zwischen uns in letzter Zeit«, sagte Marie leise und kratzte wieder am Etikett. »Deshalb habe ich auch diesen Job angenommen. Ich mußte eine Weile wegkommen, um herauszufinden, was ich eigentlich will.« »Ich glaube, ich will nicht wissen, zu welchem Schluß du gekommen bist«, sagte Helen und hob ihr Glas. Sie trank es aus und stellte es mit einem harten Knall auf den Tisch. Mißbilligende Blicke. Aber sie sah sie nicht oder scherte sich nicht darum, was die anderen von ihr dachten. Sie beugte sich vor, und Marie spürte ihre Hand auf ihrem Knie. »Es war vielleicht besser, daß du nichts gesagt hast. Ich hätte nicht gewagt, so eng mit dir zusammenzusein, wenn ich gewußt hätte, daß du lesbisch bist.« Marie schob die Hand weg und stand auf.
Sie stolperte in der Dunkelheit vorwärts. Die Brandung wurde deutlicher, je weiter sie sich vom Haus entfernte. Sie schrie, und der Wind nahm ihr Schreien und gab es den gewaltigen Wassermassen, die aufs Land zugestürmt kamen und sich wie scheugemachte Pferde aufbäumten, um dann an den Klippen zu zerschellen. Sie hatte einen Geschmack von Blut und Salz im Mund und mußte sich mit der Hand den Rotz von den Lippen wischen. Sie rief Anna, es klang wie Mama. Sie rief um Hilfe, aber niemand kam. Die Wellen erhoben sich wie wahnsinnig gegen sie. Sie war naß bis auf die Haut, aber sie fror nicht. Sie fiel und schlug gegen einen Felsen, aber es tat nicht weh. Sie wollte ertrinken, sie wollte wieder untergehen, sie wollte ins Meer und nie mehr zurückkommen. Sie rief weiter, lauter und verzweifelter, und sie kam mit jedem Felsabsatz näher.
Bald würde eine Welle sie erfassen, ihre Beine nehmen, ihr den Stand nehmen, sie mit sich reißen. Ihr Leben davontragen, so daß es nicht mehr ihre Last war. Sie hörte von weitem, daß die Welle riesig war. Sie konnte sie noch nicht sehen, aber sie hörte, welche gewaltige Kraft in ihr steckte. Sie brauchte nur ganz still zu warten. Dann packte sie etwas am Arm. So fest, daß sie nach hinten gerissen wurde. Sie schlug mit dem Kopf auf einem Stein auf, etwas wurde auf ihre Brust gepreßt, daß sie keine Luft mehr bekam. Das Dröhnen brüllte wie wahnsinnig, und plötzlich war das Wasser über ihr. Sie bekam Panik und versuchte loszukommen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Etwas hielt sie fest, und die Welle nahm sie nicht mit ins Meer hinaus. Sie konnte nichts sehen, aber sie konnte atmen, und die Luft, die sie einatmete, war kalt und sauerstoffreich. Sie spürte, wie jemand sie hochhob und an Land trug. Ich sollte nicht sterben, konnte sie noch denken, ehe sie bewußtlos wurde. Ich sollte leben.
5
Marie saß in der Küche und war in eine Decke gewickelt. Der Becher, den sie mit beiden Händen hielt, dampfte und roch nach Honig und Kamille. Auf dem Küchentisch stand ein Glas mit einem hausgemachten Sud, der gegen den Schüttelfrost wirken sollte, den sie die ganze Nacht gehabt hatte. Sie wollte nicht krank werden, deshalb trank sie das ölige Gebräu in kleinen Schlucken und ignorierte den Brechreiz. Helens Mutter, Evangelina, schaltete das Gas aus, als das Wasser kochte, und bedeutete mit einer Handbewegung, daß Marie die Füße hochnehmen sollte. Sie füllte dann die rosa Plastikschüssel, die vor Maries Stuhl auf dem Boden stand. Als Evangelina sich aufrichtete, bog sie sich nach hinten und faßte sich ins Kreuz. Als ob sie so lange getragen hätte, daß die Last am Rücken festgewachsen wäre. Sie strich die Haare aus den Augen, und in dieser leichten Handbewegung war etwas, das zeigte, sie hatte in der Vergangenheit auch andere Träume gehabt. Sie war unerreichbar in ihrem Schweigen und ihren Schichten von Fett. Sie sah Helen nicht ähnlich, außer in der Art, wie sie die Dinge anfaßte. Sie schob Berge von Tellern und Geschirr hin und her, daß die Küche immer mehr Helens Arbeitszimmer in Stockholm glich. Marie zog die Decke fester um sich. Sie hatte keine Lust, Helen zu treffen. Sie hatte sich auf der Überfahrt so merkwürdig benommen. Und es war immer schlimmer geworden, als sie angekommen waren und die Familie trafen. Es war, als ob sich in ihr etwas aufgestaut hätte, das schließlich explodierte. Marie erinnerte sich nicht mehr, was Helen gesagt hatte und warum sie davongelaufen war. Aber sie erinnerte sich an die Angst, und sie hatte vergessen, wie es war, solche Angst zu haben. Solche Angst, daß man alles macht, um ihr zu entkommen.
Aber jetzt fühlte sie sich geborgen unter der Wolldecke in der kleinen Küche, in der das Geschirr in der Spülschüssel klapperte und Jannis ab und zu von seiner Zeitung aufsah, um zu zeigen, daß er sie nicht vergessen hatte. Er hatte ernste Augen, mit einem Funken des gleichen Leids, das auf der Mutter lastete, aber in Jannis’ Augen war auch noch Freude. Er sah ehrlich aus. Und er schien so zuverlässig zu sein wie der Felsen, an dem er sich festgehalten hatte, als die Welle über sie hinwegspülte. »You must finish your drink!« sagte er streng und faltete die Zeitung zusammen. »It tastes like shit, but it’ll do you good.«
Auf der Treppe waren humpelnde Schritte zu hören, und Evangelina beeilte sich, die Katzen nach draußen zu scheuchen, die um einen Teller, den sie auf den Boden gestellt hatte, versammelt waren. Der Stock polterte gegen den Türrahmen, ehe Marie die Schüssel an einen anderen Platz schieben konnte. Der alte Freiheitskämpfer strich sich mit der Zunge über den Schnurrbart und betrachtete sie schweigend. Marie verschüttete Wasser, suchte nach einem Lappen, um es aufzuwischen, stieß mit Evangelina zusammen, die nach dem gleichen Lappen suchte, und mit Jannis, der den Kamillentee und den Sud von dem Platz wegstellte, der dem Vater, Kostas, zustand. »Und ich habe geglaubt, unser letztes Huhn ging, als der Junge des Schlachters seine Unschuld verlor.« Kostas lachte laut und polternd, aber das Gesicht verzog sich schmerzhaft, als er versuchte, sich auf den Stuhl zu setzen, auf dem Marie zuvor gesessen hatte. Jannis war schnell bei ihm und hielt ihn am Arm. »Die verdammten deutschen Schweine«, fluchte Kostas und streckte das steife Bein aus. Seine Haut war verschrumpelt, und er war knorrig wie ein alter Ast. Die nackte Brust unter der Schlafanzugjacke glich einem schlampig gepflügten Acker mit grauen Schollen. Er hustete ein paarmal und räusperte sich so tief, daß Marie sofort ihr Glas wegstellen mußte. Er rollte den Schleim, den er hochgeholt hatte,
im Mund, bis Evangelina ihm eine Tasse reichte, in die er ihn hineinspucken konnte. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und starrte Marie an. Irgend etwas war mit seinen Augen, ein milchiger Schleier, der einen unsicher werden ließ, ob er überhaupt richtig anwesend war. Die gebogene Nase, die schwarzen Adlerflügel über den Augen, die kurze, muskulöse Hand auf dem Stock. Marie sah vor sich ein brutaleres, härter ausgemeißeltes Bild von Helen. Bei Kostas war der Haß unmaskiert, bei Helen parfümiert, verborgen hinter Schmuck und schönen Kleidern. Aber es war der gleiche schwarze Kern, um den beide kreisten. »Zwei meiner Kinder habe ich an die syphilitische Hure verloren. Warum können die Leute nicht in ihren eigenen Ländern vögeln. Warum müssen sie dafür hierherkommen? Und die Schwulenbande, die alles ansteckt. Es juckt zwischen den Beinen, und am Ende vermodert das Gehirn.« »Wir haben Gäste, Kostas«, sagte Evangelina scharf und stellte eine Tasse Kaffee auf den Tisch. »Ich verstehe die Ausländer nicht. Warum müßt ihr hierherkommen und euch ertränken. Ist vor den Küsten von Schweden zuviel Eis?« »Jetzt hältst du den Mund!« Jannis stellte sich wie eine Wand zwischen Marie und Kostas. Er stand mit gegrätschten Beinen, die Schultern vorgeschoben und die Hände in den Seiten zu Fäusten geballt, als ob er darauf gefaßt sei, Schläge zu kriegen, obwohl er den trockenen Ast mit einem Streich hätte durchbrechen können. Der Alte schwieg und ließ durch den Schnurrbart hindurch einen Seufzer hören. »Ja, ich werde den Mund halten. Ich bin zu alt, niemand hört mir mehr zu. Aber ein Vater hat das Recht zu wissen, was seine Kinder mit dem Land machen, für das er sein Leben lang gekämpft hat. Was habt ihr vor, du und Helen? Was ist das für eine Scheiße, die ihr da zusammenbraut?« Jannis setzte sich mit gespreizten Beinen auf den Stuhl. Er atmete immer noch heftig, die Hand lag geballt auf dem kräftigen Oberschenkel. Er schaute Marie an, die unter die Decke gekrochen war. »Don’t listen to him. He is just a mean old dog.«
Marie lächelte matt und dachte, sie wolle doch versuchen, Anna anzurufen. »Helen bereitet ein Umweltprojekt vor«, sagte Jannis. »Ein was?« »Die Touristen wollen keine Belastung mehr für die Umwelt sein. Die Ausländer wollen die Verantwortung übernehmen für die Scheiße, die sie hinterlassen.« »Ist diese syphilitische Hure auf einmal religiös geworden? Ja?« »Ja, du würdest es wohl so ausdrücken«, seufzte Jannis. »Helen hat mich auf jeden Fall gebeten, ihr bei der Arbeit, die sie hier unten machen wird, zu helfen.« »Helen«, brummte der alte Kostas und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Sie bringt Unglück über mein Haus.«
»Warum hast du nichts gesagt?« Marie packte Helen an der Schulter und zwang sie, stehenzubleiben. Es herrschte immer noch ein scharfer Wind, und die Wellen zischten zwischen den Steinen am Strand. Der Wind zerrte an den Kleidern, und Marie mußte schreien, um gehört zu werden. Helen drehte sich um. Das Gesicht war gesprungen. Keine Konturen mehr. Alles war aufgelöst und kaputtgeweint. »Es tut mir leid wegen gestern«, sagte Helen und fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Warum hast du Jannis meinen Job gegeben?« schrie Marie. »Ich wußte nicht, daß ich mich in dich verliebt hatte.« »Warum lügst du mich an?« »Ich wußte gestern nicht, was ich sagte. Ich wußte nicht, daß ich verliebt war. Ich habe so etwas noch nie gefühlt.«
Marie starrte in Helens aufgelöstes Gesicht, ihre rotgeränderten Augen mit dem gleichen milchigen Blick wie bei Kostas. Es kam aus dem Rückenmark wie ein roter Feuerbesen, und in der nächsten Sekunde brannte der Schlag in der Handfläche. »Du kannst deine verdammte Umwelt nehmen und dir den Arsch damit abwischen! Ich scheiße auf dich und deine ganze Verwandtschaft. Ich fahre jetzt nach Hause.« Helen schaute sie mit großen Augen und offenem Mund an, sie hielt die Hand auf die Wange, als ob sie nicht verstanden hätte, was iert war. Marie drehte sich um und ging zum Dorf zurück. Sie hörte, daß Helen nach ihr rief, aber sie hatte nicht vor, eine Sekunde länger als nötig zu bleiben. Sie hatte unten am Hafen ein Münztelefon gesehen, und sie wollte es benutzen, egal, was Anna gesagt hatte.
Marie knallte mit aller Kraft den Hörer auf die Gabel und schlug die Stirn an die Wand. Als sie sich umdrehte, stand Helen da in ihrer Nerzjacke. Der milchige Schleier über den Augen war weg, und sie sah nur noch traurig aus. »Wie heißt sie?« fragte Helen. »Von wem redest du?« »Deine Freundin?« »Sie heißt Anna. Aber dieses verdammte Telefon ist kaputt. Das ist mal wieder typisch.« Helen streckte ihre Hand nach Marie aus. »Komm«, sagte sie leise. Marie kreuzte die Hände über der Brust und lehnte sich an die Hauswand. »Warum soll plötzlich Jannis meine Arbeit machen, und warum erfahre ich
nichts?« Helen steckte die Hände in die Taschen ihres Nerzes und hob die Schultern. »Ich hatte Jannis eigentlich schon viel früher gefragt. Wir haben schon oft zusammengearbeitet und kennen einander gut. Aber als ich letztes Jahr dich kennenlernte, hatte ich die Idee, daß wir Zusammenarbeiten könnten. Mir war bewußt, daß du eigentlich nicht die nötige Erfahrung hattest, aber der Gedanke ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte so ein Bild, wie wir Zusammenarbeiten und uns gleichzeitig besser kennenlernen würden. Aber als wir nach Athen kamen, wurde mir klar, daß es nicht ging. Du hast dich abgekapselt, und ich bekam Panik. Wenn du ein Mann wärst, hätte ich meine Gefühle besser verstehen können und vielleicht anders gehandelt. So war ich nur verwirrt.« »Das ist keine Entschuldigung dafür, daß du mich hintergehst.« »Ich habe erst heute nacht mit Jannis darüber geredet. Du hättest gestern ertrinken können, Marie. Weißt du das? Ich kann nicht die Verantwortung für jemanden übernehmen, der so labil ist.« »Kapierst du, daß ich eine Arbeit aufgegeben habe, die ich zumindest leisten konnte, und eine Beziehung, in der ich wenigstens Geborgenheit hatte«, unterbrach Marie, »nur weil eine heterosexuelle Frau sich nicht traut, ihre Motive zuzugeben. Du weinst ein paar Tränen, und alles geht weiter. Aber ich habe alles verloren. Kapierst du das?« Die Stimme überschlug sich, und Marie senkte den Kopf. Sie hatte nicht die Absicht, sich noch weiter vor Helen zu demütigen, und deshalb ging sie. »Marie!« Aber sie drehte sich nicht um.
in Not ...
1
Es ist Nacht. Ich laufe den Zug entlang dir entgegen, du stehst auf dem Bahnsteig, von dem der Zug abfahren soll, und du wendest dich von mir ab, als du mich kommen siehst. Du wendest dich um zu einer anderen ... Anna wachte auf mit einer Faust im Bauch und einer Hand um die Kehle. Sie tastete nach dem Lichtschalter und fiel wieder in die Kissen, als sie sah, daß erst die halbe Nacht vorbei war. Das Laken war um ihre Beine gewickelt wie ein verschwitztes Tau. Ein Traum. Es war nur ein Traum, dachte sie und stellte die Füße auf die Erde. Es war eiskalt, und auf dem Weg zum Fenster zog sie den Morgenrock an. Es schneite noch immer. Eine weiße Wattedecke über den Autos, die unten auf der Straße standen. Es sah friedlich aus, und sie wünschte sich, auch für sie gäbe es eine weiße Wattedecke. Sie fiel heftig nach vorne, wie in einem Krampf, klappte zusammen, die linke Hand auf den Bauch gepreßt. Die rechte Hand suchte Halt an der Kommode. Sie schleppte sich zur Toilette und sank auf den Badezimmerboden. Sie rollte sich zusammen wie ein winselndes Baby, schloß die Augen und wartete, daß es aufhörte. Aber als sie die Augen geschlossen hatte, war der Traum wieder da und Maries Augen, als sie sich abwandte, sich einer anderen zuwandte. Als ob er schon lange auf eine Gelegenheit gewartet hätte, stürzte der Schmerz sich auf sie mit besinnungsloser Hingabe. Er wohnte jetzt in ihr. Er besaß sie. Und sie versuchte, sich zu erinnern, wie es davor gewesen war. Wie es sich angefühlt hatte, wenigstens noch den Boden unter den Füßen zu haben. Aber sie sah nur die Spuren ihres eigenen Lebens. Wie die Karte eines versunkenen Kontinents. Sie versuchte aufzustehen, aber die Beine gaben nach, und sie fiel auf die Knie, schlang die Arme um die Kloschüssel. Sie versuchte, sich zu übergeben, aber es
ging nur ein kleines Schütteln durch ihren Körper, und ein Ton arbeitete sich vom Bauch nach oben und durch die Kehle. Wie ein Tier kroch sie auf allen vieren in den Flur, der Rotz lief ihr aus der Nase, die Lippen formten ein eintöniges Geräusch, das in den Ohren klingelte. Einen Blick auf den Anrufbeantworter, als ob sie die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben hätte, sie erhob sich mit klopfendem Herzen und wartete, bis das Band zurückgespult war. Es konnte Marie sein, die während der Nacht angerufen hatte. Sie hatte vielleicht fest geschlafen und das Klingeln nicht gehört. »Hallo, hier ist Barbro. Es ist Donnerstag abend, gleich acht. Ich bin meine Bahnen geschwommen, habe die Damen in der Sauna getroffen und gehe jetzt ein Bier trinken. Aber es ist nicht halb so nett, wenn du nicht dabei bist. Warum hast du nicht angerufen? Ist etwas iert? Ich habe dich die ganze Woche noch nicht gesehen. Melde dich, ich mache mir Sorgen.« Der Anrufbeantworter klickte, und es wurde wieder still. Sie hatte vergessen, die Nachricht vom Vortag zu löschen. Barbro wußte nicht, was iert war. Auch sonst niemand. Sie konnte einfach nicht darüber reden. Solange niemand etwas wußte, solange sie ihre Arbeit machte, gab es immer noch die Möglichkeit, daß es nicht geschehen war, daß Marie jeden Moment von der anderen Seite der Welt anriefe und bäte, zurückkommen zu dürfen. Die Hoffnung war nicht groß, nicht größer als der Lichtschein, der durch eine geschlossene Tür drang. Und sie lag zusammengerollt im Dunkeln davor und fixierte diesen schmalen Streifen Licht und Wärme, der noch nicht ganz verloschen war.
Isabelle, die nie zur Lucia gewählt werden würde, streckte die Hand. »Ja?« »Warum hat niemand etwas unternommen?« Anna schaute über die Klasse und verspürte plötzlich einen solchen Überdruß angesichts ihrer Schüler. Da saßen sie in Bänken, diese Teenies mit all ihren Fragen. Sie glaubten im Ernst, die Welt könne erklärt werden, auf jede Frage gebe es eine Antwort.
Normalerweise schätzte sie die Wißbegier, die keine Ruhe gab, ehe sie eine annehmbare Erklärung bekommen hatte. Aber jetzt wünschte sie sich bloß, in Ruhe gelassen zu werden. Daß sie die Lehrbücher auswendig lernten, die Namen und Zahlen lernten, die da standen, und sie nach nichts fragten. »Warum hat niemand etwas unternommen?« Sie hatte Lust zu kotzen. Auf das Katheder zu kotzen. »Das ist alles, was ich euch geben kann«, würde sie sagen. »Das ist die einzige ehrliche Antwort, die ich habe. Ihr könnt gerne in meinem Auswurf nach einem Sinn suchen. Er enthält die Lügen, mit denen ich mein ganzes Leben gelebt habe. Wenn ihr ein Körnchen Wahrheit findet, bin ich an der Reihe mit dem Fragenstellen. Aber macht euch gefaßt darauf, daß ich schwer zu überzeugen sein werde.« »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. Die Unruhe im Klassenzimmer war nicht zu überhören. Solche Antworten waren sie nicht gewohnt. Aber die Stunde war fast zu Ende. In fünf Minuten wäre alles vergessen. Dann war Wochenende und der Montag eine Ewigkeit weit weg. Sie erinnerte an den Test in der nächsten Woche und versprach, die Aufsätze bis zum nächsten Mal zu korrigieren. Wie sollte sie das bloß schaffen, dachte sie und steckte die Bücher und Kopien in ihre Tasche. Sie blieb sitzen, bis alle gegangen waren, und konnte dann nicht aufstehen. Ihr Körper war so schwer, daß sie nicht mal die Hand von der Tischplatte heben konnte. Sie hatte bestimmt Blei in den Adern. Plötzlich klopfte es an die Tür, und sie hob den Kopf, der ihr auf die Hände sinken wollte. Barbro kam ins Klassenzimmer und schloß die Tür hinter sich. »Wie steht es, Anna?« fragte Barbro, und die grünen Augen drangen für einen Moment durch den Schleier. Aber sie bemerkte die Gefahr rechtzeitig und richtete sich auf. »Gut soweit, ich bin nur so schrecklich müde. Ich werde nach Hause gehen und mich hinlegen. Vielleicht werde ich krank.« Sie konnte gerade noch ein mattes Lächeln hervorbringen. Aber Barbro schaute sie zweifelnd an.
»Vor mir brauchst du nicht die Heldin zu spielen«, sagte Barbro und setzte sich in die Bank vor dem Katheder. »Ich spiele nicht, ich bin nur müde. Ich werde nach Hause gehen und mich hinlegen. Tut mir leid, daß ich gestern nicht angerufen habe. Ich bin eingeschlafen, als ich nach Hause kam, und erst mitten in der Nacht wieder aufgewacht.« »Ich habe dich die ganze Woche nicht gesehen. Ist irgend etwas iert?« »Ich habe mich zu Hause vorbereitet. Ich habe es in der Schule nicht mehr ausgehalten, ich habe mich, wie gesagt, so matt gefühlt.« Barbro kippte den Stuhl auf zwei Beine und schaukelte vor und zurück und starrte dabei aus dem Fenster. Schließlich ließ sie los, und die beiden vorderen Stuhlbeine schlugen mit einem Knall auf. »Ich glaube dir nicht«, sagte sie und richtete sich auf. »Ich möchte, daß du mir erzählst, was iert ist. Ich kann dir vielleicht nicht helfen, aber ich kann wenigstens zuhören.« »Ich will vielleicht nichts erzählen.« »Das brauchst du auch nicht. Aber ich laß dich nicht allein zu dir nach Hause gehen, das bist du doch, allein. Ist Marie gefahren?« Es tat so weh, daß sie schreien wollte. Barbro stand auf und befahl ihr, die Tasche zu nehmen und ihr zu folgen. Sie würden unterwegs Wein kaufen, und dann gingen sie aus, in einen Sambaclub, wo Barbro manchmal hinging, tanzen. Es klang in Annas Ohren ganz schrecklich, aber sie hatte keine Kraft zu widersprechen. Sie mußte darauf vertrauen, daß Barbro wußte, was sie tat.
Barbros fünfzehnjährige Tochter Jessica war übers Wochenende bei ihrem Vater, und auf dem Küchentisch lag ein Zettel, den Barbro las und dann verlegen zusammenknüllte. »Sie hat Angst, daß ich Aids kriege. Wie findest du das?«
»Sie liebt dich.« »Ich sollte solche Zettel schreiben. Ich bin eine schreckliche Mutter. Arme Jessica. Ob sie mir wohl jemals verzeihen wird?« Barbro ging durch die Wohnung und machte überall kleine Lampen an. Keine scharfen Leuchtröhren wie in der Schule, sondern Punkte von warmem Licht, das die Schatten im Raum ließ. Sie holte eine Wolldecke für Anna, die vor Anspannung und Traurigkeit fror. Anna hatte seit über einer Woche nicht richtig geschlafen. Sie war davon aufgewacht, daß sie weinte, weil die Angst sie mit Traumbildern gequält hatte und das Bett so groß und verlassen war, daß sie sich im Kreis gedreht hatte, bis sie sich in die Laken verhedderte und die Kissen am Boden lagen. »Du mußt etwas essen«, sagte Barbro und stellte Käse und Pastete, Obst und kleine Gürkchen auf den Tisch. Sie tat das, was Anna selbst so viele Male gemacht hatte. Sich gekümmert, gebettet, getröstet, dafür gesorgt, daß das Leben noch eine Chance bekam. Das war Annas Aufgabe: andere zu stützen und wieder auf die Beine zu stellen. Aber jetzt war niemand mehr da, den sie stützen konnte. Marie war gefahren, hatte sie auf ihren eigenen zwei Beinen verlassen. Genau wie Monika, wie Niklas, wie all die Schüler, um die sie sich gekümmert hatte. Sie verließen sie, ohne auch nur ein Dankeschön zum Abschied zu sagen. Was hatte sie erwartet? »Trink ein bißchen Wein.« Sie tat, was ihr gesagt wurde. »Wann ist sie gefahren?« »Vor einer Woche.« »Aber sie kommt doch zurück?« »Das weiß ich nicht.« »Hat sie davon gesprochen, da unten zu bleiben?«
»Nein, aber sie hat nicht angerufen.« »Du kannst sie doch anrufen.« »Nein, kann ich nicht.« »Stolz?« »Nein.« »Hast du sie gefragt, ob sie jemanden getroffen hat?« »Ja.« »Und?« Anna nahm das Glas und führte es zu den Lippen. Der Rotwein schmeckte nach Erde. »Ich schaffe das nicht«, sagte sie dann leise und fing an zu weinen. Barbro gab ihr Papiertaschentücher. »Willst du sie zurückhaben?« »Ja, wenn sie mich will. Aber das will sie offensichtlich nicht, sonst hätte sie angerufen.«
»Das ist ein kleiner, intimer Club«, sagte Barbro und machte eine Holztür auf, die mit Plakaten vollgeklebt war. Hinter der Tür saß eine farbensprühende Frau mit einem enormen Busen und einer ebenso enormen Frisur und kassierte. Anna schaute ungläubig ihr Spiegelbild in der Garderobe an. Sie sah aus wie ein trauriger Clown. Eine leere Schale, die andere vollschmieren konnten. Barbro hatte einen Mund und ein Paar Augen draufgemalt. Andere konnten malen, was sie wollten. Es spielte keine Rolle mehr, weil es niemanden dort gab. »Es ist nichts Besonderes, alle kommen, wie sie sind«, sagte Barbro und zog Anna die Treppe hinunter in ein dunkles Kellerlokal mit Tischen, Stühlen, einer
Bar, einer kleinen Tanzfläche und einer winzigen Bühne, wo das Orchester gerade die Anlage einrichtete. Barbro holte an der Bar etwas zu trinken, und Anna setzte sich an einen Tisch an der Wand. Das Orchester begann mit einer leisen Samba, und ein Paar um die Fünfzig war gleich dabei. Die Frau trug ein einfaches Kleid, der Mann Kordhosen und ein weißes Hemd. An ihrer Kleidung und ihrem Aussehen war nichts Besonderes, dennoch ging ein Strahlen von ihnen aus. »Diese Musik macht einen fröhlich«, sagte Barbro und sah sich entzückt um. Anna nippte am Wein und stellte fest, daß Barbro offenbar meinte, was sie sagte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis jemand sie zum Tanz aufforderte. Ihre Augen glitzerten, die Haare glänzten, der Halsschmuck und die Armbänder funkelten. Barbro drehte sich auf dem Stuhl, um alles, was um sie herum ierte, sehen zu können. Die Jacke glitt fast unmerklich herab und entblößte die nackten Schultern. Sie erinnerte ein bißchen zu sehr an Marie, an neulich, als sie mit Maggan und Siv ausgegangen waren. Anna schaute zu Boden. Es widerte sie an. Sie wollte gerade zu Barbro sagen, daß sie ein Taxi nach Hause nähme, als Barbro sie bat, auf ihre Tasche aufzuen. Der Kavalier stand vor ihr, leicht nach vorne gebeugt, die Hände auf dem Rücken. Er nickte Anna freundlich zu und legte dann einen Arm um Barbros Taille und führte sie auf die Tanzfläche. »Diese Musik macht einen fröhlich«, brummte Anna vor sich hin und fragte sich, ob es so nun für alle Zeit wäre. Auf der Tanzfläche wurde es eng, und die tanzenden Paare sahen wirklich sehr fröhlich aus. Hätten sie und Marie mehr zusammen ausgehen sollen, dachte Anna. Am Anfang hatten sie es getan. Als ob die Freude und das Glück zu groß gewesen wären, um sie in einer Wohnung einzusperren. Es war egal gewesen, wo sie
landeten, solange es Menschen und Musik um sie herum gab. Warum hatte sie eigentlich damit aufgehört? Weil selten mehr als ein Ort zur Wahl stand? Es gab irgendwie keine freie Wahl. Es war eher so, wie auf eine Bank ganz hinten im Bus angewiesen zu sein. »Bitte schön, und amüsiert euch auf dieser Fläche!« Das wurde auf die Dauer ein bißchen trist. Es war immer öfter wie das letztemal, wie all die anderen Male, bis sie lieber ins Kino gingen oder zu Hause blieben. Anna betrachtete Barbro und fragte sich, ob sie glücklich war, wenn sie sich so einem Fremden in die Arme warf. »Überrasch mich!« sagte sie zu den Männern, die sie kennenlernte, aber keiner verstand, was sie eigentlich wollte. Barbro glich in diesem Punkt Marie. Sie erwarteten etwas von ihrer Umgebung, was die unmöglich geben konnte. Und die es ebensowenig lassen konnte, es immer wieder zu versuchen. Ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt war. Von vornherein verurteilt. Verurteilt. Wie die Liebe zu Marie ...? »Möchtest du mit mir tanzen?« »Was?« »Möchtest du tanzen?« Er roch nach Rasierwasser und war aus Chile. Politischer Flüchtling, tippte sie, sie reichte mit ihrer Nase bis an seine Schulter. Er sagte nichts. Er war wie sie in eigene Gedanken versunken und schien nur mit jemandem tanzen zu wollen. Sie ließ sich im Takt der Musik herumführen. Er tanzte gut, und es war angenehm, sich treiben zu lassen. Es war fast wie gewiegt werden. Sie stieß auf der Tanzfläche mit Barbro zusammen und wurde unerwartet in den Hintern gekniffen. Was fiel ihr ein, die Augenbrauen zu heben, dachte Anna und funkelte zurück.
Der Takt der Musik änderte sich, und die eine Hand des Chilenen drückte gegen ihren Rücken, die andere faßte ihre Hand. Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie spürte, daß er einen Ständer hatte. Wie ging das bloß zu, dachte sie und schaute auf. Er lächelte sie glasig an und suchte ihren Mund mit seinen Lippen. Sie erstarrte und drehte den Kopf weg. Es war so lange her, sie hatte fast vergessen, daß es mit Männern anders war. Es war, wie wenn man ein mechanisches Spielzeug aufzog. Es zappelt, bis es tot ist, und dazwischen ist es schwer zu bremsen. Sie sagte, sie müsse auf die Toilette. Er folgte ihr ein wenig enttäuscht ein paar Schritte, protestierte jedoch nicht, als sie sich aus seinem Griff befreite. Sie schloß die Musik und die Menschen aus und lehnte den Kopf an die weißen Kacheln. Sie dachte an Marie und ob sie es wohl nett hatte mit ihrer Chefin in Griechenland. Sie grinste ihr Spiegelbild an. Die Lippen und den Mund, die aufgemalt waren. »Zum Teufel mit allem!« sagte sie zu sich selbst.
Es war der gleiche Traum, der Anna am nächsten Morgen weckte, aber als sie die Augen aufschlug, wußte sie nicht, wo sie war. Ein Mann lag neben ihr auf dem Bauch, sein Mund war halb geöffnet, die Augenlider zuckten im Schlaf. Er hieß Carlos und arbeitete als Sperrenwächter bei der Bahn. Er besaß eine Journalistenausbildung und dunkelblaue Unterhosen. Mehr wußte sie nicht über ihn. Und mehr wollte sie auch nicht wissen. Es war dumm gewesen, und sie hatte auch nichts davon gehabt. Sie sollte vielleicht Scham empfinden, aber sie fühlte sich bloß einsam und elend. Sie stand so leise wie möglich auf, um ihn nicht zu wecken. Sie hoffte, daß schon eine U-Bahn führe. Ihr letztes Geld hatte sie für das Taxi vom Sambaclub zu seiner Wohnung ausgegeben. Sie fand ihre Kleider, ohne im Schlafzimmer Licht machen zu müssen, und ging auf Zehenspitzen in den Flur, wo sie sich schnell anzog. Sie überlegte einen Moment, ihm einen Zettel zu schreiben. Aber was sollte sie schreiben? »Verzeihung« war das einzige, was ihr einfiel. Aber wer hatte eigentlich wem was zu verzeihen?
Sie kam auf einen Laubengang und versuchte, sich im Dunkeln zu orientieren. Irgendwie fände sie schon nach Hause, dachte sie und ging an einer langen Reihe von Küchenfenstern und braunen Haustüren mit Mahagonifurnier entlang. Eine halbe Stunde später hatte sie die U-Bahn-Station gefunden, halb erfroren, nachdem sie durch unbekannte Straßen geirrt war. Die Bahn kam, sie drückte sich zitternd in eine Ecke des Waggons und klappte den Kragen zum Schutz vor der Welt hoch. Sie hatte so etwas noch nie gemacht. Sie hatte immer Angst gehabt zu fallen; einfach loszulassen und auf alles zu pfeifen. Selbstdestruktivität machte ihr angst. Sie hatte immer gegen sie angekämpft, war immer vernünftig gewesen, hatte aber doch mit ihr gelebt, nicht in ihr, aber mit ihr. Niklas, Vater, Marie, Monika, Barbro, die Schüler, an die sie sich immer wieder band. Sie rettete sie alle, weil irgendwann einmal sie an der Reihe wäre. Aber wenn sie die Verantwortung und die Kontrolle losließ, war niemand da. Es war leer.
2
»Atme alles aus, was dich beschwert. Atme die heilende Kraft des Lebens ein.« Sivs Handflächen preßten sich gegen Annas Fußsohlen. Kleine, trockene Hände drückten gegen das Fußgewölbe, die Stimme legte sich in dicken, sanften Schichten darüber. »Spüre, wie dein Körper immer schwerer wird. Atme ein – und aus.« Ein scharfer Geruch von Schaf drang in Annas Nase. Es kam von den Schaffellen, die Siv auf den Boden gebreitet hatte, damit sie nicht fror. Sie mußte an Bengtssons Schafstall denken, einen baufälligen Schuppen, der in der Pferdekoppel am Waldrand stand. »Das Basis-Chakra ist rot. Stell dir vor, wie die rote Farbe deinen ganzen Körper ausfüllt, aus dir hervortritt, so daß alles um dich herum einen hellroten Ton annimmt.« Bengtsson hatte in dem Sommer, bevor sie in die Oberstufe kam, fünf trächtige Mutterschafe gekauft. Das war der Sommer, in dem das Mädchen vom Nachbarhof erfahren hatte, daß das, was sie miteinander machten, nicht normal war. »Das Nabel-Chakra ist orange. Stell dir vor, wie die orange Farbe jede Zelle deines Körpers ausfüllt.« Sie hatte eigenhändig die Koje auf dem Dachboden abgerissen und ihre ganze Aufmerksamkeit den gotländischen Wollschafen gewidmet. Ein Mutterschaf hatte es ihr besonders angetan. Typischerweise war es kleiner als die anderen und hielt sich immer ein bißchen abseits. Ihr erstes Lamm stand nicht auf. Das zweite kämpfte lange, bis es auf den Beinen stand, aber da hatte das Mutterschaf sich schon für immer hingelegt.
Sie erinnerte sich, wie Bengtsson mit dem graulockigen Lamm auf dem Schoß dagesessen hatte und es schließlich dazu brachte, aus der Nuckelflasche zu trinken. »Das Herz-Chakra ist grün. Stell dir vor, wie die grüne Farbe deinen ganzen Körper erfüllt, ausstrahlt, daß alles um dich herum hellgrün wird. Zieh dann das Herz-Chakra zusammen, damit es seine ursprüngliche Größe wiederbekommt.«
Es dauerte eine Weile, bis Anna wieder in das Wohnzimmer von Sivs und Maggans Häuschen zurückfand. Die Haut spannte, wo das Salz seine Spuren hinterlassen hatte. Sie trocknete die Tränen mit dem Ärmel ab und setzte sich auf. »Du warst weit weg.« Siv hockte vor dem offenen Kamin und lächelte wie ein Buddha. Feuergelbe Elfen tanzten um ihren Kopf. »Hattest du eine Offenbarung?« fragte Maggan aus der Sofaecke. »Schafe. Bengtssons Schafstall.« »Bengtsson?« »Der Pächter.« »Der gute Hirte?« schlug Siv vor. »Ja, vielleicht.« Anna schaute ins Feuer. Der große Haufen Birkenholz, den sie hineingeschichtet hatten, war zusammengefallen, und inmitten der Flammen glühte ein Gesicht in Orange und Schwarz. Es sah aus wie eine erstarrte Maske, eine dämonische Grimasse, die sie ansah. »Du möchtest vielleicht eine kleine Massage haben.« »Ich möchte lieber eine Tasse Kaffee haben.«
»Du bist wunderbar!« lachte Maggan und schlug mit den Handflächen auf die Schenkel, so daß die Katze vom Sofa sprang und sich verschlafen das Fell putzte. Der englische Hirtenhund, der ausgestreckt neben Siv gelegen hatte, fuhr mit einem Bellen hoch, worauf das Widderkaninchen am Fenster davonhoppelte und sich flach unter das Bücherregal quetschte. »Hör auf, Laban!« schrie Maggan und stieß den Hund mit dem Fuß, so daß er auf den Boden plumpste. »Er muß raus«, sagte Siv und hob ein paar schwarze Perlen auf, die das Kaninchen hinterlassen hatte. »Ich lasse ihn raus.« »Margareta. Du weißt doch genau, daß er abhaut.« »Es ist dein Hund. Du solltest ihn besser erziehen.« »Ich respektiere seine Persönlichkeit.« Maggan griff sich an den Kopf und stöhnte. »Mein Gott, wo hast du nur all diese alternativen Ideen her?« Anna stand auf und holte im Flur die Leine. Sie mußte Laban zwischen den Beinen festklemmen, damit sie den Karabinerhaken am Halsband befestigen konnte. »Willst du dich opfern?« »Ich muß mich ein bißchen bewegen. Ich bin etwas verspannt.« »Dann komme ich mit. Laban hat keinen entspannenden Einfluß, weder auf Tiere noch auf Menschen.« Draußen war es grau und matschig. Große Schneebatzen rutschten mit dumpfem Platschen von den Tannenzweigen. Auf den Feldern brach die schwarze Erde unter dem Schnee hervor. Alles war still und zusammengezogen. Keine Bewegung, nicht einmal eine Andeutung. Nur Warten. Sie gingen schweigend hintereinander am Straßenrand entlang. Anna war froh über die Gesellschaft und die Stille und hoffte, daß Maggan nicht meinte, mit ihr
reden zu müssen. »Was machst du, wenn Marie nicht zurückkommt?« Ich bring mich um, dachte Anna. »Du wirst doch keine Dummheiten machen.« »Nein.« »Versprichst du es?« »Ja.« »Man glaubt, es geht nie vorbei. Aber eines Tages ist es eine Erinnerung und keine offene Wunde mehr.« Ich will nicht, daß es vorbeigeht, dachte Anna. Ich will nicht, daß es überhaupt iert. »Ich habe gesehen, du hörst deinen Anrufbeantworter alle Viertelstunde ab. Es wäre vielleicht besser, wenn du versuchen würdest, Marie loszulassen. Meinst du, daß du das kannst?« »Ich möchte nur wissen, ob sie angerufen hat.« »Das ist nicht gut, Anna. Du mußt versuchen, dich zu entspannen. Du bist so aufgedreht, du platzt beinahe. Du treibst dich selbst in den Wahnsinn.« »Wenn schon, dann treibt Marie mich in den Wahnsinn.« »Ich spreche aus Erfahrung. Laß Marie los.« Anna spürte Maggans Hand auf der Schulter. »Bitte, nimm Laban«, sagte sie und gab Maggan die Leine. Sie spürte ein unwirkliches Stechen unter dem Schädeldach und fragte sich, ob sie verrückt wurde. Es war, als wenn die Mächte sich verschworen hätten, ihr Marie wegzunehmen. Aber sie ließe nicht freiwillig los.
»Heute ist Vollmond. Wir könnten ein Ritual machen.« »Können wir die Verehrung der Göttin nicht mehr theoretisch angehen?« stöhnte Maggan und schob den Teller weg. Sie lehnte sich zurück und rülpste hörbar. »Ich bin zu satt, um nackt im Schnee zu tanzen. Ich kriege Seitenstechen, wenn ich bloß daran denke.« Siv kitzelte Maggan, daß sie vom Stuhl hochfuhr und mit dem bellenden Laban über sich auf dem Boden landete. »Ich ergebe mich. Aufhören! Nimm die Bestie weg!« »Du bist viel zu faul, Margareta.« »Das kommt darauf an, mit wem man mich vergleicht.« »Du brauchst jemanden, der dich in Schwung bringt.« »Und du brauchst ein Valium.« Anna drückte die Nase ans Fenster und konnte in der Dunkelheit die einsamen Silhouetten des Gewächshauses, des Geräteschuppens und der Obstbäume ausmachen. Am Himmel glänzten die Sterne wie verschüttete Milchtropfen auf schwarzem Zement. War der Nachthimmel in Griechenland genauso kalt und abweisend, oder war er warm und einladend? Wie lange dauerte es, bis Marie sich meldete? Warum konnten Maggan und Siv nicht anfangen zu streiten?
Anna zitterte unter der Decke in ihrem geliehenen Flanellpyjama. Maggan saß im Korbstuhl, stützte die Füße aufs Bett und rollte ein Stück Papier zwischen den Fingern. »Eigentlich ist es merkwürdig. Ich habe immer das Gefühl gehabt, es stimmt nicht, irgend etwas fehlt immer. Verstehst du, was ich meine?«
Anna nickte und versuchte, nicht mit den Zähnen zu klappern. »Man könnte verrückt werden, wenn man daran denkt, wie wir hereingelegt worden sind.« »Ich glaube, daß alle Frauen es im tiefsten Innern wissen«, sagte Anna. »Und alle Männer. Deshalb haben sie solche Angst vor der Wut der Frauen.« »Von der Liebe der Frauen gar nicht zu reden.« »Welcher Liebe?« Maggan strich ihr über die Wange. »Meiner Liebe zu dir«, flüsterte sie und stopfte die Decke fester um sie. Sie küßte sie auf die Stirn und ging dann aus dem Zimmer. Innen an der Tür klebte ein Plakat aus den Glanzzeiten der Frauenbewegung. Das Bild zeigte den Tempel der Akropolis, wo eine aus der Reihe von Frauen, die das Dach trugen, ihre Gipsbinden abwarf und hervortrat, mit der Folge, daß das ganze Gebäude zusammenstürzte. Anna versuchte daran zu denken, was Marie ihr von Kreta erzählt hatte, versucht hatte, zu erzählen. Sie erinnerte sich nur noch vage. Vielleicht hatte sie nicht genug Geduld gehabt, auf die Worte zu warten. So vieles wollte sie Marie sagen, so vieles wollte sie fragen. So viele Gespräche waren nie geführt worden. Sie faltete die Decke und ging auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Der Anrufbeantworter piepste, und sie hörte, wie Niklas sich auf dem Band räusperte. »Hallo, ich bin’s. Warum hebst du nicht ab? Ich muß mit dir reden. Hat Mama dich angerufen? Ruf mich sofort an, wenn du nach Hause kommst. Es ist egal, wie spät es ist. Ich kann doch nicht schlafen. Anna ... ich muß mit dir reden.« Sie schlich in ihr Zimmer zurück und zog sich an. Sie stopfte ihre Sachen in die Tasche und schrieb einen Zettel, den sie aufs Kopfkissen legte. Sie hoffte, daß Laban nicht bellte, aber er knurrte nur pflichtschuldig, als sie am Hundekorb in der Küche vorbeikam.
Sie löste die Handbremse und ließ den Wagen den Hügel hinunterrollen. Als sie außer Hörweite war, ließ sie die Kupplung los, und der Motor sprang im zweiten Gang an. Sie kam sofort ins Schleudern, konnte aber gegensteuern. Es war drei Uhr nachts. Zum Melken würde sie da sein.
3
Anna parkte das Auto vor dem Stall und stieg aus. Sie rollte den Kopf, drehte die Arme wie Windmühlenflügel und trat fest mit den Füßen auf, um Leben in den Körper zu bekommen. Eine jungfräuliche Schneedecke ließ die Dunkelheit nicht völlig siegen. Die einzigen Spuren, die sie im Schnee ausmachen konnte, waren kleine Katzenpfoten und die geriffelten Abdrücke von Bengtssons Stallstiefeln. Das Haus schlief noch mit schwarzen Fenstern. Es würde gut und gern noch eine Stunde dauern, bis Karin in die Küche käme und Kaffee aufsetzte, damit er fertig war, wenn Ulf herunterkam. Nach einer weiteren Stunde würde der blaue Volvo aus der Garage fahren, und sie hätte Karin eine Weile für sich, bis das Telefon zu klingeln anfinge. Sie müßte den richtigen Moment abwarten. Sie schlug die Autotür zu und ging in die Melkkammer. Dort zog sie einen von Signes Overalls über und knotete sich ein Tuch um den Kopf. Im Stall war Licht, aber die Futterkrippen waren leer, und so mußte sie die Kühe mit der Mistgabel in den Hintern piksen, damit sie aufstanden. Die Ketten rasselten, als sie die Köpfe vorschoben und ihre schweren Körper hochstemmten. Dann hoben sie den Schwanz, und man mußte zusehen, daß man nicht im Weg stand. Was nicht in der Rinne landete, zog Anna mit dem Rechen hinein. Sie füllte den geflochtenen Weidenkorb und warf Hände voll Stroh unter die milchstrotzenden Euter. Die Kuh, die Bengtsson auf den Namen »Marie« getauft hatte, hatte gerade ihr zweites Kalb bekommen. Anna schaute auf die Tafel und sah, daß sie nicht sehr viel Milch gab. Sie würde nicht mehr lange hierbleiben. Zumindest nicht, wenn es nach Ulf ging. Anna ging zu der Kuh und strich ihr über den Rücken. Die Kuh wandte den Kopf und roch am Overall. Sie packte ein Stück Stoff mit der Zunge und zog,
ließ aber sofort los, als der erste Heuballen in die Futterkrippe plumpste. Plötzlich kam Leben in den Stall. Die Kühe muhten und rissen an den Ketten, um an die hartgepreßten Heuballen zu kommen. Anna spürte, wie die Müdigkeit sie übermannte. Sie legte die Arme auf den Rücken der Kuh und ruhte mit dem Kopf auf dem großen Körper. Sie schloß die Augen und hatte das Gefühl, auf einem Meer zu schaukeln, als sich die Kuh unter ihr bewegte. Sie war fast eingeschlafen, als sie Bengtssons erstauntes Rufen hörte. »Nein, so was! Gerade habe ich an dich gedacht, und dann stehst du hier, in Stallmontur und allem. Wie gut, daß du da bist. Ich kann ein bißchen Hilfe brauchen, jetzt, wo es Signe nicht gutgeht.« Mehr sagte er nicht, er schlitzte weiter die Ballen mit dem Messer auf und verteilte das Heu in den Futterkrippen. Anna betrachtete ihn eine Weile, dann ging sie die Melkmaschinen holen. Der alte Pächter war nie sehr gesprächig gewesen, und Anna wußte, daß es keinen Sinn hatte, etwas aus ihm herauskriegen zu wollen, ehe nicht fertig gemolken war. Sie hatte nicht mehr im Stall geholfen, seit sie ins Gymnasium gegangen war und noch zu Hause wohnte. Aber die Hände wußten die Griffe noch, und bald saß sie zwischen Reihen von Kühen und atmete den Geruch von Ammoniak und saurer Milch ein. Als die letzte Kuh fertig war, ging sie in die Melkkammer und startete das Spülprogramm. Bengtsson goß die Rohmilch in einen weißen Plastikeimer. »Den kannst du deiner Mutter bringen«, sagte er und drückte den Deckel, auf dem »Karin« stand, fest. »Signe läßt grüßen und für den Käsekuchen danken. Er war gut wie immer.« »Wie geht es Signe?« Bengtsson schüttelte den Kopf. »Nicht gut«, sagte er und rieb sich mit der Hand über die Augenbrauen. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und die Kiefermuskeln spannten sich unter den
Bartstoppeln. »Überhaupt nicht gut«, wiederholte er und wandte den Blick zum Fenster. »Es wird vielleicht wieder besser«, sagte sie und strich ihm etwas unbeholfen über den Arm. »Wir werden alt, Anna.« Er lächelte, aber man sah, daß er Angst hatte. Auch er hatte Angst. Anna schaute auf die Uhr und sah, daß es Zeit war. Sie schälte sich aus dem Overall und roch am Pulloverärmel. Karin konnte ganz ungeniert in ihrer Reitkleidung im Haus herumlaufen, ertrug es aber nicht, wenn Anna nach Stall roch. Als Anna an der Garage vorbeifuhr und auf den Kiesplatz kam, sah sie, daß keine Volvospuren im Schnee waren. Das war ein Strich durch die Rechnung. Nach der nächtlichen Autofahrt konnte sie am allerwenigsten irgendwelche idiotischen Kommentare von Ulf gebrauchen. Sie wollte schon fast umkehren, da wurde die Haustür geöffnet, und Karin stand in dem roten Velourmorgenrock, den Niklas ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, auf der Treppe. Die Dackel kamen herausgesprungen und bellten das Auto an. »Warum hast du nicht angerufen«, fragte Karin, als sie die Autotür aufmachte. »Ich konnte nicht. Ich habe mich so schnell entschlossen. Das ist von Bengtsson«, sagte sie und reichte ihr den Eimer. Karin fing gleich an zu schnüffeln, Anna verzichtete daher auf die übliche Umarmung und ging in die Küche, wo sie den Pullover auszog und einen anderen überstreifte. »Aber Anna, du hättest wirklich nicht zu kommen brauchen«, sagte Karin, als sie hereinkam und den Eimer auf den Küchentisch stellte. »Ich glaube nicht, daß es so ernst ist.«
»Aber was denn?« »Mit Papa natürlich, Niklas hat es doch bestimmt erzählt. Aber er übertreibt ja immer. Du hättest wirklich nicht nach Hause zu kommen brauchen, du bist ja leichenblaß.« »Ich bin die halbe Nacht gefahren.« »Geh dich ein bißchen hinlegen, Anna. Du siehst aus, als ob du Schlaf brauchtest. Ich muß diese Rohmilch einfrieren. Ich kann sie jetzt nicht verarbeiten. Ich muß ja gleich zu Papa fahren, aber du brauchst nicht mitzukommen. Ich glaube nicht, daß es gefährlich ist.« »Wo ist er?« »Im Krankenhaus, Thoraxklinik. Aber der Arzt sagt, er wird es schaffen. Er muß ein bißchen Ruhe haben. Ja, meine Liebe, was für ein Jahr. Und es hört gar nicht auf. Erst Niklas und jetzt Papa. Und Signe geht es offenbar auch nicht gut, habe ich Bengtsson sagen hören. Ich versteh nicht, was los ist. Aber geh dich hinlegen, Anna. Du siehst völlig kaputt aus. Ich wecke dich, wenn ich zurückkomme.«
Anna war auf dem Weg ins Gästezimmer, aber dann blieb sie stehen und ging ins Mädchenzimmer. Es war ein kleines, schmales Zimmer, das fast ganz von Karins Webstuhl eingenommen wurde. Ganz hinten stand Annas altes Kinderbett mit weißen Gitterstäben. Auf der Matratze lagen Berge von alten, abgelegten Kleidern, die zu Teppichstreifen geschnitten werden mußten. Anna nahm ein rotes Knäuel und wog es in der Hand. Ein kleiner, harter Ball aus Stoffetzen, der nach Staub roch. Sie hielt ihn an die Wange und dachte daran, wie Niklas in die Flickenteppiche in der Hütte geschluchzt hatte, wenn die Eltern sich stritten. Manchmal mußte sie ihn hauen, damit er aufhörte. Er hatte nicht viel dazugelernt. Er suchte immer noch Trost bei seiner großen Schwester. Anna hatte noch das Knäuel in der Hand und rollte sich auf das Bett. Sie zog
Karins altes Kleid über die Beine und stopfte sich eine Jacke unter den Kopf. Die Augen stachen vor Müdigkeit, und es brannte unter der Haut. Warum sagte Karin nichts? Anna drückte das Knäuel an den Bauch und wimmerte. Aber niemand kam, um sie zu streicheln.
Anna träumte, Marie habe ein neugeborenes Kalb im Wald gefunden. Es folgte ihr, wohin sie ging, wie ein Hund. Sie wachte auf, weil die Tür geöffnet wurde und Karins Stimme in ihren Traum drang. »Warum hast du dich hierherein gelegt? Ich habe gerade mit Niklas gesprochen, aber er sagt, daß ihr seit Wochen keinen Kontakt hattet. Was ist denn iert? Und warum bist du nicht in der Schule?« Anna setzte sich im Bett auf. Die Glieder waren steif, und die Zunge klebte am Gaumen. »Ich habe mich krankschreiben lassen«, sagte sie und sah, wie Karins Gesicht sich sofort verschloß wie eine Tür. »Bist du krank?« hörte sie von der anderen Seite der Tür. Wie machte man es? Wie machte Niklas es? »Marie hat mich verlassen. Ich habe seit zwei Wochen keinen Ton von ihr gehört. Ich weiß nicht mal, wo sie ist.« Karin blieb stehen, ohne ein Wort zu sagen. Anna ließ das Knäuel, das sie immer noch in der Hand hatte, fallen. Es rollte über den Boden, auf Karin zu, die sich gleich bückte, es aufhob und in den Korb legte. »Ich habe natürlich gedacht, daß du wegen Papa hergekommen bist. Ich weiß nicht richtig, was ich sagen soll. Du kannst dir vielleicht denken, daß das mit Papa mich ganz schön erschüttert hat.«
Karin schwieg und setzte sich auf die Bank des Webstuhls. Sie nahm das Knäuel wieder aus dem Korb und drehte es in der Hand. Die Hände waren von Adern durchzogen und leicht braun gefleckt. Aber sie waren weich und gepflegt. Sie hatte immer auf ihre Hände geachtet. Anna sah, daß der Ehering zu groß war. Sie hatte offenbar noch mehr abgenommen. »Wie geht es Papa?« Karin seufzte und ließ das Knäuel in den Korb fallen. »Er wird es auch diesmal schaffen. Aber sein Herz ist nicht gut, sagt der Arzt. Die Gefahr für weitere Infarkte ist groß.« Anna wußte, was sie sagen müßte, jetzt, wo die Tagesordnung festgelegt war. Aber sie konnte nicht. Sie hatte es satt, immer bei »Verschiedenes« zu landen. »Marie ist mit ihrer Chefin nach Griechenland gefahren. « Karin schaute sie an, als ob sie etwas Unendes gesagt hätte. »Na, dann weißt du doch wenigstens, wo sie ist. Vielleicht kann man von da nicht so gut anrufen.« »Ich weiß nicht, ob ich das hier schaffe, Mama. Ich habe das Gefühl kaputtzugehen.« »Es gibt vieles im Leben, was man nicht schafft und durch das man doch durch muß.« Sie stand auf, als ob mit diesen Worten das Gespräch für sie beendet wäre. »Ich kann nicht mehr! Verstehst du nicht, was ich sage? Ich kann nicht mehr!« »Beruhige dich, Anna. Es wird nicht besser davon, daß du mich anschreist. Ich kann auch nicht mehr, das solltest du verstehen.« »Ich habe Angst.« »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Karin. »Entweder kommt Marie zurück oder nicht. Keine von euch wird daran sterben. Da kannst du ganz
beruhigt sein.« »Ich werde daran sterben.« »Jetzt reicht es, Anna. Ich verstehe, daß es dir schlechtgeht. Aber du mußt verstehen, daß ich auch nicht mehr kann. Erst ein ganzes Jahr lang die Sorgen mit Niklas und dann das mit Papa. Heute hat Bengtsson erzählt, daß Signe operiert werden muß, sie hat Krebs. Es geht nicht mehr, Anna. Wir müssen einander helfen. Ich mache uns was zu essen. Du kannst inzwischen duschen und die Haare waschen. Ich mag diesen Stallgeruch nicht.«
Anna mußte mit aller Kraft ziehen, um die Tür der Scheune aufzukriegen. Der Schnee war die Wände hochgeweht und von Tauwetter zusammengedrückt worden. Schließlich bekam sie die Tür einen Spaltbreit auf und konnte sich hindurchzwängen. Erst sah sie nur die hellen Ritzen, wo die Latten abgegangen waren und die Bretter anfingen zu modern, aber sie erkannte den Geruch und das wohlbekannte Gefühl von Trauer und Erleichterung. Hier war sie immer in Ruhe gelassen worden. Unter dem Dach blies der Wind herein. Von einem der Balken hing ein Seil herunter. Es mußte hier gehangen haben, seit sie klein war. Sie erinnerte sich, wie sie sich auf dieses Seil gestürzt und Tarzan gespielt hatte. Am anderen Ende der Scheune standen immer noch die Lämmerboxen und Futterraufen. Sie hatte selbst geholfen, sie aus Abfallholz vom Sägewerk zusammenzunageln. Anna ging zur Leiter und kletterte auf den Heuboden. Die breiten Bretter waren von einer dicken Schicht Staub bedeckt. Es roch nach schimmeligem Heu und Mäusedreck. In all dem Gerümpel und Zeugs hier oben wimmelte es sicher von Mäusenestern. Sie schaute zur Fensterluke im Giebel hinüber. Dort hatte sie ihre Koje gehabt. Jetzt gab es sie nicht mehr, und sie fragte sich, wonach sie eigentlich suchte.
Anna hatte Zimtschnecken zum Kaffee vor dem Fernseher gebakken. Sie richtete ein Tablett und trug es ins Fernsehzimmer. Karin saß schnarchend im Sessel, die
Füße auf dem Hocker. Das Strickzeug war in den Schoß gerutscht, und ein paar Maschen waren gefallen. Anna goß ihr eine Tasse Kaffee ein und rührte zwei Stückchen Süßstoff dazu. Sie schaute ihre Mutter an, wie sie dasaß, das Kinn schlaff auf der Brust und einen glänzenden Speichelfaden im Mundwinkel. Sie sahen sich offenbar ähnlich, auch wenn sie selbst nicht wußte, worin diese Ähnlichkeit bestand. Eine Locke der schwarzen Haare, die immer ordentlich frisiert waren, lag auf der Stirn. Die Augenlider waren geschwollen, und die Tränensäcke hingen in deutlichen Falten unter den Augen. Karin sah aus wie ein Kind, versunken in ihre Träume, in ihre eigene Welt, wo niemand sie erreichen konnte. Vielleicht war das der einzige Ort, wo sie ganz und gar sie selbst sein konnte. Der Schein vom Fernseher warf einen bläulichen Schatten auf ihr Gesicht. Was hatte sie wohl als Kind für Träume gehabt, als sie jung war, als sie älter wurde? Hatte sie die je mit jemandem geteilt? Wußte Ulf, wer sie war? Wußte sie es selbst, oder war es auch für sie ein Geheimnis? Anna verspürte eine solche Lust, Karin zu berühren. Nicht sie zu wecken, nur ihre Hand zu berühren. Sie beugte sich vorsichtig zum Sessel vor, streichelte ganz leicht den Knöchel mit dem Zeigefinger. Die Hand bewegte sich, und das Strickzeug fiel aus dem Daumengriff. Anna hielt die Luft an und steckte ihren Zeigefinger in die Hand, so daß sie die Wärme spüren konnte. Sie hätte lange so sitzen können, aber Karin wachte mit einem Schnarcher auf und schlug die Augen auf. Sie schaute verwirrt um sich und stolperte über die Wörter. Anna zog schnell ihre Hand weg und hoffte, daß Karin nichts fragen würde. »Danke, danke! Wie lieb von dir«, sagte sie und setzte sich auf. »Ich bin eingeschlafen. Ich war so müde. Hoffentlich habe ich nicht geschnarcht.« »Du hast ein wenig geschnarcht. Aber das macht doch nichts.« Karin griff nach der Fernbedienung und machte den Fernseher aus. »Ich habe von Ulf geträumt«, sagte sie und machte das Papier von der
Zimtschnecke ab. »Manchmal habe ich mir gewünscht, daß er stirbt. Wir haben es so schwer miteinander gehabt. Kurze Perioden des Glücks, die das Unglück nur noch schlimmer gemacht haben. Es war nicht leicht, mit deinem Vater zu leben. Und trotzdem habe ich Angst, daß er stirbt.« »Was sagt er selbst?« »Was meinst du? Er treibt seine Scherze, wie immer.« »Hat er nicht nach mir gefragt? Oder nach Niklas?« Karin schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Kaffee. »Er will nicht, daß ihr ihn so seht.« »Wie so?« »So schwach.« »Wie ernst ist es?« Es wurde still im Zimmer. Anna spürte, wie ihr Herzmuskel sich zu einem kalten Klumpen zusammenzog. »Er kann sterben«, sagte Karin schließlich, ehe es aus ihr hervorbrach. Anna stand auf und legte ihren Arm um sie. Sie wiegte Karin an ihrer Brust und strich ihr über die Haare. »Er wird durchkommen, ganz bestimmt«, sagte sie tröstend. »Er wird uns bestimmt alle überleben.« »Das würde ihm ähnlich sehen«, schluchzte Karin und fing mitten im Weinen an zu lachen, als ob sich ein Strich von Versöhnung durch die Trauer zöge. Anna ging in die Küche, um eine Rolle Haushaltspapier zu holen. Als sie an der Spüle stand, schlug ihr die Angst wie eine Faust in den Magen, und sie klappte über einem Küchenstuhl zusammen. Sie preßte den Stuhlsitz, bis die Finger taub wurden. Da war wieder der Bahnsteig. Der Zug, der abfahren würde, und Maries abgewandter Rücken.
Karin schneuzte sich und wischte die Tränen ab. »Es ist schön, daß du zu Hause bist«, sagte sie und faltete das Haushaltspapier zu einem ordentlichen Viereck. »Papa wollte, daß ich dich nicht unnötig beunruhige. Niklas hat selbst angerufen, und ich kann doch nicht lügen, wenn er eine direkte Frage stellt. Ich dachte, er hätte mit dir geredet.« »Er hat auf meinen Anrufbeantworter gesprochen, aber hat nicht gesagt, was los ist, und ich konnte nicht mit ihm reden.« Karin schaute ein wenig beschämt hoch. »Ich verstehe, daß du reden mußt, aber ich glaube, ich kann im Moment nicht«, sagte sie und strich mit der einen gepflegten Hand über die andere. Anna schloß die Augen und knotete den Sack fest zu, so fest, daß die Enttäuschung nicht zu sehen war. »Du wirst sehen, es wird alles gut werden. Auch für dich.« Anna versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht richtig.
Beim schrillen Klingeln des Telefons sprang Karin aus dem Sessel hoch, stürzte in die Halle. Als sie zurückkam, war sie weiß im Gesicht, aber sehr gefaßt. »Ich möchte, daß du Niklas anrufst. Er soll sofort herkommen. Hol ihn an der Bahn ab, oder sag ihm, er soll ein Taxi nehmen. Ich fahre jetzt ins Krankenhaus. Kommt, sobald Niklas da ist.«
Anna rief zuerst bei der Bahn an und dann Niklas. Er war glücklicherweise zu Hause, wenn auch etwas angetrunken. Anna befahl ihm, auf der Stelle ein Taxi zum Bahnhof zu rufen. Die Fahrkarte sollte er im Zug lösen.
Als sie aufgelegt hatte, fiel sie um. Sie zog die Beine ans Kinn und preßte die Stirn an die Knie. Sie atmete keuchend. Die Hände lagen zu Fäusten geballt auf den Schienbeinen, die Arme waren verkrampft, wie ein festgerostetes Scharnier. Wenn sie versuchte, sich zu strecken, tat es so weh, daß sie die Luft anhielt. Sie schrie und schrie, aber der Schmerz ließ nicht nach. Sie schrie, bis sich eine Hand auf ihren Arm legte und das verkrampfte Bündel an sich zog. Sie brauchte nicht die Augen zu öffnen, sie erkannte am Geruch, daß es Bengtsson war, der aus dem Stall gekommen war. Er saß mit Stallstiefeln und Overall auf dem Küchenboden, und sie lag wie ein aufgewickeltes Flickenteppichknäuel in seinem Schoß. Als sie die Wärme seines Körpers und den Geruch von Stall in seinen Kleidern wahrnahm, ließ der Krampf nach, und sie begann zu weinen. Die Tränen flossen, der Rotz lief, und er wischte ihr das Gesicht mit dem Jackenärmel ab. Er strich ihr über den Rücken und wiegte sie in seinem Schoß. Er sagte nichts, er grunzte nur ein bißchen und schnalzte mit der Zunge. Als das Weinen schließlich verebbte und nur die letzten Schluchzer sie noch schüttelten, öffnete sie die Augen und schaute Bengtsson an. »Es ist wegen Marie«, flüsterte sie und fing wieder an zu weinen. Bengtsson zog sie hoch, bis sie vor ihm saß. »Über Marie brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Sie kommt zurück.« »Woher weißt du das?« Er wischte ihr Gesicht mit dem Ärmel ab und lächelte zerknautscht. »So was weiß man halt«, sagte er und zwinkerte.
4
Niklas kam mit einer halbgerauchten Kippe im Mund aus dem Bahnhofsgebäude. Er ließ die Reisetasche auf die Steintreppe fallen und suchte in den Taschen nach einem Feuerzeug. Er rauchte mit hochgezogenen Schultern und schaute um sich, als hätte er Angst, jemand könne ihn angreifen. Anna ließ den Motor an und fuhr den Wagen vor. »Wo kommste denn her, verdammt?« Er sah noch schlimmer aus als sonst. Bleich und unrasiert und mit Pickeln um den Mund herum und am Hals. Die Kleider stanken nach Rauch, und sie merkte sofort, daß er nicht nüchtern war. »Hast du im Zug getrunken?« fragte sie sauer und legte den ersten Gang ein. »Ich hab ein Bierchen getrunken. Was geht dich das an?« »Du siehst schrecklich aus, Niklas. Du hättest dich wenigstens rasieren können.« »Hör auf, verdammt noch mal!« brüllte er und schlug mit der Faust auf die Ablage. »Mach mein Auto nicht kaputt.« »Das ist doch wohl versichert.« »Ja, gegen Einbruchsschäden. Aber nicht gegen Ausbrüche.« Niklas stöhnte und zündete eine Zigarette an. »Kannst du nicht warten, bis wir am Krankenhaus sind?« »Mit was warten?« »Ich möchte nicht, daß du in meinem Auto rauchst.« Niklas kurbelte das Fenster herunter, so daß eiskalte Windstöße vermischt mit
Rauch Anna entgegenschlugen. »Mußt du dich benehmen wie ein Zehnjähriger?« »Mußt du an mir rummeckern, als ob du meine Mutter wärst?« »Du willst ja unbedingt jemanden, der an dir rummeckert. Würdest du bitte das Fenster zumachen. Es zieht.« Sie waren bald auf der Autobahn. Es war nach elf Uhr abends und stockdunkel. Anna mußte sich aufs Fahren konzentrieren und hustete nur demonstrativ, als Niklas sich eine neue Zigarette anzündete, kaum daß er die alte ausgedrückt hatte. Sie merkte gegen ihren Willen, daß er ihr leid tat. Es tat ihr weh, ihn so heruntergekommen zu sehen. Und gleichzeitig wußte sie, er kannte das Gefühl gar nicht, richtig verlassen zu sein. Immer hatte es jede Menge Menschen gegeben, die sich um ihn kümmerten. Der kleine Märtyrer. »Warum bist du eigentlich so unglücklich?« Niklas zuckte zusammen und starrte sie an, als ob sie ihn gerade geschlagen hätte. »Susanne will mir die Kinder wegnehmen, das weißt du doch«, sagte er mit seiner piepsigsten Stimme. »Ich versuche seit Wochen, dich zu erreichen, denn jetzt hat sie auch noch so einen verdammten Anwalt eingeschaltet und ...« »Noch ein Wort über deine Scheidung, und du kannst zu Fuß ins Krankenhaus gehen!« schrie Anna und klammerte sich am Steuerrad fest. Es pochte in den Schläfen, und sie mußte langsam bis zehn zählen, um nicht in den Graben zu fahren oder auf die Bremse zu treten. »Was ist denn mit dir los? Du benimmst dich wirklich merkwürdig.« »Ich bin krankgeschrieben, um einen psychischen Kollaps zu verhindern. Ich wollte mich hier zu Hause ein bißchen erholen, aber da kam ich ja vom Regen in die Traufe.« »Was ist denn iert?«
»Marie hat mich verlassen.« »Oh, verdammt.« Niklas klopfte eine neue Zigarette aus der Pakkung und zündete sie an der vorigen an. Anna spürte wieder, wie die Wut hochkochte. »Oh, verdammt! Oh, verdammt! Oh, verdammt! Oh, verdammt!« schrie sie. »Fällt dir sonst wirklich nichts ein? Hast du Angst, daß du Konkurrenz bekommst? Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Mama hat mein Liebesleben noch nie ernst genommen. Eine lesbische Beziehung mehr oder weniger, was spielt das für eine Rolle, wo es doch eine richtige heterosexuelle Tragödie in der Familie gibt, mit Kindern, Anwälten und Sorgerechtsstreitigkeiten und allem. Daß ich fast eingehe, weil Marie mich verlassen hat, das schert doch niemanden, das geht bald vorbei, und ich bin ja so tough, da braucht man sich keine Sorgen zu machen.« Anna sank in den Sitz zurück und wischte sich mit dem Handrükken die Spucke von Mund und Kinn. Niklas schwieg. Entweder hatte er Angst oder war wütend. Ist mir doch egal, dachte Anna. Wenn ihm nicht anderes einfällt als »Oh, verdammt«, dann kann er gleich still sein. Sie würde sich auch keine einzige Silbe mehr über seine Scheidung anhören. Von nun an war es ihr scheißegal, ob er trank oder das Besuchsrecht bei seinen Kindern verlor. Es reichte jetzt. Wenn sie nicht bekam, was sie brauchte, konnte von ihr aus die ganze Welt zum Teufel gehen, mitsamt Marie. Sie konnte mit ihrer Chefin bumsen, soviel sie wollte, und sich einbilden, jemand anders befreite ihre Kreativität. Aber Anna konnte sie in Zukunft von ihrer Liste streichen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte Niklas, als sie aus dem Auto stiegen. »Dann ist es besser, wenn du den Mund hältst.« »Wie geht es Papa?« »Weiß ich nicht.« »Verdammt, ich habe Angst, ihn zu sehen«, sagte Niklas und trat die Zigarette in den Kies. »Er hat mich nie gemocht. Ich weiß nicht, was ich dort soll.« »Du kannst ihn immer noch bitten, sich zum Teufel zu scheren.« »Mach’s doch selber.«
»Das mach ich vielleicht auch.«
»Er ist miserabler Laune«, erzählte Karin in der Cafeteria. »Aber der Arzt sagt, es bestehe immer noch die Gefahr eines neuen Infarkts, deshalb meine ich, ihr solltet zu ihm gehen.« Sie holte Luft und schaute auf ihre Uhr. »In einer Viertelstunde gehen wir rauf. Einer nach dem anderen. Und sagt bitte nichts Falsches, das ist jetzt nicht der Moment, alte Rechnungen zu begleichen. Ich hoffe ...« »Mama, wir sind keine kleinen Kinder mehr.« Anna legte ihre Hand auf Karins Arm, um sie zu beruhigen. »Verzeihung«, entschuldigte sie sich und holte ein Taschentuch aus der Handtasche. Sie schneuzte sich und faltete das Taschentuch wieder ordentlich zusammen. »Ich habe wohl Angst, er kommt diesmal nicht durch. Und dann denke ich an alle Gemeinheiten, die ich zu ihm gesagt und über ihn gedacht habe, und daß er vielleicht nie verstanden hat, daß wir ihn doch geliebt haben. Vielleicht ist es deshalb. Ja, ich weiß, es klingt blöd, aber ich kann nichts dafür.« Karin fingerte an dem Taschentuch herum und drehte das Gesicht weg, als die Stimme brach und die Tränen strömten. Anna schaute sie nur an. Merkwürdigerweise war es beinahe eine Erleichterung, endlich einzusehen, daß Karin nie dagewesen war. Nicht für sie. Niklas hatte ihre Liebe bekommen. Erst Niklas und dann Ulf.
Sie folgten dem roten Plastikstreifen auf dem Boden in die Abteilung für Herzpatienten. Karin konnte ihre Finger nicht von Niklas lassen. Sie richtete seinen Kragen und nörgelte, er solle sich wenigstens mit dem Kamm durch die Haare fahren.
Er ging schnell und mit vorgeschobenen Schultern durch die Flure, die Hände tief in den Manteltaschen, als ob er sein Herz vor Karins Gehacke schützen wolle.
Als Niklas aus dem Zimmer kam, war der Krampf aus seinem Gesicht gewichen, und er weinte offen. Er klopfte Anna auf den Arm und sagte, sie könne hineingehen. Sie suchte nach einem Zeichen in seinem Gesicht, aber er schüttelte nur den Kopf. Das Licht war gedämpft, und es dauerte eine Weile, bis sie ihren Vater in der fremden Umgebung erkannte. Allmählich wurde seine Gestalt hinter Schläuchen, Tropfs, Kabeln und Apparaturen sichtbar. Die Wangen waren eingesunken, und er war bläulich unter den Augen. Aber sein Gesicht erhellte sich, als er sie sah. Das wohlbekannte, teuflische Glitzern in seinen Augen machte sie so froh, daß sie zu weinen anfing. »Was heulst du denn? Doch nicht etwa, weil ich sterben werde?« »Du bist ein solches Ekel«, schluchzte Anna und setzte sich neben sein Bett. »Aber ich liebe dich trotzdem.« Sie nahm seine Hand und drückte sie fest. »Weißt du, daß Niklas gesagt hat, ich soll mich zum Teufel scheren? Vielleicht wird doch noch was aus ihm.« Ulf lachte breit und drückte ihre Hand. »Ich will nicht, daß du stirbst, Papa. Es gibt noch so viel ... zu sagen.« Ulf schloß die Augen und verzog das Gesicht. Anna bekam Todesangst und wollte schon nach der Schwester klingeln, als Ulf seufzte und die Augen wieder aufmachte. »Ich schaffe so ein Gespräch nicht. Aber eines sollst du wissen, Anna. Ich liebe dich. Und ich bin verdammt stolz auf dich. Das hast du vielleicht nicht gedacht, aber es ist so. Und noch etwas. Ich finde, Marie ist ein tolles Mädchen. Paß auf
sie auf.« Eine solche wahnsinnige Sehnsucht überschwemmte sie und ein solches blubberndes Lachen mitten in der Trauer, daß sie nicht wußte, was sie sagen sollte. »Papa, verlaß uns noch nicht«, bat sie. »Wir brauchen dich. Ich brauche dich«, fügte sie scheu hinzu. Ulf drückte lange ihre Hand. Dann ließ er sie los. »Jetzt kann ich nicht mehr. Das Herz stirbt jedesmal ein Stückchen. Aber das weißt du.« »Ja, das weiß ich.« »Es wird nie richtig so, wie man es sich gedacht hat. Das Leben, meine ich. Aber ich sage wie Bengtsson: Man soll nie über verschüttete Milch weinen. Verstehst du, was ich meine?« Anna nickte. »Aber ich glaube, er hat nicht recht«, sagte sie dann.
und Lust.
1
Marie stieg aus dem Flughafenbus und ging Richtung Bahnhof, um Geld zu wechseln. Sie schaute nach Kungsholmen hinüber, das genau auf der Hälfte zwischen ihrem Zuhause und der Arbeit lag. Das Geld würde vielleicht ein paar Wochen reichen, wenn sie bei Lena wohnen konnte. Aber sie kam bloß bis zum Kiosk und kaufte eine Monatskarte für Februar und eine Schachtel Pralinen, dann war der Etat für die ersten Tage schon überschritten. Sie stieg an der Haltestelle Midsommarkransen aus der U-Bahn und zog den Koffer durch den Schneematsch, bis sie ganz oben im Främlingsvägen angekommen war. Die Zeitung, die Lena zum Offenhalten in die Haustür geklemmt hatte, steckte noch. Marie schleppte ihr Gepäck in den Hausgang und trat den Schnee von den Füßen. Es roch nach Fleischbällchen, Makkaroni und Wollhandschuhen. Ein paar Schlitten standen neben der Heizung, und der geschmolzene Schnee zeichnete Streifen auf den schmutziggrauen Granitboden. Es war so vertraut und so lange her, daß ihr Herz heftig schlug, als sie die Treppe hochstieg. Sie klingelte an der Tür, die Pralinenschachtel in der Hand. Die Musik wurde leiser gestellt, und sie hörte Lenas Schritte. Es ist drei Jahre her, konnte sie gerade noch denken, da wurde die Tür aufgemacht, und Lena begrüßte sie mit verhaltenem Lächeln und einem langen Blick auf den Koffer. »Long time no see«, sagte Lena und nahm die Pralinen, ohne sich zu bedanken. Marie zog den Mantel aus und hängte ihn auf, Lena ging in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. »Ich kann dir nichts anbieten. Nur ein Stück trockenen Hefezopf«, sagte Lena und stellte das Tablett auf den Couchtisch.
»Das macht nichts. Es ist sehr nett von dir, daß ich kommen konnte.« Marie schob die Wolldecke beiseite und setzte sich auf das Ledersofa. Sie spürte, sie war keine besonders willkommene Überraschung. »Was ist denn iert? Hat Anna dich rausgeworfen?« »Nein, ich habe Scheiße gebaut. Es tut mir leid, daß ich so hier auftauche, aber ich weiß nicht, wohin ich sonst soll. Wenn ich nur heute nacht hier schlafen kann.« »Hab keine Angst. Ich werf dich schon nicht raus. Du hast nur mehrere Jahre nichts von dir hören lassen, und dann stehst du plötzlich vor der Tür, als ob du einziehen wolltest.« »Entschuldige. Ich habe so oft anrufen wollen, aber ...« Marie zuckte mit den Schultern. »Aber du hättest dich auch melden können.« »Das habe ich getan. Aber irgendwann ist man es leid.« »Du hast mir gefehlt.« »Das hast du vergessen, mir mitzuteilen«, sagte Lena und griff nach den Zigaretten. »Gibt es dich noch?« »Hast du nicht den Eindruck?« Lena blies den Rauch aus und lächelte. Schon ein bißchen freundlicher. Sie hatten sich früher einmal sehr nahegestanden. Waren beste Freundinnen gewesen. Wenn es Lena wirklich noch gab, dann war das nicht Maries Verdienst. Sie schaute sich im Zimmer um. Alles war wie früher: das Plakat mit Eva Dahlgren über der Stereoanlage, die beiden kleinen Bilder mit Frauenmotiven, die ausgesucht worden waren, um eine Erfahrung festzuhalten. Beweise, die in Glasrahmen von IKEA, mit Stecknadeln oder Tesa an die Wände gehängt wurden.
Sie hatte es selbst genauso gemacht, wenn sie irgendwo einzog. Außer bei Anna, da waren die Wände schon mit Annas Motiven belegt. Warum hatte sie sich nicht gewehrt? Oder hatte sie es doch getan? »Ist es aus zwischen Anna und dir?« Marie zuckte zusammen. »Nein. Oder ich weiß nicht«, fügte sie hinzu. »Bist du mit einer anderen zusammengewesen?« »Nein.« »Aber was ist denn iert?« »Du mußt mir eins versprechen, erzähl es nicht ...« Marie schwieg angesichts der vertrauten Worte. »Vertraust du mir nicht?« fragte Lena. »Doch, schon. Es ist nur ein solches Durcheinander, daß ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.« »Willst du irgendwohin fahren? Willst du verreisen?« »Nein, ich bin vorzeitig aus Griechenland zurückgekommen. Ich hätte eigentlich einen Monat wegbleiben sollen. Und während dieses Monats wollten Anna und ich keinen Kontakt haben.« »Wessen Idee war das?« »Ihre.« »Und warum bist du früher zurückgekommen?« »Ich habe Krach gekriegt mit meiner Chefin. Aber es war nicht meine Schuld. Sie hat mich reingelegt. Sie wollte mich da unten haben, um mich zu verführen. Du verstehst schon, so ganz nebenbei, nach einem guten Essen und ein paar Gläsern Wein. Ich weiß nicht, was sie sich vorgestellt hat, wie es hinterher
weitergehen würde. Vermutlich hat sie damit gerechnet, daß ich den Mund halte, daß ich mich schämen würde, es zu erzählen.« »Pfui Teufel«, rief Lena und drückte ihre Zigarette aus. »Du hättest ihr Gesicht sehen sollen, als ich sagte, ich sei lesbisch. Was hat sie für einen Schiß gekriegt. Dann hat sie versucht, alles mir zuzuschieben, als ob ich schuld wäre. Als ob ich sie irgendwie hinters Licht geführt hätte.« »Ist das wahr? Bist du nicht wütend geworden?« »Doch, ich habe sofort gekündigt.« »Was?« »Erst habe ich sie beschimpft, dann habe ich gekündigt.« »War das wirklich so klug? Zu kündigen, meine ich. Es war schließlich ihre Schuld.« »Es ist eh höchste Zeit für mich, den Job zu wechseln«, lachte Marie, um die Angst zu überspielen, die sie überkam, wenn sie an die Zukunft dachte. »Hast du eine Ahnung, was du statt dessen tun willst?« »Nein.« »Marie, du bist immer noch so naiv wie früher. Wie steht es mit Anna? Ist sie nicht ziemlich betucht?« »Ich kann sie nicht um Hilfe bitten.« »Und deine Mutter?« »Sie kommt selbst kaum mit ihrer Rente klar.« Lena schüttelte den Kopf. »Ich würde dir gerne helfen, aber ...« »Das ist nicht nötig«, unterbrach Marie sie. »Ich werde das schon selbst
schaffen. Wenn ich nur heute nacht hier schlafen kann, hast du mir schon genug geholfen.« »Und dann? »Ich miete mir ein Zimmer und nehme irgendeinen Job an, irgend etwas. Das klappt schon.« »Du bist hoffnungslos!« stöhnte Lena und zog sie an sich. Sie drückte sie so fest, daß sie keine Luft mehr bekam, und schob sie dann weg. »Ich bin immer noch böse auf dich, aber es gibt mich noch. Merkst du das nicht? Du mußt nicht gleich wieder davonrennen.« »Ich möchte dich nicht belasten.« »Du belastest mich nicht. Ich habe nur Angst, du verschwindest wieder. Ich möchte nicht noch mal fallengelassen werden. Freundschaft ist auch wichtig. Es ist vielleicht an der Zeit, daß du das kapierst.« Lena stand auf und holte Bettwäsche und Kissen. Marie half ihr, die Decke zu beziehen, und holte ihr Necessaire und frische Höschen aus dem Koffer. »Weiß Anna, daß du hier bist?« fragte Lena auf dem Weg in ihr Schlafzimmer. »Nein, ich habe noch nicht angerufen. Ich weiß nicht, ob ich willkommen bin.« »Wenn sonst nichts iert ist, außer dem, was du erzählt hast, weiß ich nicht, warum du nicht anrufst.« »Ich rufe vielleicht morgen an.« Marie löschte die Stehlampe und zog die Decke bis zum Kinn hoch. Nicht einmal Lena konnte sie alles erzählen. Sie verdiente eigentlich Menschen wie Helen, dachte sie und schlief ein, die Fäuste zwischen den Beinen geballt.
2
»Was mache ich, wenn ich sie nicht erreiche?« Anna setzte sich an den Küchentisch, gegenüber von Maggan und Barbro. Sie war froh, daß sie es fertiggebracht hatte, sie anzurufen, und daß beide Zeit hatten. Der Brief von Marie und das Wissen, sie war zurück, warf sie so heftig zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her, daß sie das Gefühl hatte, mit einem Gummiband um den Bauch in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. »Sie wird sich schon irgendwie melden«, sagte Maggan. »Jetzt weißt du wenigstens, daß sie zurück ist.« »Aber ich will doch wissen, warum. Meinetwegen oder weil etwas anderes iert ist? Sie hat gekündigt, schreibt sie. Das kann alles mögliche bedeuten.« »Schreibt sie nicht, sie liebt dich?« fragte Barbro. »Doch ...« »Dann finde ich, du solltest dich daran halten.« »Anna meint, sie könnte ...« »Ich weiß, was Anna meint«, unterbrach Barbro. »Aber ich verstehe nicht, warum wir versuchen sollten, sie voneinander fernzuhalten.« »Du hast mich falsch verstanden.« »Das kann sein.« »Anna ist eine alte Freundin von mir. Ich will nur ihr Bestes. Und ich kenne Marie«, sagte Maggan. »Sie ist ein liebes Mädchen, aber sie vertraut zu sehr darauf, daß andere sich um sie kümmern. Ich glaube nicht, daß Anna das im Moment schafft, zu allem, was in ihrer Familie los ist. Ich will einfach nicht, daß
sie untergeht.« »Ich auch nicht.« »Nicht einmal für die Liebe.« »Ich kenne Marie zwar nicht so gut wie du«, sagte Barbro. »Aber von außen sieht es so aus, als ob Marie sehr wohl für sich selbst sorgen könnte. Es erfordert ziemlich großen Mut, so aufzubrechen, wie sie es getan hat, ohne die Tür ganz hinter sich zuzuschlagen.« »Was für eine verdammte Tür denn? Sie hat ja nicht mal gesagt, wo sie wohnt.« »Man muß den Mut haben zu glauben, daß Menschen sich verändern können. Schau doch nur mal Anna an. Vor einer Woche konnte sie nicht einmal ein eigenes Bedürfnis ausdrücken.« Anna zuckte zusammen und schaute abwechselnd Barbro und Maggan an. »Ich weiß nicht, was ich mache, wenn ich Marie nicht erreichen kann, bevor ich zurückfahre.« »Womit können wir dir denn rein praktisch helfen? Sollen wir etwas einkaufen oder waschen oder sonstwas für die Beerdigung organisieren?« »Ich weiß nicht. Ich bin ganz leer im Kopf.« »Du hast vermutlich einen Schock«, sagte Maggan. »Leg dich ein bißchen hin. Barbro und ich machen inzwischen was zu essen. Ich glaube, das können wir alle brauchen.«
Anna legte sich aufs Bett, der Brief klebte an ihren Handflächen. Sie hatte ihn mehrmals gelesen, gedreht und geschüttelt, als ob sich etwas zwischen den Zeilen versteckt hätte. Irgend etwas muß mit Marie iert sein, aber was, das konnte sie bloß raten. Und warum hatte sie nichts über diese Helen geschrieben? War etwas zwischen ihnen iert? War sie deshalb nur kurz in der Wohnung gewesen?
Sie schrieb, sie wolle sie treffen, aber vieles müsse sich ändern zwischen ihnen. Und sie müßten wieder lernen, miteinander zu sprechen. Miteinander sprechen, dachte Anna sauer, natürlich wollte sie mit Marie sprechen, aber was sie zu sagen hatte, wollte Marie vielleicht nicht hören.
3
Als Marie die Kasse gezählt hatte, waren vierhundert Kronen übrig. Das war das Trinkgeld, das sie direkt auf die Hand bekommen würde, wenn sie den Bonschlüssel zurückgab. Sie füllte die Kassenabrechnung aus und steckte die Scheine ins Kuvert, schrieb ihren Namen drauf und klebte es zu. Die beiden anderen Bedienungen waren fertig und tranken schon ihr zweites Bier. Sie waren beide um die Zwanzig und wollten hinterher noch ins Café Opera gehen. Sie war froh, daß sie keine Gelegenheit gehabt hatten, sie zu fragen, wo sie vorher gearbeitet hatte, sie brauchte sich also nicht in Lügen zu verstricken oder die Wahrheit zu sagen, nämlich, daß sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr bedient hatte. Aber es war zum Glück alles gutgegangen. Beide Parteien waren verzweifelt genug gewesen, um keine Bedenken zu haben. Der Oberkellner brauchte dringend eine Bedienung, und sie brauchte schnelles Geld. Marie streckte die Beine unter dem Tisch aus und zog die Schuhe aus. Die Beine und Füße waren im Lauf des Abends angeschwollen, in Rücken und Schultern stach und brannte es. Sie hatte sich viele Male gefragt, ob es dumm war zu kündigen, aber nicht einmal diese Schmerzen ließen sie ihren Beschluß bereuen. Sie hätte vielleicht strategischer vorgehen können, wie Lena gemeint hatte, und bleiben und mit Helen verhandeln, anstatt so Hals über Kopf davonzustürzen. Aber jetzt war es iert, und das einzige, was sie bereute, war, daß sie überhaupt gefahren war. Aber es war vielleicht die einzige Möglichkeit gewesen, wieder mit dem Leben in Kontakt zu kommen, sich loszureißen und alles auf den Kopf zu stellen, ohne von vornherein zu wissen, was man zu gewinnen und was zu verlieren hatte. Sie begann zu ahnen, was sie gewonnen hatte; was sie verloren hatte, wußte sie noch nicht. Die Vermieterin hatte gesagt, kurz bevor sie das Haus verließ, jemand hätte für sie angerufen. Das konnte nur Lena oder Anna sein. Sie würde bald wissen, wer von beiden. Marie leistete sich ein Taxi zum Lokal am Hammarbyhafen und hoffte, das Fest
sei schon in vollem Gange, damit sie nicht auf allzu viele Fragen von alten Freundinnen antworten mußte. Lena hatte sie ausführlich über alle Intrigen und Partnerwechsel informiert, die ihr während der Zeit mit Anna entgangen waren. Es war der alte Ringelreihen, der sich ein paar Runden weitergedreht hatte und zu neuen Konstellationen geführt hatte. Es war zwar ein bißchen neues Blut in den Kreislauf gekommen, und ein paar alte Freundinnen waren in ihre Paarbeziehungen abgetaucht. Aber es war doch ein geschlossener Kreislauf, die ganze Scheiße wurde in die nächste Beziehung mitgenommen. Marie bezahlte das Taxi und wich der Frage des Fahrers aus, was eine schöne Frau wie sie mitten in der Nacht in einem kohlschwarzen Hafen zu suchen hatte. Es war eigentlich eine gute Frage, dachte sie, als sie klingelte, eingelassen wurde und eine Frau ihr erklärte, wie sie gehen mußte, damit sie nicht in einer der Druckereien im Haus landete.
»Mariiiiie«, rief Lena quer über die Tanzfläche und schob sich durch das Gedränge, das Bierglas fest an die Brust gedrückt. Es war voll, heiß und verraucht und so laut, daß die Körpersprache und Blicke alle Feinheiten des Gesprächs ersetzen mußten. »Hast du mich angerufen?« schrie Marie in Lenas Ohr, die den Kopf schüttelte und auf einen grünen Notausgang zeigte. Auf der spiraligen Wendeltreppe war es fast genauso eng wie im Lokal, aber man konnte wenigstens ein Gespräch führen. Ein bleicher Mond stand am Nachthimmel, und unten am Kai erhoben sich die Kräne wie riesige Vorzeittiere. Lena strich ein Streichholz an, es erhellte ihr Gesicht, als sie die Zigarette anzündete. »Wie ist es gelaufen? Hast du was verdient?« »Vierhundert Kronen Trinkgeld«, sagte Marie mit gespielter Lässigkeit. »Bravo! Brauchen sie öfter eine Aushilfe?« »Vielleicht. Sie melden sich.«
»Und was ist mit deinem alten Job?« Marie stöhnte und schlug die Arme um sich vor Kälte. »Ich war in der Hauptverwaltung und versuchte, mein letztes Gehalt zu bekommen, aber sie wollen warten, bis Helen zurück ist.« »Schlimm?« »Schlimm ist gar kein Ausdruck.« »Kannst du sie nicht irgendwie drankriegen?« Marie schüttelte den Kopf und schaute übers Wasser. »Nein, das geht nicht.« »Ich finde es verdammt gemein, daß du aufhören mußt, wo sie doch Scheiße gebaut hat.« »Es war nicht nur sie. Ich war auch interessiert. Wenigstens am Anfang.« »Warum hast du mir das nicht gesagt?« »Ich habe mich geschämt, nehme ich an.« Lena studierte den Rauch, den sie aus den Lungen blies. »Mir ist es scheißegal, an wem du interessiert bist«, sagte sie dann. »Aber ich mag es nicht, wenn du lügst.« »Entschuldige«, sagte Marie und schaute sie von unten her an. »Du benimmst dich wie ein kleines Kind, weißt du das?« »Ich versuche auf jeden Fall, erwachsen zu werden.« Lena lachte und tätschelte ihr freundschaftlich die Wange. »Es freut mich, daß du wieder da bist. Wie lange wirst du wohl bleiben?«
»Wie meinst du das?« »Du weißt genau, was ich meine. Sobald ihr eure Beziehung wieder geflickt habt, Anna und du, wird man wieder nichts mehr von dir hören und sehen.« »Sollen wir wetten?« »Gern.« »Ich setze mein Trinkgeld ein.« »Vierhundert Kronen«, sagte Lena und zuckte die Schultern. »Das sollst du mir wert sein.«
4
Anna beugte sich zum Flurspiegel vor, drehte das Gesicht zur Seite und drückte mit Daumen und Zeigefinger einen Pickel am Hals, daß er nur noch größer wurde. »Verdammt!« Sie schaute die Stiefel an, aber die waren schon so sauber geputzt, daß es in die Augen stach. Marie würde sie vermutlich sofort durchschauen. Die Frage war nur, ob das gut oder schlecht war. Anna beschloß, sich nicht länger damit zu quälen, was Marie vielleicht dachte oder wollte, und ging ins Zimmer, nur um festzustellen, daß alles, was sie mitnehmen wollte, gewaschen und gebügelt auf dem Sofa lag. Der Rock, den sie auf der Beerdigung ihrer Tante angehabt hatte, war zu eng. Barbro war mit ihr gegangen, und sie hatten bei NK ein schwarzes Kostüm und ein Paar schwarze Pumps gekauft. Karin rief mindestens zweimal am Tag an und berichtete, wer angerufen und wen sie selbst benachrichtigt hatte, was sie zu ihr gesagt und was sie zu ihnen gesagt hatte, wer hinterher zum Kaffee bleiben und wer zum Essen eingeladen werde. Am Ende eines jeden Gesprächs hatte sie gefragt, wann Anna nach Hause käme, um zu helfen. Mit Niklas wurde offenbar nicht einmal gerechnet. Anna hatte versucht, die Antwort so lange wie möglich hinauszuzögern, aber schließlich mußte sie sich festlegen, damit Karin sie in Ruhe ließ. Es war ein schreckliches Gefühl, schon so bald wieder hinfahren zu müssen. Sie ging erneut in den Flur, um zu sehen, ob die Rötung verschwunden war. Wenn Marie es sich nicht anders überlegt hatte und sie statt dessen abservieren würde. Dann konnte sie sich ebensogut in eine andere Trauer stürzen. Eine Trauer, die von Ritualen gestützt wurde, als einem sozial anerkannten und erprobten Schutz gegen den Schmerz.
Sie schaute auf die Uhr und zog die Lederjacke ein zweites Mal an.
Marie war ins Restaurant gegangen und hatte sich an einen Tisch gesetzt. Sie hatte Angst, daß sie keinen Platz mehr bekämen, jetzt, wo die Mittagsgäste ins Lokal strömten. Sie hoffte, Anna kapierte das und wartete nicht draußen. Es war zwanzig Minuten nach der verabredeten Zeit. Anna kam normalerweise nicht zu spät. Sie hatten sich doch nicht mißverstanden? Gab es am Fridhemsplan mehrere griechische Lokale? Sie wußte nicht mehr, wie die Straße hieß, aber sie hatte gesagt: das griechische Lokal am Fridhemsplan, und Anna hatte geklungen, als ob sie wüßte, welches Restaurant gemeint war. Aber vielleicht war es doch besser, wenn sie einen Kellner fragte, ob es in der Gegend mehrere griechische Restaurants gab. Als sie endlich einen gestreßten Kellner zu fassen bekam, entdeckte sie Anna, die auf ihren Tisch zukam. »Es ist gut«, lächelte sie und ließ seinen Ärmel los. Am liebsten hätte sie laut gelacht und sich Anna in die Arme geworfen, aber sie blieb auf dem Stuhl sitzen und lächelte verschämt. Sie sah, daß Anna sich für sie feingemacht hatte, aber sie sagte bloß: »Hallo. Ich hatte Angst, wir würden uns veren.« Und Anna sagte: »Entschuldige. Ich habe mich verspätet.« Anna setzte sich auf den Stuhl gegenüber. Sie hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um Annas Gesicht zu berühren. Aber sie streckte sie statt dessen nach der Karte aus und gab sie Anna. »Ich weiß schon, was ich will«, sagte sie und schaute heimlich Anna an, die rasch die Plastikseiten durchblätterte. »Ich habe zwar überhaupt keinen Hunger, aber ich muß wohl was zu mir nehmen. Hast du einen Vorschlag?«
»Vielleicht einen Salat. Obwohl du ja keine Oliven magst.« »Ich kann sie dir geben.« Sie schauten sich ganz schnell an, und dann sahen sie weg. Anna drehte sich auf dem Stuhl, um einen Kellner festzuhalten, und Marie beobachtete eine Gesellschaft am anderen Ende des Lokals.
Anna riß ein Stück Papier ab und legte es auf den Klositz, bevor sie sich setzte. Als sie sich vorbeugte, begann das eine Bein zu zittern. Sie richtete sich auf und versuchte, normal zu atmen. Sie hatte vergessen, daß Marie so schön war. Es war wie damals, als sie Marie zum ersten Mal gesehen hatte. Und ihr Körper benahm sich auch genauso wie damals; er legte sich flach auf den Rücken. Kein Widerstand, keine Steuerung, nur ein großes Bedürfnis, eins zu werden mit dieser Frau, von der sie einmal geglaubt hatte, nicht viel mit ihr gemeinsam zu haben. Jetzt hatten sie ein gemeinsames Leben, das sie schon kurz berührt und von dem sie sich verwirrt wieder abgewandt hatten. Aber es war da, es ließ sich nicht ausradieren, wie gut oder schlecht es auch gewesen war. Es würde schwer sein, eine neue Art des Redens miteinander zu finden, dachte Anna und stand auf. Sie spülte und wusch sich die Hände. Die Frage war, ob es überhaupt möglich war. Sie berührte ihre Lippen mit den Fingerspitzen, und die Angst kam wieder hoch. Was, wenn Marie sie nicht mehr haben wollte? Wenn der Brief nur ein Versuch war, sie in Schlaf zu wiegen, ehe sie die Wiege umkippte? Das Gesicht im Spiegel veränderte sich, als die Angst sie packte, und sie sah, daß ein Kind darin wohnte, direkt unter der Haut. Eine kleine Anna. Sie drehte das kalte Wasser auf und trank aus dem Hahn. Dann schaute sie
wieder in den Spiegel und sah, daß es weg war.
Marie ließ die Hände auf den Tisch fallen, so daß das Besteck an den Teller schlug. »Aber, mein Gott! Was sagt du da? Warum hast du denn nichts gesagt?« »Wir haben doch nur einmal miteinander telefoniert. Und da habe ich an etwas anderes gedacht«, versuchte Anna zu erklären. Marie war schockiert. Anna würde nach Hause fahren und ihren Vater beerdigen, und sie sah aus, als handele es sich um einen entfernten Verwandten. »Wie fühlst du dich?« Anna spießte eine Olive auf und legte sie auf die Platte zwischen ihren Tellern. »Ich bin natürlich traurig, das kannst du dir doch denken.« Sie lächelte bekümmert. »Er sagte, du seist ein tolles Mädchen, und ich soll auf dich aufen.« »Hat Ulf das gesagt?« Anna nickte und wischte mit dem Handrücken eine Träne weg. »Aber du willst mich ja vielleicht nicht mehr haben?« Marie streckte ihre Hand aus und nahm Annas Hand. Sie drückte sie fest, so fest sie nur konnte. »Doch, das will ich. Ich will dich haben, Anna. Aber das ist keine Garantie dafür, daß wir es schaffen.« Anna zog ihre Hand weg. »Wie meinst du das?«
Jetzt kommt das Schwerste, dachte Marie. Aber sie wußte, dieses Mal wollte sie mit Anna durch die enge Stelle. Ohne zu fliehen, zurückzuweichen, die Augen zu verschließen, zu spielen oder zu lügen. »Ich will damit nur sagen«, sagte sie so ruhig wie möglich, »daß wir über vieles miteinander sprechen müssen.«
Miteinander sprechen, dachte Anna und füllte Wasser in die Kaffeemaschine. Wie sollte sie mit Marie reden, wenn ihr Körper sich benahm wie ein Tier, das den Brandgeruch wahrgenommen hatte und verzweifelt versuchte, den Teil von ihr zu wecken, der Tassen und Teller aus dem Schrank holte. Wie zivilisierte Menschen, dachte sie weiter und holte die Milch aus dem Kühlschrank. Es ist nur eine dünne Schicht über einem primitiven Körper. »Du hast also schon alles gepackt«, sagte Marie und kam in die Küche. Die Kaffeemaschine gurgelte, Marie lehnte sich an den Türrahmen, alles war wie immer. Mein Körper, mein primitiver Körper, dachte Anna und ließ die Milchtüte fallen, die sie in der Hand hatte. Die Milch spritzte auf ihre Hosen, lief unter die Heizung, den Tisch und die Bank. »Halt mich, halt mich fest! Faß mich an, verdammt noch mal!« Marie packte sie am Arm. »Faß mich fest an! Laß mich spüren, daß du meinst, was du sagst!« »Ich halte dich doch«, sagte Marie ängstlich und streichelte ihre Oberarme. Anna schaute in Maries wirbelnde Iris, bat sie. »Fest, Marie, ganz fest!« flüsterte sie. Und als sie spürte, wie Maries Arme sich um sie schlossen, schrie sie mit aller Kraft: »Halt mich fest! Laß mich nicht los! Zeig mir, daß du mich liebst!«
Sie schlug sich den Kopf am Stuhlbein an, als sie fielen. Marie war über ihr wie ein Tier, suchte mit Zunge und Zähnen ihre Lippen, wimmerte und weinte. Der Geschmack von Salz und Milch in ihrem Mund. Maries Hände, die an ihren Haaren rissen und zerrten. Finger, die sich in ihr Fleisch bohrten, an ihren Kleidern zogen. Bis sie es spürte, endlich, Haut an Haut ... warme, weiche und schweißklebrige Haut. Das Gewicht des Körpers, der sie auf den Boden drückte. Sie entspannte sich und atmete Maries Duft ein, er ging ihr direkt ins Blut. Ihr Schoß öffnete sich, die Glieder spreizten sich, der Rükken bog sich, hob vom Boden ab. Ein Himmelsgewölbe, eine Brücke war ihr Körper, als er sich bog, hob und bebte. Er schüttelte sie wie ein junges Kätzchen und ließ sie dann fallen, so daß sie errötend wieder auf die Erde segelte. Ihr primitiver Körper entfaltete sich und landete weich auf dem Rücken, in einem Berg von Kleidern, Klebrigkeit, Geschmiere und Geschlecht. Sie war wieder in der Küche, auf dem Boden, in der Milch, die sie ausgeschüttet hatte. »Jetzt müssen wir den Kaffee ohne Milch trinken«, sagte sie und malte mit dem Finger in der Pfütze. »Das ist es wohl wert gewesen«, sagte Marie und schleckte die Milch vom Finger ab. »Wir haben uns lange nicht mehr auf dem Küchenboden geliebt.« Anna schaute Marie an und sah, daß auch sie den Satz für sich ergänzte. Anna wollte den Zauber festhalten, aber sie wußte, sie hatten noch nicht miteinander geredet. Das hatten sie noch vor sich. »Danke, daß du mich festgehalten hast«, sagte sie nur.
Marie trocknete sich mit einem Frottierhandtuch ab und wickelte sich ein zweites um die Haare. »Du bist dran!« Sie machte die Schranktür auf und holte saubere Sachen heraus. Hier gab es doch alles, was sie brauchte: Liebe, Geborgenheit, Komfort. Was
wollte sie in einem gemieteten Zimmer mit einem durchgelegenen Bett und gelben Tapeten, mit einer Vermieterin, die halb taub den ganzen Abend den Fernseher laufenließ, die ihre Telefongespräche entgegennahm und Essen aus dem Kühlschrank mopste. Was wollte sie eigentlich? Wollte sie eine Zeitlang allein wohnen, oder wollte sie mit Anna neu anfangen? Nicht wie vorher, das wußte sie. Veränderung. Aber wie sah die aus? Es gab Dinge, die sie zwischen ihnen verändern wollte, ein Gleichgewicht, das sie stören wollte. Aber die Wirklichkeit war konkret, und ein Gleichgewicht störte man nicht nur mit Worten. »Vorerst will ich mein Zimmer behalten«, redete sie laut mit sich selbst, als sie die Strümpfe anzog. »Ich ziehe vielleicht wieder hier ein, aber ich will doch mein Zimmer behalten.« Marie ging in die Küche und goß sich eine Tasse Kaffee ein, während sie auf Anna wartete. Der Flickenteppich lag zusammengerollt an der Heizung, die Fransen waren klebrig und naß von der Milch. Marie schlug die Arme um sich und schaute die Sonne an, die auf der anderen Seite des Wassers hinter Karlbergs Schloß unterging. Sie blieb stehen, bis es so dunkel war, daß sie ihr Spiegelbild im Fenster sehen konnte. »Jetzt möchte ich, daß du von Griechenland erzählst.« Marie zuckte zusammen und drehte sich um. Anna stand mit einem blauen Frottierhandtuch in der Hand auf der Schwelle. »Das werde ich tun«, sagte Marie. »Aber ich möchte zuerst über uns reden und was iert ist, bevor ich wegfuhr.« Anna drehte, während sie sprach, das Handtuch zwischen den Händen zu einer Wurst. »Ich habe das Recht zu erfahren, warum du gefahren bist, was da unten genau iert ist, den Grund für deine Kündigung und warum du vorzeitig zurückgekommen bist. Bevor wir über unsere Beziehung sprechen, möchte ich
eine Antwort auf diese Fragen haben.« Sie wedelte mit der Hand, so daß die Handtuchwurst am Türgriff hängenblieb. »Bist du wirklich interessiert daran, etwas zu verstehen? « Anna zog das Handtuch an sich, und die Türklinke knallte. »Es kommt ganz darauf an, was ich deiner Meinung nach verstehen soll«, sagte sie und lehnte sich an die Spüle. »Du meinst vielleicht, du kannst dich deiner Verantwortung entziehen, indem du verstanden werden willst. Ich finde dich ziemlich frech, Marie. Ich soll zuerst entwaffnet werden und die Hände gebunden bekommen mit einer langen, tränenreichen Geschichte, wie sehr du unter unserer Beziehung gelitten hast. Damit ich dann verstehen kann, warum du mit deiner Chefin abgehauen bist.« Anna löste sich mit einem Ruck von der Spüle und ging zwischen Tisch und Tür hin und her, ständig mit dem Handtuch wedelnd. »Soll ich das Gefühl haben, mir geschah recht? Soll ich verdammt dankbar sein, weil du zurückgekommen bist?« Marie schwieg und wandte den Kopf ab. In der Fensterscheibe sah sie sich und Anna wie in einem Fernsehmelodram. Ihr eigenes Gesicht nahe an der Kamera; schweigend. Annas Bewegungen im Hintergrund; ihre Stimme, die das Zimmer erfüllte. »Warum bist du überhaupt zurückgekommen? War sie doch nicht so gut? Oder wollte sie dich nicht haben? Ich möchte zuerst eine Antwort auf diese Fragen haben.« »Die wirst du nicht bekommen.« »Nein? Und warum nicht?« Marie drehte sich um. »Weil ich dich erreichen will. Ich möchte jetzt mit dir reden. Nicht um die Kontrolle kämpfen.«
Anna schlug mit dem Handtuch auf den Stuhlrücken. »Du glaubst vielleicht nicht, daß deine Handlungen Spuren hinterlassen. Aber du hast verdammt große Löcher verursacht, als du abgehauen bist. Fragezeichen, die mich fast umgebracht haben. Ich kann einfach nicht mehr warten. Kapierst du das? Auch bei mir gibt es eine Grenze für das, was ich ertrage. Wie viele deiner Bedingungen ich schlucken kann.« »Du wirst eine Antwort bekommen. Ich möchte nur nicht verhört werden, Anna. Ich möchte dich nicht wegen eines idiotischen Mißverständnisses verlieren.« »Wenn du mir jetzt nicht antwortest, gibt es kein Gespräch. Dann kannst du deine Sachen packen und gehen.«
Anna blieb in der Küche stehen, ohne sich zu rühren, bis sie hörte, wie Marie am Telefon im Flur Namen und Adresse angab. Da stürzte sie hin, riß Marie den Hörer aus der Hand. »Entschuldigung, es war ein Mißverständnis. Wir sind noch nicht ganz fertig. Ja, wir melden uns wieder.« Anna legte auf. Das Geräusch der unterbrochenen Verbindung kam zurück wie ein Echo und prallte an das solide Schweigen, das zwischen ihnen entstanden war. Jetzt haßt sie mich, dachte Anna und schaute Marie an, die im Mantel dastand. Aber sie darf mich nicht noch einmal verlassen. Das ertrage ich nicht. Marie schaute zur Tür, machte aber keinerlei Anstalten, sich in die Richtung zu bewegen. Sie nahm ein Kaugummi aus der Tasche und steckte es in den Mund. »Du willst mich also hinauswerfen und mich gleichzeitig daran hindern zu gehen«, sagte sie kühl. »Ich kann dich nicht hindern. Aber du mußt mir antworten, bevor du gehst. Warst du mit Helen zusammen? Habt ihr miteinander geschlafen?« Marie kreuzte die Arme vor der Brust und stellte den einen Fuß an die Wand
hinter sich. »Antwort: Nein!« sagte sie und ließ eine Kaugummiblase gegen den Gaumen knallen. »Habt ihr euch geküßt?« »Nein, haben wir nicht.« »Was ist denn dann iert?« »Eine ganze Menge – in mir.« »Was denn? Kannst du es mir nicht erzählen?« »Nie im Leben.« »Du warst nicht untreu. Das würdest du sagen, nicht wahr?« »Wenn ich mit Helen gevögelt hätte, wärst du die erste, die es erführe. Aber da ich das nicht getan habe, habe ich auch nichts zu berichten. Etwas anderes willst du ja nicht wissen.« Anna spürte, wie die Anspannung allmählich wich und alles still wurde. Marie stand vor ihr mit über der Brust gekreuzten Armen und knallte wie eine Wahnsinnige mit dem Kaugummi. Gab es noch eine Möglichkeit, sie zu erreichen? Um Verzeihung zu bitten und zu erklären, daß es nicht ihre Absicht war, aufzubrausen und Marie den Hörer aus der Hand zu reißen. Aber daß die Spannung in ihr so groß war und sie sie nicht bremsen konnte, als sie die Möglichkeit bekam, sie zu entladen. »Was wolltest du über unsere Beziehung sagen?« fragte sie vorsichtig. »Das habe ich vergessen«, sagte Marie und schaute auf die Uhr. »Würdest du mir bitte ein Taxi rufen? Ich muß morgen zur Hauptverwaltung und meine Karriere beenden. Ich würde gerne beizeiten ins Bett kommen, wenn du erlaubst.« Anna saß da und hatte den Hörer in der Hand. Sie mußte nur noch die letzte
Ziffer der Nummer drücken, dann ginge der Ruf durch. Marie dachte, daß Anna jammervoll aussah. Überhaupt nicht so schreckeinjagend wie vorhin, in der Küche mit dem Handtuch, sondern nur klein und verloren. Wie ein kleines Mädchen, das auf das erlösende Wort wartet, auf die tröstend und verzeihend ausgestreckte Hand. Marie nahm die Tasche vom Boden und zog die Handschuhe an. »Null«, sagte sie. »Du brauchst nur noch eine Null zu wählen, dann kommst du durch.« »Wo willst du hin?« »Söder. Folkkungagatan. Aber das kann ich dem Fahrer schon selbst sagen.« »Ich war auch auf Söder«, sagte Anna und legte den Hörer auf. »Barbro nahm mich mit zu einem Club, in den sie manchmal geht. Ich hatte weder geschlafen noch gegessen, noch sonstwie normal funktioniert, nachdem du gefahren warst. Es war schrecklich. Ich habe nur auf deinen Anruf gewartet.« »Du hast mir verboten anzurufen. Weißt du das nicht mehr?« Anna schüttelte traurig den Kopf. »Du hättest trotzdem anrufen können, aber das hast du nicht getan. Ich dachte, du hättest mich für immer verlassen. So ein Gefühl hatte ich.« Marie erstarrte, ehe sie den Gedanken dachte. Was wollte Anna ihr erzählen? »Warum hast du nicht angerufen?« Marie trat einen Schritt zurück, und Annas Hände fielen seitlich herab. »Warst du mit jemand anders zusammen?« fragte Marie und blinzelte im Halbdunkel, um Annas Gesicht besser sehen zu können. »Ich habe es versucht, aber nicht einmal das habe ich geschafft«, seufzte Anna. Marie zog die Handschuhe aus und steckte sie in die Tasche. Sie drückte die Fingerspitzen fest gegen die Handflächen, um nicht laut zu schreien.
»Mit wem?« fragte sie. »Mit einem Typ, einem Chilenen, ich weiß nicht mal, wie er hieß.« »Was habt ihr gemacht?« »Du brauchst keine Angst zu haben. So weit ist es nie gekommen. Es war dumm von mir, ich weiß. Aber du brauchst dich nicht bedroht zu fühlen. Es gab keinerlei Gefühle.« Anna legte den Kopf ein wenig zur Seite, als ob sie nachdächte. »Ich glaube, ich will irgendwie an dich herankommen«, sagte sie und schaute Marie an. »Damit du kapierst, daß auch du mich verlieren kannst.«
Ein weißer Funkenregen sprühte über der Netzhaut nach dem Haß, der gegen sie geschleudert worden war. Nicht der Schlag war das Schlimmste oder der Schmerz im Hinterkopf, sondern die Worte, die Marie geschrien hatte. Es klingelte immer noch in ihren Ohren, als sie die Augen aufmachte und sah, daß Marie weg war. Sie hatte die Tür sperrangelweit offengelassen. Anna hangelte sich hoch und schloß sie. Die Nachbarn brauchten nicht alles zu sehen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die geschlossene Haustür, drückte sich gegen das Holz und spürte, wie die Angst die Oberhand gewann, sich im Körper hocharbeitete, bis sie den schwachen Punkt erreichte. Da blieb sie und schloß sich um ihren Herzmuskel, drückte ihn, bis sie aus der Wohnung stürzen mußte, in die Garage hinunter, wo das Auto stand. »Was habe ich gemacht? Was habe ich gemacht?« wiederholte sie und versuchte, den Schlüssel ins Schloß zu bekommen. Sie ließ vor lauter Nervosität den Motor aufjaulen und wäre beinahe mit einem Auto zusammengestoßen, das in die Garage hineinfuhr. »Es war überhaupt nicht so«, murmelte sie, als sie Richtung Zentrum abbog. »Verzeih mir, Marie. Verzeih mir bitte, liebste Marie.«
Sie ließ den Blick die Straße entlanggleiten, kroch im Schneckentempo und ließ die Kupplung schleifen, um nur ja nichts zu veren. »Ich liebe dich«, jammerte sie und trat auf das Gaspedal, so daß der Drehzahlmesser hochschnellte.
Es war richtige heiße Schokolade, mit Milch und Kakao auf dem Tassenboden und einer Haut, die Marie mit dem Löffel herausheben mußte. Sie umfaßte die Tasse mit beiden Händen und schloß beim Trinken die Augen. Weg mit der Einrichtung des Cafés, weg mit den Schulkindern am Nebentisch, weg mit allen Gedanken, die nichts mit der Schokolade zu tun hatten und wie sie die Mundhöhle füllte und den ganzen Weg zum Magen hinunter wärmte. Das hilft immer, zwang sie sich zu denken. Alles wird gut nach einer Tasse heißer Schokolade. Sie bestellte eine zweite Tasse. Sofort nach der ersten. Die zweite Tasse trank sie langsam als Schutz gegen den Hornissenschwarm, den sie dann losließ. Als die Gedanken zu surren aufhörten, war der Körper leer, und sie stand auf und ging vom Tisch weg. Sie ging den gleichen Weg, den sie gekommen war, wieder zurück.
5
Marie ging schräg über den Stadshuskai. Eine unverkennbare, wenn auch bleiche Februarsonne tat ihr Bestes, um die Kälte aufzutauen, die in den Schneewehen und den Gesichtern der Menschen hockte. Ein Zug mit blaugelben Schlafwagen, die den ganzen weiten Weg von Hamburg gekommen waren, fuhr ihr entgegen, als sie über die Centralbron ging. Sie blieb stehen, schaute über den Riddarfjärden, die Sonne glitzerte im leicht gekräuselten Wasser. Sie hatte nur ein paar Stunden geschlafen und müßte eigentlich müde sein und nervös angesichts des Treffens mit Helen. Aber sie war merkwürdigerweise nur schrecklich glücklich. Von den Zehen bis in die Fingerspitzen pulsierte eine warme Freude, die keine Fragen stellte und keine Antworten erwartete. Sie hatte sie im Körper gehabt, seit sie am Morgen zusammen mit Anna aufgewacht war. Es war fast ein religiöses Gefühl, dachte sie, als sie weiterging. Fast ein erleuchteter Zustand.
Marie ging am Empfang vorbei und den Flur entlang zu Helens Zimmer, deren Tür offenstand. Sie blieb in der Tür stehen. Helen saß am Schreibtisch, sie hatte die Augen geschlossen und das Gesicht zum Dachfenster gerichtet, das einen breiten Sonnenstreifen quer durchs ganze Zimmer malte. Sie sah aus wie ein Leopard mit Diamanthalsband und roten Krallen; sie spreizte zufrieden ihre Finger und hatte die Handflächen auf den Tisch gelegt. Marie räusperte sich, und Helen zog sofort die Hände weg und stützte sich auf, als sie sich vom Schreibtischstuhl erhob. Ihr Gesicht hatte sich blitzschnell
geschlossen, wie eine automatische Kamera in grellem Sonnenlicht. Eine Tausendstelsekunde, dann war das Bild verschwunden. »Komm rein, Marie! Ich habe deine Papiere fertig. Du brauchst nur noch zu unterschreiben.« Sie gab ihr die Hand und zeigte auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch. »Ich habe dir ein Zeugnis geschrieben, außerdem bekommst du noch Lohn, Urlaubsvergütung und Spesen, damit du eine Weile klarkommst.« Sie reichte Marie einen Füller und zeigte auf die Zeile, wo Marie unterschreiben sollte. Marie überflog das Zeugnis und die Gehaltsabrechnung. Es war besser, als sie erwartet hatte. Sie unterschrieb und gab den Füller zurück. »Tja, dann kann ich dir nur noch alles Gute für deine Zukunft wünschen«, sagte Helen und erhob sich mit ausgestreckter Hand. »Danke!« antwortete Marie, und dann nahm sie die breite Hand mit den Goldringen in ihre. Das war offenbar alles. Sie drehte sich um und ging zur Tür, blieb mit der Hand auf der Klinke stehen und schloß die Tür. »Ich bin allerdings noch nicht ganz fertig«, sagte sie und drehte sich um. »Ich möchte noch ein paar Worte sagen, ehe ich gehe. « Helen sah zunächst ängstlich drein, setzte sich dann jedoch, die Hände auf dem Tisch wie ein Schulmädchen. »Ich spreche nie über das, was damals in Griechenland ierte, aber du hast mich zum Reden gebracht, und dafür bin ich dankbar. Daß es dir dann zu viel war, zu hören, wie ich aus der Beziehung herauskam, kann ich irgendwie verstehen. Aber deine Reaktion war nicht der Grund dafür, daß ich davongerannt bin. Es ist mir wichtig, daß dir das klar ist. Ich höre nicht auf, weil ich etwas Schändliches offenbart habe.« »Das habe ich auch nicht geglaubt.«
Helen lächelte nicht, sie sah eher traurig aus. Sah so die Helen hinter der Maske aus, fragte sich Marie. Ein normaler Mensch? »Ich bin froh, nicht schuld zu sein, daß du aufhörst«, sagte Helen nach einer Weile und stand auf und ging um den Schreibtisch herum. »Da du so ehrlich zu mir warst, möchte ich es auch sein. Du eignest dich nicht für diesen Job, oder dieser Job eignet sich nicht für dich. Deine Talente liegen auf einem anderen Gebiet.« Sie öffnete die Arme und zog Marie an sich. »Viel Glück! Und danke, daß ich dich kennenlernen durfte.«
6
»Ihr seid also wieder zusammen, willst du das damit sagen?« Anna nickte und legte einen weiteren geputzten Silberlöffel neben die anderen auf dem Eßtisch. Karin saß am anderen Tischende, sie trug einen Morgenrock und Pantoffeln, hatte die Lesebrille auf der Nasenspitze und Listen in den Händen. »Puh, das macht mich alles so müde«, sagte sie und legte die Zettel auf den Tisch. »Ein Glück, daß du da bist und mir hilfst. « Sie schaute Anna über den Rand ihrer Brille an, als suche sie einen Fixpunkt, etwas, woran der Blick sich festhalten konnte, während die Gedanken sich zu einem zusammenhängenden Satz formten. Anna streckte den Arm nach der kleinen Flasche mit »Hexe Silberputzmittel« aus. Als Kind hatte sie sich immer gefragt, was die schwarze Hexe wohl mit Sauberkeit zu tun hatte. Sie brachte es nicht zusammen, und die kleinen Flaschen und die Prozedur mit dem Silber waren etwas gefährlich Rituelles gewesen, was nur die Erwachsenen machten und verstanden. »Jetzt bist du die einzige in der Familie, die jemanden hat«, sagte Karin nach einem längeren Schweigen und starrte Anna weiter beinahe abwesend an. Anna spürte sofort wieder das stechende Gefühl im Nacken, das Karin ihr so gut vermitteln konnte. »Wie meinst du das?« fragte sie mißtrauisch. »Du hast Marie, Niklas und ich sind alleine. Ist das so schwer zu verstehen?« »Meinst du, ich sollte ein schlechtes Gewissen haben?«
»Nein, warum denn?« »Man weiß ja nie.« »Anna, ich finde, du übertreibst. Es war kein Vorwurf, es war nur die Feststellung einer Tatsache. Niklas hat Susanne verloren, und ich habe Papa verloren. Du hast immer noch Marie. Und darüber solltest du froh sein, finde ich.« Karin setzte wieder die Brille auf und nahm die Listen in die Hand. »Hast du Lust, das Großmutterservice durchzugehen, wenn du mit dem Silber fertig bist? Wir werden neunzehn zum Essen sein, wenn Marie kommt. Ich muß Gunborg anrufen und fragen, ob sie Zeit hat und servieren kann. Ich weiß nicht, wie ich alles schaffen soll.« Anna verspürte eine unbändige Lust, vom Tisch aufzustehen und zu gehen. Sie verstand nicht, was Karin eigentlich sagen wollte. Und es war hoffnungslos zu meinen, man könnte eine klare Antwort aus ihr herauspressen. Die Fragen kamen wie angeschnittene Bälle zurück, unmöglich zu parieren. Anna putzte den letzten Teelöffel und legte ihn wieder in seine Schachtel. Dann ging sie zur Vitrine und holte jeweils neunzehn Teller, Salatteller und Dessertschälchen heraus und stellte sie in der Küche auf die Spüle. Karin kam mit Suppenschüsseln, Platten und Soßenkännchen. Alles war staubig und fleckig und mußte gespült werden. Sie nahm ein Handtuch und stellte sich neben Anna, um das saubere Geschirr abzutrocknen. »Ragnar hat wieder geheiratet, eine jüngere Frau. Habe ich das schon erzählt?« »Ja, du hast es gesagt.« »Ich finde es fast ein bißchen frech von ihm, aber er will kommen.« »Frech?« fragte Anna. »Ja, er gehört ja nicht mehr zur Familie. Und ich kann mich nicht erinnern, daß Ulf und er sich jemals was zu sagen hatten.« »Kommen seine Kinder, ich meine die Cousinen? Mein Gott, die sind ja auch
bald dreißig.« »Lars und Birgitta, ja, die kommen auch. Mit Familie«, fügte Karin hinzu und ließ einen nicht ganz sauberen Teller wieder ins Spülwasser gleiten. »Ich hoffe ja bloß, daß sie nicht auf die Idee kommen, die Kinder mit in die Kirche zu nehmen. Ich frage mich überhaupt, auf welche Seite sie sich setzen wollen. Die sollen bloß nicht glauben, daß sie was erben und sich auf die Art einschleichen.« »Mama!« »Ja, entschuldige vielmals, aber ich habe gesehen, wie Menschen sich in Monster verwandeln, wenn es ums Erben geht.« »Müssen wir jetzt darüber reden?« »Nein, das können wir nach der Beerdigung machen.« Karin nahm einen Stapel trockener Teller vom Abtropfbrett und trug ihn zum Küchentisch. »Ich weiß nicht, ob ich hier wohnen bleiben kann«, sagte sie, mit dem Rücken zu Anna. »Willst du etwa den Hof verkaufen«, fragte Anna und ließ fast Großmutters Suppenschüssel fallen. Karin holte ärgerlich Luft. »Warum soll ich allein in dem großen Haus wohnen bleiben«, fauchte sie. »Ich bin davon ausgegangen«, stotterte Anna. »Du bist schließlich hier aufgewachsen, es ist dein Elternhaus, und ich habe gedacht, du kannst dir nicht vorstellen, woanders zu wohnen.« »Quatsch!« Karin schüttelte das Küchenhandtuch aus und hängte es zum Trocknen neben die Spülmaschine.
»Wie kommst du überhaupt dazu, das zu glauben?« fragte sie und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Spüle. »Du ... Papa ... .« Anna zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich will dir mal eins sagen, wenn es nach mir gegangen wäre, dann wäre ich nicht mein Leben lang zu Hause geblieben. Das ist mal sicher.« Karin holte ein trockenes Handtuch aus dem Wäscheschrank. »Ich habe mich manchmal gefragt, hinter was Ulf eigentlich her war, hinter mir oder dem Hof«, sagte sie und nahm einen Dessertteller aus dem Abtropfgestell. Sie hielt den Teller gegen das Fenster, und es sah aus, als wolle sie ihn hinauswerfen. »Du glaubst, und Niklas glaubt, und alle anderen glauben, aber was wißt ihr denn schon. Ich werde vielleicht noch einmal heiraten oder mir einen Liebhaber suchen. Was würdet ihr dazu sagen?« Anna errötete und schlug verlegen die Augen nieder. Karin schnaubte sie an, nahm einen Stapel Teller vom Tisch und trug ihn ins Eßzimmer zurück. Anna ließ das Spülwasser ablaufen und dachte, ich muß Marie anrufen. Menschen konnten sich in Krisensituationen merkwürdig verhalten. Das wußte sie selbst am besten. Aber dieses Wissen half nicht richtig, wenn es sich um ihre eigene Mutter handelte.
Anna saß auf dem Küchenboden und hatte neben jedem Bein einen Dackel. Wenn sie sie gleichzeitig und gleich viel streichelte, dann gaben sie Ruhe. Sie hatte einen Dackel in Ulfs Arbeitszimmer gefunden, als Karin in der Stadt war und Besorgungen machte. Der Hund hatte wie fixiert vor dem Jagdgewehr gestanden, das an der Wand hing und mit dem Schwanz gewedelt, als ob er Kontakt mit etwas hätte, das sie nicht sehen konnte. Sie hatte zwar keine Angst
bekommen, jedoch beschlossen, Karin nichts davon zu erzählen. Karin hatte die Dackel nie gemocht, und jetzt, wo sie offen um ihr Herrchen trauerten, noch weniger. Sie hatte ihnen Sachen nachgeworfen, wenn sie jaulend durchs Haus gelaufen waren und Ulf suchten. Irgend etwas war mit Karin iert, kein Zweifel. Es war keine durchgreifende Veränderung, sondern eher ein plötzlicher Ausbruch von unerwarteter Aggressivität. Die war natürlich schon immer dagewesen, hatte sich aber nie so direkt geäußert. Das war immer Ulfs Terrain gewesen. Aber jetzt gab es ihn nicht mehr, und Karins Schatten wurde erschreckend groß in dem Vakuum, das er hinterlassen hatte. Anna hatte mit Marie telefoniert und zu erklären versucht, was sie erlebte, aber das Weinen hatte bald die Sätze zerhackt, und sie hörte selbst, daß es kindisch und übertrieben klang. Aber dennoch. Sie hatte Angst vor Karin. Angst, wo der nächste Ausbruch hinzielen würde. Jetzt saß Karin ruhig und konzentriert am Küchentisch und schrieb Einkaufslisten für das Beerdigungsessen und den Kaffee im Gemeindehaus. Anna hatte versucht, etwas zu delegieren, aber Karin zog es offenbar vor, die Kontrolle über die Veranstaltung zu behalten. Die Spülmaschine ließ das letzte Spülwasser ablaufen, und die Lüftungsklappe über der Spüle war milchig vom Dunst. Anna überlegte, ob sie einen Abendspaziergang mit den Hunden machen sollte, als Karin von ihren Listen hochsah. »Bist du sicher, daß Marie kommt?« fragte sie. »Ja, natürlich«, antwortete Anna erstaunt. »Wenn sie zum Kaffee bleiben würde, wäre es egal.« »Du glaubst doch wohl nicht, daß sie direkt nach der Beerdigung nach Hause fährt, es sei denn, ich fahre auch.« Karin nahm die Brille ab und massierte die Nasenwurzel mit Daumen und
Zeigefinger. »Zu der Beerdigung kommen Ulfs und meine Verwandten«, sagte sie müde. »Marie kennt niemanden. Da wäre doch nichts dabei, wenn sie nach Hause fahren wollte. Hast du sie wirklich gefragt?« »Natürlich habe ich sie gefragt. Ich habe sogar gefragt, ob sie ein paar Tage früher kommen und ein bißchen helfen kann. Und sie hat ja gesagt.« »Ja, ja, das ist nett. Sag ihr vielen Dank, aber es ist nicht nötig.« »Natürlich ist es nötig! Ich brauche sie auf jeden Fall!« »Du hast sie doch in Stockholm, ist das nicht genug?« Karin nahm das Kochbuch und rechnete die Zutaten für ein Rezept mit dem Taschenrechner um. Anna stand auf und setzte sich Karin gegenüber auf den Stuhl. Die Dackel kamen hinterher und rollten sich neben ihren Füßen zusammen. »Mama, worum geht es hier eigentlich. Du versuchst schon den ganzen Tag, mir etwas zu sagen, aber ich weiß nicht, was es ist. Ich nehme an, es geht um Marie und mich, um unsere Beziehung. Habe ich recht?« »Das weiß ich nicht«, sagte Karin und schaute ein Rezept an, das aus dem Kochbuch gefallen war. »Ich kann mich nicht entscheiden, ob es Hummersuppe oder Kaviartoast als Vorspeise geben soll. Es ist ein bißchen abgedroschen, aber ich muß bedenken, daß ich nicht selbst in der Küche stehen kann.« Anna wurde wütend und riß ihrer Mutter das Rezept aus der Hand. »Würdest du mir jetzt bitte antworten! Ich habe dich gefragt, ob es dich stört, daß Marie und ich zusammen sind.« »Nein, darum kümmere ich mich nicht mehr«, antwortete Karin und riß das Rezept wieder an sich. »Aber einige der Leute, die kommen werden, sind nicht darauf vorbereitet, eine Frau an der Seite meiner Tochter zu sehen. Es wird sie ganz bestimmt stören, auch wenn sie uns das nicht zeigen werden. Aber ich kann jetzt schon hören, was hinterher geredet wird.«
»Und was wird geredet?« »Das ist doch egal. Ich finde es nur unangenehm.« »Es wäre dir also lieber, wenn Marie nicht zum Essen bliebe? Du willst vielleicht nicht mal, daß sie in der Kirche neben mir sitzt?« »Daß sie das nicht tut, davon gehe ich allerdings aus. Du und Niklas und ich sitzen als nächste Angehörige in der ersten Bank. Dann kommen Ulfs Geschwister und Verwandte. Marie kann gerne dabei sein, aber sie muß links sitzen.« »Dann sitze ich auch links.« »Das wirst du nicht. Sei nicht kindisch.« »Ich meine es ernst. Ich werde mit meiner Familie zusammensitzen, das heißt mit Marie, ganz egal, wie Papas Verwandte und alle anderen verdammten Bauern das finden.« »Wenn du weiter in diesem Ton mit mir redest, kannst du von mir aus nach Stockholm zurückfahren. Ich komme auch ohne deine Hilfe zurecht, vielen Dank!« Anna stand vom Tisch auf und nahm die Hunde mit in die Halle. Sie würde mit ihnen Spazierengehen. Und wenn Karin immer noch nichts begriffen hatte, wenn sie zurückkam, würde sie noch am gleichen Abend nach Hause fahren. Nach Hause zu ihrer Familie.
7
Es ging besser, wenn sie saß. Anna hatte versucht, auf der Rückbank zu liegen, aber da verstopfte ihr die Erkältung die Nase, so daß sie keine Luft bekam. Marie hielt beim Fahren ihre Hand. »Du fühlst dich heiß an. Wir müssen dich sofort ins Bett stecken, wenn wir da sind.« Anna brummte nur. Sie war zu müde zum Antworten. Die Augen vertrugen kein Licht, ihr tat alles weh, wie sie sich auch hinsetzte. Sie wollte nur schlafen. Als sie die Augen schloß und sich das Doppelbett im Gästezimmer vorstellte, das sie erwartete, erschien bald ein Kreis von schwarzgekleideten Verwandten, die durch die Wände drangen und sich um das Bett versammelten. Sie sah keine Gesichter und hörte keine Stimmen, aber sie empfand ihre Anwesenheit als nachdrückliches Verlangen nach ihrer Anteilnahme, Loyalität und ihrem Pflichtgefühl. Sie versuchte, sich unter der Decke zu verstecken, aber sie war zu kurz, um ihren Körper zu bedecken. »Sie lassen mich nicht schlafen«, jammerte sie und tastete mit der Hand neben den Sitz. »Was wollen sie denn von mir?« »Wer sie?« »Die Schwarzen.« Marie bremste und bog in einen schmalen Waldweg ein. »Hast du Fieber, Anna? Du phantasierst.« Sie fühlte Annas Stirn und holte dann die Saftflasche aus der Picknicktasche. »Es ist nicht mehr weit, aber bitte trink noch etwas, ehe wir weiterfahren.«
»Ich will nicht«, jammerte Anna. »Ich will nicht auf die Beerdigung.«
Die Wischerblätter drückten den schweren, nassen Schnee zu milchweißen Fetzen auf der Windschutzscheibe zusammen, die durch ihr Gewicht abrutschten, ehe der Scheibenwischer sich festgefressen und nicht mehr funktioniert hätte. Man sah fast nur die aufflammenden Lichter der entgegenkommenden Fahrzeuge und die blinkenden roten Warnungen der Bremsleuchten in der Schlange vor sich. Die Autos schlichen. Nicht wegen der Glättegefahr, sondern weil die Schneemassen plötzlich wie ein weißes Tuch vom Himmel gefallen waren. Marie starrte wie hypnotisiert auf die Rücklichter, die im Dunkel verschwanden, und sie faßte das Steuer so fest, daß die Hände schmerzten. Es war, wie in ein Raumabenteuer versetzt zu werden, dachte sie. Eine plötzliche Katastrophe suchte die Erde heim, und überall herrschte Ausnahmezustand. Die ganze Existenz wird in Frage gestellt: woher, wohin, warum? Eine Sekunde des Zweifels, und man ist verloren. Annas Wange auf ihrem Bein. Annas Kopf in ihrem Schoß. Anna, die schwer atmet, mit offenem Mund, und die Hand nach innen gebogen hat. Sie liebte Anna. Als ob diese einfache und dennoch unfaßbare Tatsache ihre Existenz erklären könnte – woher, wohin, warum? Marie dachte daran, wie Anna sich vor ein paar Tagen vor ihr erniedrigt hatte. Wie sie auf bloßen Knien um Vergebung gebeten hatte, wie ihr Gesicht auf einmal das Gesicht eines Kindes war, ein Gesicht voller Tränen, voller unverstellter Angst vor der endgültigen Verstoßung. Und wie sie da einen solchen Überdruß über ihren eigenen Haß verspürt hatte. Sie hätte Anna nicht mit einer Waffe in der Hand gegenübertreten können. Nicht mit dem Schwert, das Gerechtigkeit schaffen würde. Nicht mit Helen als
verstecktem Stilett in der Hinterhand. Keine Rache, keine Geheimnisse. Das einzige, was von ihr verlangt wurde, war Vertrauen. Und das hatte sie nicht. Und dennoch hatte sie der Angst getrotzt und sich ins Nichts gestürzt. Genau wie Anna es für sie getan hatte. Jetzt lag Anna in ihrem Schoß wie ein kleines Kind. Marie hatte ihren Mantel wie eine Decke über sie gebreitet, und sie streichelte die dunklen Haare, die über den Kragenrand schauten, ganz vorsichtig, um Anna nicht zu wecken. Daß Anna um etwas bat, war etwas so Neues und Zerbrechliches in ihrer Beziehung. Es war fast, als ob sie die Rollen getauscht hätten. Als ob Anna sich von der Schaukel geworfen hätte, als sie selbst heruntergestiegen war, und auf der hilflosen Seite gelandet wäre, auf dem Brett der Abhängigen. Verlassen hatte sie eine Maschine, die Ergebnisse produzierte, die ihre Umgebung organisierte wie eine Fußballmannschaft, die zum Sieg getrieben wurde, aber als sie zurückkam, hatte sie ein Kind vorgefunden, das in den Trümmern nach einer Katastrophe umhertrieb und nur darauf wartete, daß jemand käme und es rettete. Marie stellte erstaunt fest, daß es nicht schwer gewesen war, diese Rolle anzunehmen, eher befreiend. Eine Art, die eigene Existenz zu rechtfertigen, indem sie die Bedürfnisse eines anderen Menschen erfüllte. Sie begann zu verstehen, warum Anna sich so krampfhaft an ihre Position geklammert hatte, und auch ihre heiße Wut über Annas kompetente Eckigkeit kühlte ab und verwandelte sich in Zärtlichkeit. Sie strich ihr über die Wangen und versprach, sie vor Karin und den gemeinen Verwandten zu schützen. Es gab noch so viele Fragen, die auf eine Antwort warteten, so viel Trauer, die bearbeitet werden mußte. Und doch war da zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein lebendiges Gefühl. Es war, als ob die Krise das Rauschen weggewischt hatte, wie das Schneeunwetter. Marie sah an den Straßenschildern, daß es nicht mehr weit war. Ihr taten die Schultern und Augen weh, weil sie unbeweglich saß und sich konzentrieren
mußte, um nicht in den Graben zu fahren. Sie war auch aus anderen Gründen verspannt, aber das wollte sie Anna nicht zeigen. Sie wollte jetzt stark für sie sein. Karin hatte angerufen und sich entschuldigt, aber es war nicht richtig ehrlich gemeint, das konnte Marie hören. Jetzt kamen sie doch ein paar Tage vor der Beerdigung, um zu helfen. Es war eigentlich nicht nötig, Karin hatte schon für Verstärkung gesorgt. Ihre ältere Schwester Vera hatte versprochen zu helfen. Marie dachte darüber nach, daß sie eigentlich immer vor Karin auf der Hut gewesen war. Es war irgend etwas an ihr, das gefährlich wurde, wenn man zu nah kam. Mit Ulf konnte man leichter umgehen. Er war zwar ein großer Saukerl gewesen, und auch er hatte ihre Beziehung nicht gutgeheißen, aber er hatte den Mut gehabt, seine Meinung zu ändern, ehe es zu spät war. Das hätte Karin nie gemacht. Im Gegenteil. Sie hätte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, um die Schuld auf ewig einzubrennen. »So, wir sind da«, sagte Marie und stellte den Motor ab. Anna setzte sich verschlafen auf, und Marie zog die Handbremse an. Sie blieben eine Weile schweigend im Auto sitzen, aber Karin kam nicht herausgestürzt wie sonst. »Wie fühlst du dich?« fragte Marie. »Es geht so«, antwortete Anna. »Ich habe, glaube ich, ein bißchen Fieber.« »Ich werde dir jetzt eine heiße Schokolade kochen«, sagte Marie und küßte sie auf die Stirn. Sie ergriffen ihre Sachen und gingen ins Haus. Anna stellte ihre Tasche an der Treppe zum Oberstock ab. Dann ging sie ein paar Stufen hoch und setzte sich. »Was ist denn?« Anna hörte in der Küche die Spülmaschine laufen. Wahrscheinlich hatte Karin das Auto nicht gehört. Oder es war eine Kriegserklärung.
»Kannst du nicht mal rausfinden, wie ihre Laune ist?« Marie zuckte die Schultern und ging. Anna zog Maries Mantel fester um sich. Sie hatte das Gefühl, von innen heraus zu frieren, obwohl es in der Halle, wie sie wußte, immer kalt war. Die Teppiche auf den Steinplatten halfen nur wenig gegen den Zug aus den Ritzen zwischen der Wandverkleidung. Einige von Ulfs Jagdtrophäen hingen in der Halle, einige hatten noch Lametta an den Geweihenden. Sie fragte sich, wie lange die wohl noch hängen würden. Noch hatte Karin Ulfs Sachen nicht angerührt. Seine Jacken hingen wie immer links neben Karins Mänteln. Es sah aus, als ob er noch im Haus wohnte. Seine albernen Hüte mit den Federn am Hutband, seine Gummistiefel und die Schuhe mit den groben Sohlen, der schwarze Schirm und Großvaters silberbeschlagener Spazierstock ... Anna legte die Arme um die Knie und wiegte sich auf der Treppenstufe. Sie konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, ihn nicht in seiner ganzen Tragweite erfassen: nie mehr. Sie fragte sich, wo Marie geblieben war, als sie plötzlich vor dem Haus Hundebellen hörte. Sie lauschte und erkannte Karins Stimme. Es klang, als ob sie mit jemandem sprach, vermutlich mit Vera. Anna machte die Haustür auf und trat auf die Treppe. Die Dackel rannten bellend auf sie zu und sprangen an ihr hoch. »Wir dachten, ihr hättet gedreht und wärt zurückgefahren«, rief Karin von weitem. »Sie haben in den Nachrichten gesagt, daß vor Arboga schreckliches Schneewetter ist«, ergänzte Vera, als sie herankamen. »Ja, Marie sagte, es war anstrengend zu fahren. Ich habe nicht viel davon gemerkt, ich habe fast den ganzen Weg geschlafen.« »Geht es dir nicht gut?« fragte Karin. »Ich habe mir eine Erkältung eingefangen. Heute nacht, Halsweh und Fieber.«
»Dann ist es besser, wenn wir uns fernhalten«, sagte Karin und zog Vera in einem Bogen um Anna herum. »Wir können nicht alle krank werden. Das geht nicht.« »Mich beißen keine Bakterien mehr«, lachte Vera und umarmte Anna fest. »Marie kann uns bestimmt helfen, auch wenn du zu schwach bist«, fügte sie mit einem vielsagenden Zwinkern hinzu. Anna schaute abwechselnd ihre Mutter und deren silberlockige große Schwester an. Sie war davon ausgegangen, Vera stünde auf Karins Seite, weil sie Schwestern waren. Aber so einfach war es offenbar nicht.
Als Marie am Abend neben Anna ins Bett kroch, war sie froh, mitgekommen zu sein. Sie hatte richtig Spaß gehabt mit Karin und ihrer verrückten Schwester. Sie waren von gnadenloser Gemeinheit gewesen bei der Aufzählung des Sündens der anrückenden Verwandten. Marie dachte, sie und Anna wären wenigstens in guter Gesellschaft. Ihre Sünde war zwar, im Gegensatz zu denen der anderen, deutlich sichtbar, aber doch vergleichsweise harmlos. »Wir müssen ein bißchen mehr sündigen, wenn wir in deine Familie en wollen«, flüsterte sie Anna ins Ohr und kroch ganz eng an den fiebrigen Körper. Sie legte ihre Hand auf Annas Bauch und ließ einen Finger unter den Rand des Höschens gleiten, so daß sie ganz leicht die rauhen Schamhaare berührte. Im Gang vor dem Zimmer waren Schritte zu hören, und sie spürte, wie Anna sich in ihren Armen versteifte. »Das ist nur deine Mutter, die wissen will, was wir machen«, sagte sie scherzend und hielt Annas Arme fest und küßte sie, bis die Schritte vor der Tür verschwunden waren. »Ich will vögeln«, stöhnte sie und drückte ihren Schoß so auffordernd wie möglich gegen Anna. »Hier?! Kannst du nicht warten, bis wir zu Hause sind?«
»Nein, kann ich nicht.« Marie nahm Annas Hand und legte sie zwischen ihre Beine. »Ich bin geil«, jammerte sie. »Psst! Nicht so laut«, zischte Anna erschrocken. »Ist mir scheißegal, ob deine Mutter uns hört. Ich bin deine Frau, nicht deine Freundin.« »Meine Frau ...? Von wem hast du das denn? Von Lena?« Marie antwortete nicht und biß Anna in den Hals, um eine Reaktion zu bekommen. »Au! Das tut weh! Vergiß nicht, ich bin krank.« »Starken Krankheiten muß mit starken Arzneien gewehrt werden«, sagte Marie und biß noch ein wenig fester zu, bis Anna sich schließlich in die Behandlung fügte.
8
Es klopfte an die Tür. »Seid ihr eingeschlafen da drinnen?« Marie erschrak und stach sich mit der Nadel in den Finger. »Nein, sind wir nicht«, rief Anna zur Tür und verdrehte die Augen. »Anna, deine Cousinen wollen wissen, wo du bleibst«, war Karin zu hören. Ihre Stimme war schrill und gepreßt. »Wir kommen! Marie muß mir nur einen Knopf an der Bluse annähen.« »Ist gut! Beeilt euch!« Klapp, klapp, klapp machte es, als Karin auf ihren hochhackigen Schuhen die Treppe hinunterging. Anna ging zum Fenster und schob die Gardine ein wenig zur Seite. Vor dem Hoftor parkte ein großer Volvo neben dem anderen. Eine schwarzgekleidete Gesellschaft bewegte sich gemächlich über den Kiesweg. Als sie näherkam, erkannte sie ihre Tante und ihren Onkel aus Uppsala und deren erwachsene Kinder. Sie wünschte, sie hätte eine Ersatzfrau, die ihre Rolle übernehmen könnte. Es war schlimmer, als sie gedacht hatte. Aus der Halle war ein lautes Stimmengewirr von den Gästen, die schon da waren, zu hören. Verwandte, die sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen hatte, würden ihr die Hand geben, sich räuspern oder den Kopf schräg legen und ihrer Trauer Ausdruck verleihen. Dann würden sie etwas erstaunt Marie die Hand geben und ihr erzählen, wie sie mit Ulf verwandt waren. Und Marie würde antworten ... »Ich bin Annas Frau ... Annas Geliebte ... Annas Freundin.«
Sie hatten immer wieder darüber gescherzt, was Marie bei einer solchen Gelegenheit sagen könnte, und Anna hatte versucht zu erraten, wie die verschiedenen Verwandten reagierten. Aber jetzt gab es nichts mehr zu scherzen. Jetzt war es plötzlich ernst. Wenn doch wenigstens Niklas schon da wäre, dachte Anna und fingerte an der Perlenkette, auf der Karin bestanden hatte. »Fertig«, sagte Marie und biß den Faden ab. »Du kannst die Bluse anziehen. Ich schminke mich noch ein bißchen, dann bin ich soweit.« Anna zog die Bluse und die Kostümjacke an und stieg in die Pumps. Sie stellte sich vor den Spiegel und versuchte, natürlich auszusehen. Es gelang ihr nicht. »Laß dich anschauen«, sagte Marie und ging zu ihr. Sie schraubte ihren Lippenstift heraus und zeigte Anna, wie sie es machen mußte. Dann trat sie einen Schritt zurück und lächelte zufrieden, als ob sie gerade letzte Hand an ein Kunstwerk gelegt hätte. »Es wird gutgehen«, sagte Marie und nahm Annas Hand. Als sie aus dem Zimmer gingen, wollte Anna die Hand loslassen, aber Marie hielt sie fest. Als sie halbwegs die Treppe zur Halle hinuntergegangen waren, sah Karin sie und erstarrte mitten in einem Lächeln. Anna bekam ihre Hand los und machte ein paar Schritte nach unten. Sie begrüßte zuerst die Cousins, die am nächsten standen. Es ging gut. Sie fragten, wo Niklas sei, und nicht, wer Marie ist. Das fragten allerdings die Eltern. »Ich bin mit Anna zusammen«, hörte sie Marie mit klarer und deutlicher Stimme schräg hinter sich sagen, und dann sah sie, wie Marie entwaffnend ihre Hand der Tante entgegenstreckte, die nicht umhinkonnte, sie zu nehmen. Anna konnte sich nicht entscheiden, ob sie ohnmächtig werden oder im
Erdboden versinken sollte. Sie wußte nur, daß sie auf keinen Fall in Karins Nähe kommen durfte. Ulfs Bruder Torsten streckte Marie seine Hand mit einem fragenden Ausdruck entgegen. »Ihr seid zusammen? Wie äh ...« »Ja, wie ein Paar. Wir leben zusammen«, verdeutlichte Marie. »Aha, was du nicht sagst. Aha ... Das wußte ich nicht. Da kann man mal sehen.« Er schaute Anna an, und sie sah, unter anderen Umständen wäre er in lautes Gelächter ausgebrochen. In dem Punkt war er wie sein Bruder. Wenn Ulf das sehen könnte, dachte Anna, dann würde er auch lachen. Der Gedanke tröstete sie, und sie lächelte Torstens Frau matt zu, die sich an ihren Mann klammerte und aussah, als ertränke sie.
9
Niklas warf seine Tasche auf den Rücksitz des Autos und kletterte selbst hinterher. Marie ließ die Kupplung los und drückte aufs Gas, daß der Schotter hinter den Rädern aufspritzte, als sie vom Bahnhofsgebäude wegfuhr. »Am Kreisverkehr rechts, dann geradeaus«, instruierte Anna sie und drehte sich dann zu Niklas auf dem Rücksitz um. »Warum hast du nicht angerufen? Du hättest doch anrufen und sagen können, daß das Auto kaputt ist. Mama hatte fast einen Nervenzusammenbruch.« »Es war ständig besetzt. Was hätte ich denn machen sollen? Ein Fax schicken?« »Du hättest die Vermittlung bitten können, das Gespräch zu unterbrechen.« »Dafür hatte ich nicht genug Kleingeld.« »Du hättest wechseln können.« »Ich hatte nicht genug Zeit.« »Du hättest jemanden in Stockholm bitten können, bei uns anzurufen, nicht wahr?« »Daran habe ich auch gedacht, aber da saß ich schon im Zug.« »Mein Gott, Niklas«, stöhnte Anna. »Gebrauch doch mal, was du zwischen den Ohren hast. Jetzt kommen wir wegen dir alle miteinander zu spät.« Marie beobachtete Niklas im Rückspiegel. Er war der ewige kleine Bruder, der immer in die Klemme geriet, wenn es Krach gab in der Familie. »Diese Beerdigung ist mir scheißegal«, murmelte er und zog ärgerlich am
Schlipsknoten. »Das ist sie dir nicht«, antwortete Anna sofort. »Doch.« Marie sah, daß es schon nach der verabredeten Uhrzeit war, und trat aufs Gas. Sie kam zu schnell in eine Kurve und mußte blitzschnell gegensteuern. Dem Himmel sei Dank, dachte sie und schluckte. Anna und Niklas sagten keinen Ton. »Es macht nichts, wenn wir zu spät kommen«, sagte Anna nach einer Weile. »Dann bleibt es uns erspart, sämtliche Bauern aus der Umgebung zu begrüßen. Das ist es wert.«
Die ganze schwarzgekleidete Schar von Annas Verwandten stand vor der Kirche. Marie wollte einen Arm ausstrecken, damit Anna nicht von ihr weglief, aber sie ließ es bleiben, als sie Karin bemerkte, die sich aus der Versammlung gelöst hatte. Von weitem sah man, daß sie imstande war, einen mittleren Bürgerkrieg anzuzetteln. Marie hörte, wie Anna fluchte und schneller ging, aber Karin war nicht auf Anna aus, sondern auf Niklas. Er erstarrte in der Umarmung seiner Mutter, wurde zu einem Schatten und verschwand. Karin faßte ihn fest unter dem Arm. Jetzt waren sie gleiche Paare. Der Pfarrer, mit Hornbrille und Haarkranz, machte dem Küster ein Zeichen und begrüßte dann die Geschwister. Er gab auch Marie die Hand. Der Handschlag war weich und offen wie ein Fragezeichen. Wußte er nicht, wer sie war oder wie sie zu wem gehörte? Erst als die Glocken mit schweren, schicksalhaften Schlägen ertönten, begriff Marie, was bevorstand, aus welchem Grund sie sich vor der Kirche versammelt hatten. Sie drehte sich zu Anna, sah aber nur die Trauer, die sie trennte.
Eine weiße Manschette schaute aus Annas Jacke hervor, in der Hand hatte sie ihre rote Rose.
»Wir haben uns heute hier versammelt«, leierte der Pfarrer mit seiner eintönigen Priesterstimme, und Anna hörte nicht mehr zu. Sie starrte auf den weißen Holzsarg und versuchte zu begreifen, daß Ulf da drinnen lag. Sie fragte sich, was er wohl anhatte, sie hatte vergessen, Karin danach zu fragen, aber was spielte es für eine Rolle, er war ja tot. Tot – tot – tot! Sie wiederholte die Worte für sich, aber es wollte ihr nicht eingehen. Nein, schrie das kleine Mädchen und rannte zum Sarg und schlug mit den kleinen Fäusten auf die Seiten. Nein – nein – nein! Da fiel ihr ein, wie er sie in den Himmel geworfen hatte, wie er sie gedreht hatte, wie eine kleine Flugmaschine. Und sein Lachen, wie leicht es damals gewesen war. Vielleicht hatte er sich die ganze Zeit danach gesehnt. Vielleicht hatte er diese Sehnsucht hinter dummen Scherzen und gemeinen Bemerkungen versteckt. Vielleicht ging es ihm jetzt gut. Ich habe nie richtig mit dir geredet, Papa, dachte sie. Nie wirklich geredet. Und jetzt liegst du da unter einem Meer von Blumen und Kränzen, mit schön formulierten Grüßen auf langen Seidenbändern. Total unerreichbar. Ich hasse dich, wollte sie schreien. Ich hasse euch alle! Aber sie schrie nicht, sie blieb ruhig sitzen und murmelte mit gefalteten Händen das gemeinsame Gebet. Karin schluchzte neben ihr. Anna wollte sie trösten, schaffte es aber nicht. » ... wie wir vergeben unseren Schuldigern.« Es ging nicht. Ihre Hände lagen wie
schwere Lehmklumpen im Schoß. Maries Hand legte sich darüber, sie blieb liegen, bis die Tränen wie Regentropfen auf ihre verschlungenen Finger fielen. Marie, Marie, dachte Anna und drückte ihre Hand. Wie sehr habe ich mich in dir getäuscht.
Das Gemeindehaus war neu erbaut und rollstuhlgeeignet. Die Fertigstellung hatte sich verzögert, erzählte der Pfarrer, aber nicht wegen des Geldes, sondern wegen der Papiere. Anna sah, daß Karin höflich lächelnd zuhörte, aber ihre Aufmerksamkeit war überall, nur nicht bei den einschläfernden Ausführungen des Pfarrers über das Unvermögen der Kommunalverwaltung. Es sah aus, als versuche sie, einen roten Faden wegzublinzeln, der sich auf ihrer Netzhaut festgesetzt hatte, zu viel Anspannung und zu wenig Schlaf hatten ein Äderchen platzen lassen. Jetzt lief sie wenigstens nicht hin und her, sie überwachte nur von ihrem Platz aus, wie Vera und Marie dafür sorgten, daß die Kaffeekannen gefüllt wurden und die belegten Brote nicht ausgingen. Niklas stand am Kamin und sprach mit seiner Cousine Birgitta. Sie hatte ihre Kinder zum Spielen in die Garderobe schicken müssen, weil die nicht den vielen Onkels hatten zuhören können, die absolute Ruhe brauchten, um ihre langen und umständlichen Reden auf den geschätzten und geliebten Bruder, Kollegen, Vorsitzenden, Freund und Jagdkameraden halten zu können, der sie so plötzlich verlassen hatte. Anna vermutete, Niklas erzählte Birgitta von seiner Scheidung. Man sah es an der Art, wie er sich mit der Hand durch die Haare fuhr, die ganz zerzaust wurden, und an der Art, wie er sich aufs Kaminsims stützte, in einem Winkel, daß das Jackett ganz schief am Körper hing und das Hemd fast aus der Hose rutschte. Er würde auf jeden Fall nicht ungetröstet durchs Leben gehen müssen. Er hatte eine Methode gefunden, Liebe zu bekommen, die todsicher bei den Frauen wirkte, die er aufsuchte.
Anna dachte, sie müßte auch mit Birgitta reden oder vielleicht mit Lars und seiner neuen Frau; sich nach dem Neugeborenen erkundigen oder sagen, wie ähnlich der Fünfjährige seinem Vater sah. Aber sie konnte irgendwie nicht aufstehen. Es sei denn, sie hätte etwas in der Küche zu tun gehabt. Aber Marie schien so beschäftigt zusammen mit Vera, sie würde nur im Weg stehen. Und Bengtsson stand wohl draußen auf der Treppe und weissagte, wie die Frühjahrssaat sich entwickelte nach einem so niederschlagsreichen Winter. Sie merkte, sie war mit ihrer Verwandtschaft zusammen; es roch allzu familiär nach warmen, ungelüfteten Schlafzimmern, es schmeckte primitiv, wie Blut, Stein und Lehm. Es waren Menschen, mit denen sie Gene gemeinsam hatte, Blutgruppe, Haarfarbe und in einigen Fällen auch Erinnerungen, aber zu denen sie doch nicht gehörte. War es ihre Entscheidung, oder hatte die schweigende Mißbilligung der anderen sie ausgestoßen? Dank Marie wußten sie nun, daß sie nicht die unverheiratete, sitzengebliebene Lehrerin war, wie sie vielleicht geglaubt hatten. Aber das bestätigte wohl nur den Eindruck von ihr als etwas Fremdem und anderem, das von der spitzengesäumten Familienidylle und den rosenwangigen kleinen Kindern ferngehalten werden mußte. Marie lächelte sie quer durch das Zimmer an, sie war auf dem Weg in die Küche mit einem Stapel Teller und einer Kaffeekanne. Anna sah, daß Cousin Lars das Lächeln bemerkt hatte, und sie hoffte, er fühlte sich richtig gestört. Das geschähe ihm recht. Seine Frau sah nicht halb so gut aus wie Marie. Nicht eine einzige Frau im Raum reichte Maries Schönheit das Wasser. Der Gedanke munterte sie so sehr auf, daß sie beschloß, mit Lars zu reden und ihn zu fragen, wie hoch er denn sein Häuschen hatte belasten müssen, um sich einen nagelneuen Volvo leisten zu können. Mit nur einem Lohn war das bestimmt nicht leicht.
Marie spülte und trocknete das Geschirr, das Vera abgewaschen hatte, und stellte es in die Schränke. Die Beerdigungsgäste waren nach und nach gegangen, nur einzelne Verwandte und Annas Familie waren noch im Gemeindesaal. Die belegten Brote und die Kuchen, die übrig waren, standen verpackt im Kühlschrank. Die Getränkekisten und die Müllsäcke hatte irgendein Cousin in seinen Landrover geladen. Es mußten nur noch die Tische abgetrocknet und der Boden aufgewischt werden, dann war alles fertig. »Man könnte glauben, du hast so was schon öfter gemacht, bei dem Tempo, das du drauf hast«, sagte Vera lachend und wischte die Hände an der Schürze ab. »Wer weiß, vielleicht werde ich mich in Zukunft so ernähren müssen.« Marie lächelte bitter und drückte den Spüllappen aus. »Du findest bestimmt etwas Besseres, meinst du nicht?« »Ich weiß nicht«, murmelte Marie, drehte sich um und wischte den Tisch ab. »Als ich in deinem Alter war, wollte ich nur Schneiderin werden. Ich liebte Kleider und Stoffe – das war mein Leben«, sagte Vera träumend. »Und was wurde daraus?« »Ich wurde Schneiderin.« Marie drehte sich erstaunt um. »Warum hast du das nicht gesagt?« »Hab ich das nicht?« »Nein, es hörte sich an wie ...« »Doch, ich habe Schneiderin gelernt. Ich habe nie davon leben müssen, das brauchte ich nicht, aber ich konnte machen, was mir Spaß machte. Das war das wichtigste.« Marie setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete Vera. Eine faltige alte Dame mit silberlockigem Haar, Kleidern aus schönen Stoffen, die nach einem ganzen
Leben die Welt mit neugierigen Augen betrachten konnte und die das, was sie sah, mit viel Humor und einem warmen Herzen kommentierte. War das zuviel verlangt? Marie hörte an den taktfesten Schritten auf dem Parkett, daß Karin auf dem Weg war. »Ihr seid fast fertig, sehe ich«, sagte sie zu Vera, die die Sachen aus dem Kühlschrank holte. »Das ist Maries Verdienst«, sagte Vera und schob die Kühlschranktür mit dem Fuß zu. »Ich würde gerne ein paar Worte mit Marie sprechen, wenn es geht.« »Das mußt du Marie fragen«, sagte Vera und reichte ihrer jüngeren Schwester eine Tortenschachtel. »Raus mit euch, damit ich den Boden kehren kann.« Sie scheuchte sie mit dem Besen hinaus und schloß die Küchentür.
Marie gab Anna den Autoschlüssel. »Fahr du. Ich kann nicht mehr.« Sie schlossen das Gemeindehaus ab und warfen den Schlüssel in den Briefkasten. Die Sonne ging bald unter, die letzten Strahlen lagen noch warm und weich über dem See wie eine Schmusekatze. Ihre Schritte knarrten im Kies, als sie mit den Platten und Tortenhebern, die Karin zurückhaben wollte, zum Auto gingen. »Was wollte Mama von dir?« Marie stellte die Tüten ab und streckte sich. »Sie hat sich für die Hilfe bedankt und sich für ihr dummes Benehmen entschuldigt.«
»Ist das wahr?!« Marie holte Luft, um zu antworten, überlegte es sich anders und nickte nur. »Hast du gewußt, daß Karin den Hof verkaufen will?« fragte sie, als sie im Auto saßen. »Sie hat es ein paarmal erwähnt, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie es ernst meint.« »Mir hat sie die gleiche Frage gestellt.« »Welche Frage?« »Ob ich es wirklich ernst meine ...«
Anna parkte das Auto auf dem Platz vor dem Haus, wo die Verwandten ihre Autos in ordentlichen Reihen aufgestellt hatten. Es war dunkel geworden, als sie zurückfuhren, und hinter den gelben Fenstern des Hauses bewegten sich die schwarzgekleideten Gäste wie Pupillen von Raubkatzen. Die warten auf uns, dachte Anna und schloß die Augen. Sie spürte, wie Marie ihre Hand nahm und sie vorsichtig öffnete, um ihre hineinlegen zu können. Anna betete, daß sie sich traute, das anzunehmen, was Marie ihr gab, ohne Angst, es könnte aufhören oder ihr weggenommen werden. Sie blieben im Auto sitzen und hielten sich an den Händen. Eigentlich ist es ganz einfach, dachte Marie, und vielleicht deshalb so schwer. Wenn alles andere abfällt, ist das einzig Wirkliche – Liebe, und das einzig Vernünftige ist – sie zu lieben.
ÜberSie zu lieben
Die mitreißende Geschichte einer Beziehung, die verdeutlicht, dass Liebe auch Arbeit sein kann. Das Pärchen Anna und Marie leben bereits seit einigen Jahren in einer gemeinsamen Wohnung. Doch die Verliebtheitsphase haben sie bereits hinter sich gelassen. Als Anna aus beruflichen Gründen für einen Monat nach Griechenland reist und sie gemeinsam mit Marie beschließt, diese Zeit als Beziehungspause zu nutzen, wird den beiden bewusst, was das Problem an der Beziehung ist ...