Was ist Harmonie? Katrin Trautwein
Alle Rechte vorbehalten. November 2011
Ästhetische Wohnräume sind solche, deren Erscheinung »schön« ist. Die Proportionen stimmen, die Objekte wirken ansprechend und geordnet, das Licht weich und angemessen, das Farbkonzept harmonisch. Diese letzte Anforderung interessiert uns besonders. Auf der Suche nach allgemeinen Anleitungen für harmonische Farbkonzepte für Wohnräume bemühte ich mich zuerst um die Klärung einiger Begriffe. Ästhetisch, ansprechend, angemessen, harmonisch, schön? Die Ergebnisse der Suche nach verständlichen Anleitungen für »Harmonie« sind schnell zusammengefasst. Die alten Griechen sahen Harmonie als die Vereinigung des Gegensätzlichen zu einem Ganzen. Für Leibnitz (1646-1716) war Harmonie das im Voraus angelegte, verbindende Prinzip. Perfektion ging aus Harmonie hervor und Harmonie war die von Gott angelegte Einheit in der Vielfalt. Farbentheorien begnügen sich meist mit Harmoniedefinitionen, die aus Kontrastregeln hervorgehen. Komplementärkontraste wirken harmonisch: rot-grün, gelb-violett, blau-orange. Drei nebeneinanderliegende Farben im Farbenkreis wirken harmonisch: gelb-orange-rot, grüncitron-gelb. Wilhelm Ostwald stellte 1912 fest, dass gebrochene (daher ergraute und getrübte) Farben prinzipiell miteinander harmonieren. Die Harmonie der Architektur von Frank Lloyd Wright (1867-1959) ging aus der Korrelation von Natur, Topografie und Architektur hervor. Seine Farben spiegeln die der umliegenden Natur. Le Corbusier schliesslich berief sich auf die „ewiggültigen“ Farben und Formen der Natur, denn sie sind harmonisch. Warum das so ist, schrieb er, müsse ein anderer erklären. Keine dieser Antworten reicht für die Ausarbeitung von harmonischen Farbkonzepten aus. Man bräuchte einen Satz von Farben und Anwendungsregeln, die Schönheit und Harmonie garantieren. Das bieten sie nicht oder in beschränktem Umfang. Von Leibnitz bis zu Le Corbusier berufen sich aber alle auf irgendeine Weise auf die Gesetzmässigkeiten der Natur. Dort setzen wir an. Unsere Erfahrung in der Farbenherstellung hat uns Mal für Mal gezeigt, dass Farben aus Naturerden eine andere Wirkung im Raum entfalten als ähnlich oder gleich nuancierte Farben aus synthetisch hergestellten Pigmenten. Was aber unterscheidet die rote Farbe aus einer Naturerde von der nachgemischten Farbe aus einem synthetischen Mineralpigment?
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Was ist Harmonie? Katrin Trautwein
Alle Rechte vorbehalten. November 2011
Unsere Analysen ergaben, dass die Farben der Natur 1. sich aus einem Mosaik verschiedener Nuancen zusammensetzen 2. ihre Gegenfarbe enthalten 3. niemals rein sind. Da die rote Blüte aus einem grünen Kern erwächst, der graue Stein aus dem schieferschwarzen und das Grün des Grases aus dem zartweissen, kupfrig-schimmernden Halm, sind die Farben der Natur facettenreich und dialogfähig. Sie greifen die Farben ihrer Nachbarschaft auf und wirken untereinander zusammengehörig. Reine Farben sprengen diese Zusammengehörigkeit. Jede reine Farbe, egal ob weiss, grün, pink oder rot, wirkt künstlich und aufdringlich, wohl weil sie keinem natürlichen Vorbild entspricht. Das den Naturfarben gegebene Prinzip der differenzierten, aus der Vielfarbigkeit folgenden, visuellen Dialogfähigkeit ist ein verbindendes Prinzip. Es macht sie im Leibniz’schen Sinne untereinander harmonisch. Im Bild: die 200-fache Vergrösserung einer grünen Farboberfläche von ca. 1930. Die Farbe wirkt natürlich. Die Farbkonzepte bzw. die Kompositionen der Natur gehorchen ebenfalls einer gewissen Logik. 1. Sie enthalten flächenmässig wenig der kräftigsten Farben wie Rot, Violett und Orange. Denken Sie an Mohnfelder, Sonnenuntergänge und Sternenhimmel. 2. Ausgedehnte Farbflächen sind grau, braun, ockerfarbig, grün oder blau. Himmel, Wasser, Wald, Wiese, Erde und Sand breiten sich vor uns aus. Sie sind einladend und vertraut. Am Horizont herrschen blau und grau vor. Die grüne Wiese ist eine graugrüne Wiese, der Nachthimmel ist blaugrau, ebenfalls das Meer. Ausgedehnte Eis- und Schneefelder sind Ausnahmen; sie prüfen die Regel. Wir kommen mit ihnen visuell ohne Schutzbrille nicht zurecht. Die Lagune ist nur lokal Türkis, die Wiese ist immer gesprenkelt und die Wüste warm, grau und braun in ihrer Färbung. Kreidefelsen sind warm und steinig, nicht rein—auch in ihnen finden wir das Naturgrau, das die Augen beruhigt.
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Was ist Harmonie? Katrin Trautwein
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Man muss annehmen, dass unsere Augen sich über Jahrtausende an die zurückgenommene, ineinander fliessende, weder breitflächig farbstarke noch farbreine Gleichgewichte der bewohnbaren Natur gewöhnt haben. Unser Sehvermögen ist darauf abgestimmt. Erschüttern wir unsere Augen nun mit grossen Flächen eines reinen Weisses wie NCS 0500 oder RAL 9010, dann strengen wir sie an. Legen wir eine grosse, farbreine rote Fläche an, dann wirkt sie grell, künstlich und aggressiv. Studien, die Probanden reine rote Farben vorlegten und deren Wirkung prüfen attestieren roten Farben eine aggressive Wirkung. Keine der Studien untersuchte je die Wirkung der naturroten Farbe auf Probanden. Ich möchte den Vorschlag unterbreiten, dass rote Naturfarben warm, erdig und vertrauenserweckend wirken, nicht aber aggressiv. Im Bild: die Vergrösserung der Farboberfläche des facettenreichen Kupfervitriolpigments aus Altea. Aus dem Gesagten lassen sich drei Farbprinzipien der Natur herleiten. Die Dialogfähigkeit der Einzelerscheinung ist das erste. Sie entsteht aus der inneren Komplexität der natürlichen Farbe, die sich stets aus vielen verschiedenen Farben, Formen und Substanzen zusammensetzt. Das vom Licht abhängige, wechselseitige Zusammenspiel der dialogfähigen Farben untereinander ist das zweite. Das bedeutet nichts anderes als, dass jede natürliche Farbfläche irgendetwas in sich tragen wird, das den Dialog mit etwas in der zweiten natürlichen und darum ebenfalls vielseitigen Farbe aufnehmen kann. Das ist das Geheimnis der Wiesenblumen, die immer zueinander en. Drittens stellen sich in den von sanften Farben dominierten Landschaften der Natur wahrnehmbare kompositorische Gleichgewichte ein. Bunte Blüten im grünen Strauch; dumpf neben hell; Tarnfarben, die ein Thema aufgreifen. Die Natur beruht auf Vielfalt. Es gibt keine natürlichen Monokulturen, weder im Einzelnen noch kollektiv. Monokulturen entstehen aus der Unterdrückung der Vielfalt; in der Evolution führen sie zu Tod. Die Abweichung von jedem dieser Prinzipien bringt erhöhte Kontraste und Spannung mit sich, die Einhaltung bringt Ruhe und das Gefühl von Harmonie. Solch eine Referenzierung unserer Farbwahrnehmung auf die Farben und Grundgesetze natürlicher Farbkombinationen lässt sich physiologisch, materiell und evolutionär erklären. Sie liefert uns eine Palette von Farben und Leitlinien für ihre Anwendung, die ihre Wirkung nicht verfehlen.
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