Filme zum Lesen, Nr. 1 Herausgeber der Reihe: Andre Kagelmann und Reinhold Keiner
Produktion: 2012 MEDIA Net-Edition, Kassel Copyright © 2012 by MEDIA Net-Kassel www.medianet-edition.de www.facebook.com/medianet.edition Titelgestaltung und E-Book-Herstellung: Silke Rappelt, www.srappelt.de ISBN: 978-3-939988-13-7
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort der Herausgeber
2. Die Halbstarken. Ein packender Zeitroman
3. Bildteil
4. Will Tremper – Biografische Notiz
5. Drehbuchauszüge
6. Bildnachweis
Vorwort der Herausgeber
Die Halbstarken
Wir befinden uns in der Zeit des Wirtschaftswunders, ganz Deutschland (ganz Deutschland?) ist von dem Gedanken an ökonomischen Erfolg beherrscht: Wohlstandsorientierung wird zum gesellschaftlichen Leitbild, man will die Schrecken von Naziherrschaft und Zweitem Weltkrieg vergessen und sich etwas leisten können, und dafür ist man bereit, hart und viel zu arbeiten. Ziel dieser Anstrengungen ist die Familie, die noch unangefochten und autoritär vom Vater geführt wird: Gehorsam, Ordnung und Disziplin sind die selbstverständlichen Sekundärtugenden, die den Kindern und Jugendlichen abverlangt werden. Politisch ist das noch im Wiederaufbau befindliche Land fest in der Hand Konrad Adenauers. Als Stichworte sollen hier Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland (Nato-Beitritt sowie Gründung der Bundeswehr), Anwerbung von Gastarbeitern und Kalter Krieg genügen.
Allerdings wird gegen die verkrustete Gesellschaft auch Protest seitens der Jugend laut, die den Rock ‘n‘ Roll als Medium der Rebellion für sich entdeckt. Insbesondere Elvis Presley, aber auch Chuck Berry und Little Richard, oder dann Peter Kraus und Ted Herold sind die Helden einer neuen, körperbetonten und wilden Musik, die – so wie sich das noch immer gehört hat – von den Eltern als minderwertig abgetan wird: Nur so macht Rebellion schließlich Spaß...
Neben die musikalischen treten v.a. auch Kinohelden, sie heißen Marlon Brando und James Dean. In Filmen wie Denn sie wissen nicht, was sie tun (Rebel Without a Cause, Nicholas Ray 1955) oder Die Saat der Gewalt (Blackboard Jungle, Richard Brooks 1955) werden diese Leinwandrebellen zu Vorbildern für viele junge Männer. Für die Frauen sind Marylin Monroe und Brigitte Bardot Stilikonen: Natürlich findet die Auflehnung gegen das prüde
Nachkriegsdeutschland auch in der Mode ihren Ausdruck, Blue Jeans und Lederjacken sowie Petticoats sorgen für große Augen bei der Elterngeneration; insbesondere ruft ein freizügigeres Körperkonzept konservative Kritiker auf den Plan. Und wie auch in der Musik zieht im Kino der American Way of Life die Jugendlichen magisch an – ein Grund mehr für die Eltern, die neue transnationale Jugendkultur zu beargwöhnen. Das alte Lied vom Niedergang der Kultur wird eben in jeder Generation von neuem angestimmt. Dazu t dann auch ein moderner flapsiger Jugendjargon, der bildungsbürgerlichen Sprachpflegern ein Dorn im Auge ist. Freilich dauert es andererseits nicht lange, bis diese Jugendkultur als Wirtschaftsfaktor identifiziert wird und man Musik und Film kommerziell verwässert; auch diese Geschichte ist nicht neu…
Georg Tresslers (1917-2007) Klassiker Die Halbstarken aus dem Jahr 1956, dessen Drehbuch er zusammen mit Will Tremper (1928-1998) schrieb, trägt den zeitgenössischen Schmähbegriff für die aufsässige Jugend im Titel. Wir begegnen den als Typen gezeichneten Jugendlichen und ihrem charismatischgroßspurigen Anführer Freddy Borchert zunächst im Hallenbad (siehe Drehbuchauszug, ab Einstellung 5), wo sie noch kindlich-verspielt gestohlene Uhren darauf testen, ob sie wasserfest sind. Hier treffen sich auch der vom Vater aus dem Haus geworfene Freddy und sein Bruder Jan wieder; die anschließende Schlägerei mit zwei Bademeistern lässt sich noch als jugendlicher Übermut abtun. Der Ernst der Lage wird aber spätestens deutlich, als Freddy eine Pistole kauft (siehe Drehbuchauszug, Einstellung 174). Das Geschehen eskaliert dann nach dem misslungenen Überfall auf ein Postauto, weil in der Jugendbande Hierarchiekämpfe ausbrechen, die Freddy, der wie ein waidwundes Tier reagiert, nur noch schwerlich kontrollieren kann. Das erkennt auch Freddys intrigante »Braut« Sissy Bohl, die nun auf Jan setzt, der sich als nüchterner Entscheider präsentiert hat (siehe Drehbuchauszug, Einstellung 455). Von ihr geht die in die Katastrophe führende Idee aus, das Haus des italienischen Barbesitzers Garezzo auszurauben; noch dazu hetzt Sissy die Brüder gegeneinander auf. Während des Einbruchs kommt es schließlich zum Konflikt zwischen Sissy und Freddy, in dessen Folge Sissy sowohl auf den Vater des Hausbesitzers als auch auf Freddy schießt. Die Szene endet mit dem Eintreffen der Polizei. – Im Drehbuch sah das übrigens noch etwas anders aus… (siehe Drehbuchauszug, Einstellungen 542 bis 544).
In diese Kriminalhandlung sind zwei Beziehungsdramen eingelassen: Das erste spielt sich zwischen Freddy und seinem ‚schwachen‘ Vater ab, einem frustrierten Kriegsheimkehrer, der durch eine Bürgschaft verschuldet ist und dem es so verwehrt bleibt, am Wirtschaftswunder zu partizipieren. Seinen Frust lässt er zunächst an Freddy aus, später auch an Jan, so dass die Familie zerrüttet wird. Das Filmende deutet, übrigens weniger deutlich als das Drehbuch (siehe Drehbuchauszug, Einstellung 549), dann eine mögliche Versöhnung in diesem Generationenkonflikt, bei dem der Krieg als Politikum noch keine Rolle spielt, zumindest an. Ein zweites Beziehungsdrama spielt sich zwischen Freddy und Sissy ab, die sich von ihrem Freund einen möglichst schnellen sozialen Aufstieg erhofft; dazu sind ihr alle Mittel recht. So entpuppt sich das berechnende Mädchen auch als eigentlicher Motor der Eskalation, zumal sie Freddy mehr oder weniger kontrolliert; im Roman heißt es: »Er verfiel ihr immer mehr. Mit ihren erhöhten Ansprüchen wuchsen sein Wagemut und sein rücksichtloses Vorgehen.« Innerhalb dieser beiden Beziehungskomplexe ist zudem das Verhältnis der Brüder Freddy und Jan zu verorten, weil Jan nicht nur Freddys Position in den Konflikten mit dem Vater einnimmt, sondern auch, weil Jan von Sissy nach dem gescheiterten Postraub als Freddy-Ersatz ins Auge gefasst wird. Die Erzählung deutet eine Dreiecksgeschichte inklusive wechselseitiger Eifersucht aber schon früher an.
Die Halbstarken zielt zwar in der Organisation der Rezeption auf die viel diskutierte Jugendbewegung in den 1950er Jahren (Stichwort »Halbstarkenkrawalle«) und macht die Rebellion der Jugendlichen gegen die Gesellschaft zum Thema, allerdings steht die kriminelle Energie der Gang im Vordergrund. Es geht dem Film auf der Basis eines Zeitphänomens also darum, eine spannende Geschichte zu erzählen, nicht eigentlich um Zeitdiagnostik. Außerdem bleibt der durchaus reißerische Film seinen amerikanischen Vorbildern verhaftet. Insofern ist die Frage nach der ‚Authentizität’ des Werkes doch sehr eine Frage der Perspektive und kann eher aus heutiger Sicht positiv beantwortet werden. – Im Vorspann heißt es: »Dieser Film berichtet über die Taten einzelner Jugendlicher und ihres kriminellen Anführers, im Zwielicht von Erlebnisdrang und Verbrechen.« Diese zeittypische Berichtfiktion wird zudem pädagogisiert, indem man den Film als »Warnung« verstanden wissen will »für alle jungen Menschen, die in Gefahr sind, auf Abwege zu geraten« (vgl. zu solcher Art expliziter Pädagogik im Hollywoodfilm The Wild One). Freilich hat dies nicht nur mit Erziehung im Medium des Films zu tun, sondern man kann so
unter dem Deckmantel der Warngeschichte auch in einer prüden Zeit relativ explizit eine reißerische und durchaus provokative Story erzählen, die von Auflehnung, Erotik, Gewalt, Sex, Waffen und schnellen Autos handelt (FSK: ab 16 Jahren).
Dieser partielle Aufstand vollzieht sich (noch) unter gesellschaftskonformen Vorzeichen, denn der naive Traum, den die Jugendlichen hier träumen, ist ein kleinbürgerlicher von sozialem Aufstieg und Familienleben (siehe Drehbuchauszug, ab Einstellung 307). Die eigene Kriminalität wird dabei durch das Verhalten der Eliten entschuldigt und zudem ‚pseudosozialdarwinistisch‘ legitimiert, wenn Freddy Jan erklärt: »Sieh‘ mal, mit den Brüdern musst‘e so umgehen, das ist Pädagogik, verstehst‘e? Wenn Du weiterkommen willst im Leben, dann darfst Du Dich nicht unterkriegen lassen. Wenn ich dem nicht auf den Kopf trete, dann tritt er mir auf den Kopf.« – Zehn Jahre später wird sich eine ganz andere Bewegung formieren…
Unter formalen Gesichtspunkten ist es Tressler, der für seinen auch kommerziell erfolgreichen Film 1957 das Filmband in Silber als bester Nachwuchsregisseur gewann, relativ überzeugend gelungen, das Lebensgefühl der Jugendlichen einzufangen. Abgesehen von dem pseudo-pädagogischen Vorspann setzt sein Jugend-, Kriminal- und Berlinfilm in medias res ein und stellt uns die Clique vor. Geschickt nähern wir uns der erzählten Welt aus der Perspektive eines Außenseiters: Zusammen mit Jan werden wir in das Gangleben (wie man heute sagt) rund um Freddy eingeführt. Die Figuren sprechen die Sprache der Zeit, ihr Jargon dynamisiert eine Handlung, die auf einen Samstag in der Großstadt Berlin verdichtet ist.
Der von Wenzel Lüdecke produzierte, nicht immer klischeefreie Schwarzweißfilm kann als temporeich erzählt bezeichnet werden, der Einsatz der Musik ist pointiert. Die modernen Songs charakterisieren den Lebensstil der Jugendlichen, auch wenn sie eher Dixie als Rock ‘n‘ Roll bevorzugen. Symptomatisch steht der Marsch, der versehentlich von den Jugendlichen in der Jukebox angespielt wird, für die Elterngeneration, über die man lacht. Filmisch
sticht besonders die Kameraarbeit von Heinz Pehlke hervor, auch lebt das Werk von seinen guten und gutaussehenden Darstellern, allen voran von Horst Buchholz (1933-2003) und der Laienschauspielerin Karin Baal (*1940).
Die Halbstarken reloaded
Im Jahr 1996 erlebte das Werk eine Renaissance, wurde es doch unter der Regie von Urs Egger neu verfilmt (Produktion: Bernd Eichinger). Der Fernsehfilm orientierte sich aber zu präzise am Original und fand kaum eigene Zugänge zur Thematik. Bei dieser von der Kritik geschmähten Produktion handelt es sich nicht um eine formale oder inhaltliche Aktualisierung, sondern um eine rein auf Unterhaltung zielende nostalgische Hommage. Folgerichtig beginnt das Werk, nach einer cineastischen Verbeugung vor Horst Buchholz, im Kino. Und als Hommage funktioniert der Film gut; dazu trug auch die damals erste Riege deutscher Jungschauspieler bei.
Bemerkenswert sind – neben einigen mehr oder weniger gelungenen kleinen Abweichungen – zwei Veränderungen in der nun in Köln spielenden Handlung: So stirbt die weniger intrigant gezeichnete Sissy im Handgemenge am Ende des Films: »Freddy«, sagt sie, »ich glaube, wir haben verloren.« Dazu kommt die formale Abweichung, dass die Geschichte von zwei Voice-Over-Erzählern aus der Rückschau kommentiert wird, nämlich der toten Sissy und dem ‚halbtoten‘ Freddy, der nach seiner kleinkriminellen Karriere tatsächlich als Briefträger bei der Post angeheuert hat und dessen Träume im Spießertum untergegangen sind.
Die Halbstarken. Ein packender Zeitroman
Will Trempers Erzählung Die Halbstarken aus dem Jahr 1956 liegt dem Drehbuch zugrunde. Es gibt große Gemeinsamkeiten zwischen Erzählung, Drehbuch und Film; einige der Unterschiede sind schon durch die
Drehbuchauszüge aufgezeigt. Auch nimmt der Film deutlicher als der Roman den pädagogischen Warntopos an einigen Stellen im Erzählerkommentar auf und legt Wert auf eine Wandlung der Mitglieder der Gang. So zeigt am Ende der Handlung auch Freddy deutlich Reue: »‘Das…, das wollte ich nicht…, das… nicht…‘, würgt er mühsam hervor.«
Formal handelt es sich um ein Produkt der Arbeit im Medienverbund, das mit Szenenphotos aus dem Film in der Reihe Der bunte TOXI Film-Roman im Langhelm-Verlag (Hannover) veröffentlicht wurde. Der Roman ist (auch im Vergleich zum Film) konventionell strukturiert, aber handwerklich solide gearbeitet und ebenfalls temporeich. Besonderes Augenmerk wird auf die erzählte Zeit gelegt, gliedern doch 28 exakte Zeitaufrufe (von 15.22 bis 2.05 Uhr) den Text (bei dem man besser von einer Erzählung als von einem Roman spricht). Ähnlich wie den Film zeichnet den »Zeitroman« eine große Dynamik aus, die auch durch die Sprache erzeugt wird: Das Werk entfaltet sich aus einer Mixtur von im Stil einer Reportage berichtender Erzählerrede und von am Jugendjargon orientierten Figurendialogen. (Störend nimmt sich für den heutigen Leser allerdings die lautsprachliche Nachbildung der Rede nichtmuttersprachlicher Figuren aus.)
Die Halbstarken ist der erste Titel in der neuen E-Book-Reihe Filme zum Lesen, die es sich zur Aufgabe macht, literarische Werke, die Filmklassikern zugrundeliegen, in Form eines neuen Mediums wieder in den Blick zu nehmen. Das E-Book folgt dem ungekürzten Text der Erstausgabe von 1956, die in der Reihe Der bunte TOXI Film-Roman im Langhelm-Verlag (Hannover) erschienen ist. Der Text wurde behutsam der aktuellen Rechtschreibung anget.
Einen guten Überblick über den Kontext von Die Halbstarken bietet der Aufsatz von Jürgen Felix: Rebellische Jugend. Die „Halbstarken“-Filme: Vorbilder und Nachbildungen. In: Schauding, Michael (Hrsg.): Positionen deutscher Filmgeschichte. 100 Jahre Kinematografie: Strukturen, Diskurse, Kontexte. München: Diskurs-Film-Verlag: 1996. (Diskurs Film. 8.) S. 309-328.
Die Halbstarken. Ein packender Zeitroman
15 Uhr 22
Freddy blickt noch einmal zum Eingang des Hallenbades zurück. Die anderen sind stehengeblieben. Ihre Gesichter verraten keine Angst. Sie schauen nicht zum Eingang zurück. Sie sehen ihren siebzehnjährigen Boss an. Und Freddy grinst ... »Meine Herren – Uhrenvergleich!« Die nackten schmächtigen Arme fliegen hoch. Die goldenen Armbanduhren blitzen im Nachmittagssonnenlicht, das schräg durch die hohen Glaswände des Hallenbades fällt. »Tauchprobe, Leute!« Meterhoch spritzt das grünschimmernde Wasser, als sie sich lässig über die Schulter in das Becken kippen lassen. Das Hallenbad dröhnt vom Geschrei. Die klaren Linien des Bassins fließen ineinander. Sechshundert Halbwüchsige, Jungen und Mädchen, haben ihr Samstagnachmittags-Vergnügen. Und niemand achtet auf die beiden Polizisten, die am Eingang erscheinen und resignierend das Gewimmel der Badehosen und nackten Leiber betrachten. »Zwecklos ...«, sagt der Hauptwachtmeister und winkt dem Kollegen zu. Über Sprechfunk meldet der Funkwagen: »Verfolgung der Täter ergebnislos abgebrochen.« »Meine steht schon!«, kräht Wölfi, der Knirps, und schüttelt seine Armbanduhr. Spuckend und prustend taucht Freddy auf. »Was ...? Ich hab‘ noch nie Ramsch geklaut – musst‘ Dir mal merken!« Und er taucht den kleinen rothaarigen Kopf unter das Wasser, bis Wölfi blaurot im Gesicht das Weite sucht.
»Mann!« Willi lacht sich kaputt. »Das Gesicht von dem Alten, als die Schaufensterscheibe ‘runterkam – der dachte, die Russen kommen!« Wassertretend halten sie ein großes Palaver ab. Mädchen kreischen, und plötzlich treibt ein schmales gelbes Stück Stoff, das für zweiteilige Badeanzüge nun einmal unerlässlich ist, auf den Wellen. Das »Huch!« und »Hach!« und Rufen nach dem Bademeister geht im Toben und Kreischen völlig unter. Freddy droht spöttisch mit dem Zeigefinger. »Mario, benimm Dich, oder Du musst nach Hause und die Lateinarbeit machen ...« Lachend treiben sie auf dem Rücken um Freddy. Mario und Willi und, vorsichtig Abstand haltend, Wölfi. Mario, der schlanke Primaner, der Phantasievolle mit dem hübschen Römerkopf, der gar nicht in die Bande t; Sohn reicher Eltern und von Freddy um sein sorgenloses Elternhaus heimlich beneidet. Willi, der Fleischergeselle, der Muskelprotz mit der Krawallstimme und dem ewigen Kaugummi; der ohne viel nachzudenken alles tut, was Freddy befiehlt. Und der rotznäsige Rotschopf Wölfi mit den sehnigen Drahtbeinen, für den Freddy der Abgott ist. Sie treiben um Freddy herum und lassen den »Boss« nicht aus den Augen, bereit, auf das kleinste Zeichen von ihm zu reagieren. Sie haben ihre »großen Vorbilder« in Filmen gut studiert. Zu gut studiert. Doch Freddy hasst in diesem Augenblick ihre nervöse, ständig lauernde Aufmerksamkeit. Er wühlt sich in das grüne Chlorwasser, schlägt weiße Wellen und sucht sehnsüchtig nach Sissy. Sissy liegt drüben auf dem warmen, trockenen Marmorpodest, unter dem die Heizungsröhren laufen. Sie liegt auf dem Rücken und schaut seit fünf Minuten Spinnen zu, die in der obersten Ecke des schrägen Daches ihre Netze ziehen. Oder schläft sie? Freddy presst die Lippen zusammen und wirft sich wieder auf den Rücken. Das macht sie aus Gemeinheit, die dämliche Gans. Dabei hat sie uns genau gesehen, schon beim Reinkommen. Das ist so ihre Art. Und so etwas liebt man. Wegen der stellt man alles an. Was soll ich denn noch tun? Verdammtes Biest. Möchte mal wissen, was sie gesagt hätte, wenn die Polente hier aufgetaucht wäre. Ob sie dann auch noch so stur an die Decke gelinst hätte? Dann hätt‘ sie vielleicht Augen gemacht, Mann! Die Polizisten waren aber auch zu blöde. Die waren
doch dicht hinter uns her. Möchte wetten, dass die uns gesehen haben, wie wir ins Bad geflitzt sind. »Jan ...!« Jan. Der Schrei ist Freddy im Moment des Erkennens einfach so herausgeschlüpft. Jan. Das ist tatsächlich Jan. Er richtet sich auf und winkt. Die anderen werden aufmerksam und winken ebenfalls. Schon brüllen Mario und Willi mit: »Jan!« Freddy sieht sie wütend an. Sie wissen gar nicht, wem sie zubrüllen. Idioten. Er beeilt sich plötzlich, krault auf den Beckenrand los. Die anderen hinter ihm her. Der blonde Junge auf dem Sprungturm blickt noch ein bisschen unsicher auf die Korona hinunter, die jetzt so eilig auf ihn zu schwimmt. Dann beeilt auch er sich, vom Sprungturm herunterzukommen. Am Fuß der Leiter treffen sie sich. »Tach ...!« Schämt sich Freddy der Wiedersehensfreude? Er klatscht Jan links und rechts auf die Schultern. »Mensch, Jan ...« »Tach, Freddy«, nickt Jan. Er ist offensichtlich verlegen. Sie schauen sich an. Sie schlagen sich wieder auf die Schultern. Sie drücken sich die Hände und wischen sich über die Gesichter. »Verdammt!«, sagt Freddy. »Ist das komisch!«, und ehe Jan eine Antwort findet, stößt Freddy ihn wieder an: »Biste allein? ... Oder ist‘s Dir peinlich?« »Warum ... nee.« Da sind auch schon die anderen. »Mein Bruder!«, stellt Freddy vor. »Jan ... mein Bruder. Ist das vielleicht komisch?«
Sie nicken und drücken Jan kräftig die Hand. Sie tun erfreut und sind erstaunt. Das ist Freddys Bruder? Der? Seit wann hat Freddy eigentlich ‘n Bruder? »Nu steht man hier nicht so ‘rum«, lärmt Freddy aufgekratzt, »nachher denken die noch, wir sind vom Fachverband für Uhrenhändler ...!« Er zieht Jan mit sich. »Was machsten so? ... Komm, wir legen uns ‘n bisschen auf‘n Bauch ... Oder haste Angst?« Jan wehrt verlegen ab. Warum sollte er Angst haben. Fragen stellt der Freddy. Genau noch wie früher, als er noch nicht von Zuhause ausgerückt war. Sie geraten in ein Knäuel laufender Jungen, den Freddy grob auseinandertreibt. »Komm ...!« Die anderen trotten hinterher und durchbohren Jans Rücken mit Blicken. Ziemlich merkwürdig das mit dem Bruder, der sieht so anders aus, ist so ganz anders. Unheimlich. Hoffentlich verschwindet er bald. Da liegt Sissy – blond, jung – 16 Jahre alt. Sie liegt jetzt auf dem Bauch und dreht ihnen den Rücken zu. Einen ganz besonders wohlproportionierten Rücken. Freddy stellt seinen nackten Fuß auf die sanfte Wölbung und wendet sich an Jan. »Kennst Du meine Braut?« Jan schüttelt den Kopf. »Nein ...« »Sissy ist ‘ne Wolke! ... ‘ne Atomwolke! Was, Sissy ...?« Nur Freddy merkt, dass sie ungehalten ist, als sie langsam den Kopf wendet und Jan mustert. »Ich hab‘ Dir was mitgebracht!«, sagt Freddy und stellt Jan vor. Jan fühlt bei diesem merkwürdig langsamen Blick, den das Mädchen hat, eine leise Beklommenheit in sich aufsteigen. Grüngraue, etwas schräg geschnittene Augen von einer Sanftheit, wie Tieraugen sanft sein können – und doch ... »Das soll Dein Bruder sein?« Ihre Stimme klingt rauh und noch ungefestigt. Schon wieder ein Neuer. Kann man denn nie mit Freddy allein sein?
»Gefällt er Dir nicht?« Freddy schlägt einen herausfordernden Ton an. Mit dem Fuß schiebt er Sissy zur Seite, setzt sich und zieht auch seinen Bruder neben sich. Mario und Willi klemmen sich eilfertig neben Sissy und zwinkern ihr zu. Der Bruder! ... Wie findest Du‘n das? Aber Sissy zeigt nicht, was sie denkt. Jans Blick ist an den Armbanduhren hängengeblieben, die Freddy an jedem Handgelenk trägt. Freddy nestelt eine los. Er lacht. »Als ob ich es geahnt hätte, dass ich Dich hier treffe. Hier, nimm die eine ... Oder willste die? Sind alle beide gleich. Siebzehn Steine, wasserdicht, Schweizer Fabrikat – und richtiges Gold. Mann. Die kannste nehmen. Ich schenk‘ sie Dir!« Jan ist ziemlich verdattert. Wieso kann sein Bruder goldene Uhren verschenken? Aber er nimmt sie. »Gold?« Er legt sie um sein Handgelenk. Aber dann weiß er nicht recht … »Die muss doch eine Stange Geld gekostet haben«, meint er. Wölfi prustet los ... Freddy schnellt herum. »Schieb ab!« Er ist böse. Jan gegenüber fühlt er plötzlich, dass ihr »Spaß« diesmal eine kriminelle Seite hatte. »Schieß los und besorg ‘n paar Zigaretten!« Wölfi läuft los. Sissy tut so, als kümmere sie sich nicht um die Jungen. Doch jedes Wort, das gesprochen wird, nimmt sie auf. Unter den halbgesenkten Lidern beobachtet sie alles, besonders diesen Bruder von Freddy. Jan spürt das; es macht ihn unruhig. Er fährt zusammen, als Freddy ihm klatschend auf die Schulter schlägt. »Komm, erzähl mal, was gibt‘s denn Neues so ... Ich meine zu Hause und so ...« »Och, alles okay«, antwortet Jan abwesend und nestelt an der neuen Uhr herum.
»Seit wann denn das? Hat der Alte etwa alles bezahlt?« »Nö ...« Jan fühlt sich unbehaglich bei der Fragerei vor aller Ohren. »So schnell wird er die Fünftausend auch nicht ausspucken können!« »Fünftausend Mark ...?«, fragt Sissy erstaunt dazwischen. Ihr plötzliches Interesse kommt so überraschend, dass alle in schallendes Gelächter ausbrechen. »Das möchteste wissen, Goldstück!« Freddy gibt ihr einen Klaps. »Is aber nichts für kleine Mädchen ... Geh‘ lieber nochmal ins Wasser – heute ist Samstag!« Die Jungen grölen. Sissy erhebt sich beleidigt und geht mit dem hübschen Hinterteil wackelnd zum Bassin. Freddy hat den Blick bemerkt, den Jan ihr nachwirft, und fragt stolz: »Is sie ‘ne Wucht? ... Na, Mann!« Jan bleibt die Antwort schuldig. Mario beugt sich vor und tippt Jan an die Schulter. »Was machst Du heute Abend, Jan? ... Willst Du was Hübsches erleben?« Freddy hebt im Sitzen ein Bein und stößt es Mario ins Kreuz, dass er kopfüber nach vorn fällt und sich stöhnend das Knie reibt, mit dem er auf der Bassinkante aufschlug. »Willst Du was Nettes erleben?«, brüllt Freddy hinterher. Und zeigt schnell an die Stirn. Wölfi kommt zurück und bringt Zigaretten. »Alles Idioten. Alles Idioten!«, erklärt Freddy dem Bruder. »Zigarette?« Jan lehnt verwirrt ab. Er versteht Freddy nicht. Er versteht vor allem die Jungen nicht, die widerstandslos Freddys Ausbrüche hinnehmen. Plötzlich steht ein bulliger, untersetzter Bademeister in Holzpantinen vor ihnen. »Wahnsinnig geworden?«, knurrt der. »Hier wird nicht geraucht. Los, machen Sie die Zigarette aus ...!«
Freddy runzelt die Stirn. Fragend blickt er sich um, sieht von der Zigarette in seiner Hand auf den Bademeister. Dann macht er einen tiefen Lungenzug und bläst den Rauch durch Mund und Nase aus. »Willi, ich glaube, der Herr will was von Dir ...« Prompt erhebt sich Willi in seiner ganzen Größe, reckt den gewaltigen Brustkasten. »Sie stören, Meister!«, grinst er und legt ihm schwer die Hand auf die Schulter. Der Bademeister will die Hand Willis wegschieben, aber die liegt fest wie ein Schraubstock. Wütend geworden stößt er Willi vor die Brust. Das hätte er nicht tun sollen ... Willi trainiert jeden Sonntag in der Schule von Paul Pinnow. Die eingedrückte Nase des Achtzehnjährigen verrät genug. Und die Fäuste Willis arbeiten wie Dreschflegel. Der Bademeister rutscht aus, als ihn der erste Schlag trifft. Fassungslos über so viel Frechheit kniet er vor Willi. Und ringsum lachen einige Dutzend Jungen sachverständig. Im Nu ist der Bademeister wieder auf den Beinen – und liegt schon wieder, ehe er Willi auch nur anfassen kann. Jetzt stellt Willi ihn mit einem Ruck auf die Beine und schlägt ihm einen trockenen Haken in den Magen. Der Schrei des Bademeisters verwandelt sich in ersticktes Japsen. Und dabei spricht Willi unaufhörlich. »Na siehste ..., nu komm ..., mach schon, Du Affenkopp ... geb‘ doch mal die Fäustchen ..., verteidige Dich ..., Du feiges Aas ...« Willi liebt große Reden, während er im Ring steht. Außerhalb der Seile kaut er nur seinen Gummi. Das Johlen der Runde geht in wieherndes Gelächter über. Von weitem ist nur ein festgeschlossener Kreis von Jungen zu sehen. Nur die dabeistehen, sehen, dass hier ein alter Mann fix und fertig gemacht wird. Als es dem Bademeister gelingt, die kurze schwarze Trillerpfeife an die Lippen zu bringen und einen schrillen Pfiff auszustoßen, winkt Freddy Willi zu, der sofort im Gewühl der Zuschauer untertaucht.
Schnell nimmt Freddy seinen erstarrten Bruder und zerrt ihn mit sich. Sie laufen über die Bänke an der Hallenwand zu den Umkleideräumen. Keine Sekunde zu früh, denn jetzt eilt ein wahrer Hüne von Bademeister seinem bedrängten Kollegen zu Hilfe. 15 Uhr 36
Willi rennt als erster wie ein geölter Blitz in die Umkleidekabinen, rafft seine Sachen zusammen, zwängt sich in eine offenstehende Einzelkabine und verriegelt die Tür. Hinter Freddy, Mario und Wölfi ist der große Bademeister her. Sie können gerade ihre Sachen unter den Arm nehmen und hinüber in die DamenUmkleideräume flitzen, als das Geschrei des Bademeisters auch schon die Scheiben erzittern lässt. Da sieht er Willi in verdächtiger Eile und halbangezogen aus der Einzelkabine kommen und stürzt sich auf ihn. »Freddy!!!«, schreit Willi, denn jetzt gerät er ins Gedränge. Er versucht verzweifelt, sich den Bademeister vom Leib zu halten, als Jan mit einem Haufen Jungen angestürmt kommt. Willi liegt leider schon am Boden. Aber Freddy reißt dem großen Bademeister die Holzpantinen von den Füßen und schlägt wie ein Berserker auf ihn los. Plötzlich ist auch der erste Bademeister wieder da, der kleine Bullige. Er wirft sich Freddy in den Rücken und bringt ihn zu Fall. Leider steht er gerade vor Jan, als er das tut. Und der Bruder hält nun nicht mehr länger an sich. Er schlägt zu. In der Hitze des Gefechts fliegt Jan gegen einen eisernen Umkleideschrank und reißt sich die Wange auf. Er hat noch keine große Erfahrung mit Schlägereien, dieser Bruder Jan. Irgendwie gelingt es Freddy und seinen Mannen, dem Getümmel, das sie entfesselt haben, zu entkommen. Die Umkleideräume füllen sich nämlich immer mehr mit Neugierigen, und das hemmt die Bademeister. Das Ende vom Lied ist,
dass die Schaulustigen die Rechnung Freddys bezahlen müssen. Ihre Personalien werden notiert ... 15 Uhr 42
Sie laufen. Sie rennen und springen an den anten vorbei, die am Samstagnachmittag die Geschäftsstraßen füllen. Die Menschen bleiben stehen und sehen ihnen kopfschüttelnd nach. Denn die Jungen laufen im Hemd oder nur in der Hose, die übrigen Kleidungsstücke unter den Arm geklemmt – Freddy sogar nur auf Strümpfen. Aber sie schütteln sich vor Lachen über den Krawall mit den Bademeistern. »Das Wochenende«, brüllt Freddy im Laufen, »fängt gut an!« Er biegt auf ein leeres Ruinengrundstück ab und lässt sich schweratmend auf ein zerbröckeltes Mauerstück fallen. »Los, Leute, macht Euch dünne – Mario, Du kannst zu Hause warten, bis wir Dich abholen, – Willi, mach ‘ne Biege rüber zu Günther und sag ihm Bescheid wegen heute Abend, klar?« »Klar.« Mario und Willi ziehen ab. Jan presst sein Taschentuch gegen die Platzwunde. »Zeig mal her.« Freddy zerrt das Taschentuch herunter und sieht sich den Riss an. »Verdammt ... Guck Dir das an ... Hat Dich ganz schön erwischt, Jungchen!« Jan winkt ungelenk ab. »Halb so wild.« Aber dann platzt er doch heraus: »Ich hab gar nicht verstanden, wieso das plötzlich ‘ne Schlägerei wurde. Ich glaube, dieser Willi, den Du da bei Dir hast, ist ein ziemlich jähzorniger Kerl ...« Freddy hört gar nicht zu. Er ist aufgesprungen und pfeift grell auf zwei Fingern. Dann winkt er. Von der anderen Straßenseite kommt Sissy herüber. Sie sieht in der Bluse mit dem kleinen weißen Kragen noch kindlicher aus als im Bad. Jan vergisst ganz seine Wunde, als er sie sieht.
Sissy läuft die letzten Schritte. »Du bist vielleicht ein Hirsch ...!« Ihre Zurückhaltung scheint ganz verflogen zu sein. Sie fasst Freddy an der Hand. »Ich wusste gar nicht, was ich so schnell machen sollte ... Ihr wart auf einmal wie vom Erdboden verschwunden ...« Zärtlich legt Freddy seinen Arm um das Mädchen und zieht es an sich. Den anderen Arm legt er um Jans Schulter. »Jetzt gehen wir mal in aller Ruhe rüber in meine Tankstelle und flicken Jan wieder zusammen. Wenn Mutter Dich so sieht, trifft sie glatt der Schlag.« Einen Augenblick sagt keiner von den dreien ein Wort. Die Erwähnung der Mutter ist Jan peinlich. Sissy aber beobachtet gespannt, wie die beiden reagieren. »Deine Tankstelle?«, würgt Jan schließlich heraus. »Hab da ‘ne Stellung ..., ruhiger Job ...« weicht Freddy aus. Und geht los, ohne darauf zu achten, ob die anderen mitkommen. 16 Uhr 02
Auf dem abgezäunten Platz neben der modernen Tankstelle stehen Gebrauchtwagen, alte Kisten mit neuem Lack, aufgebockte Lastwagen – und als Schaustück ganz vorn ein Buick, 1952er Modell. Die Weißwandreifen leuchten. Ein Zettel an der Windschutzscheibe: »Neuwertig, 2280 DM.« Freddy bleibt im Vorübergehen davor stehen. »Ist meiner – ab morgen.« Da lacht sein Bruder. Die Reden kennt er noch von früher. Doch Freddy blickt nur auf Sissy, ganz ernst. »Stimmt‘s?«, fragt er. Sissy nickt. »Er ist Deiner, aber ich darf ihn fahren, nicht, Freddy?« »Alles darfst Du. Du darfst sogar mit Jan ins Espresso rübergehen, wenn ich ihn verpflastert hab‘.«
Er grüßt kurz Erich, den Besitzer der Tankstelle, der an einer Zapfsäule arbeitet, stellt ihm seinen Bruder vor. Dann holt er einen Verbandskasten aus dem Büro und klebt ein schmales Heftpflaster über den Riss. »Siehste, so biste direkt ‘n interessanter Mann geworden.« Jan wird etwas rot unter dem Blick Sissys, er ärgert sich darüber, weil die beiden es bemerken. Freddy zieht nur die Mundwinkel herunter. »Na, geh mal los mit Sissy. Ich hab‘ hier noch ‘ne Verabredung mit Theo Krüger, dem ich den Buick abkaufen werde, wenn ...« »Wenn was?«, will Jan wissen. Nachdenklich sieht Freddy den jüngeren Bruder an, abschätzend und prüfend. Doch Jan hat wohl die Prüfung nicht bestanden, denn Freddy meint nur ganz obenhin: »Nur so, ich hab‘ da ein paar Geschäfte laufen. Vielleicht ist es besser –« Er fängt sich schnell und legt eine Hand auf Jans Schulter. »Hör mal zu, Atze, Du musst doch eigentlich jetzt nach Hause, wie?« Jan windet sich. »Eigentlich ... ja –« »Dann mach ma ruhig. Sonst gibt‘s zu Hause doch nur wieder Theater – wegen mir ...« Jan nickt automatisch. Wartet. Dann fragt er zögernd: »Soll ich – soll ich irgendwas bestellen zu Hause, ich meine, Mutter was sagen ...« Freddy dreht sich um und stellt den Verbandskasten wieder in das Fach. »Wenn Du mal Zeit hast, kannste ja wieder hier vorbeikommen. Bin jeden Tag hier«, sagt er über die Schulter hinweg. Jan wartet noch immer. Als von Freddy keine Reaktion mehr kommt, geht er über den knirschenden Kies auf die Straße zurück, tastet im Gehen einmal über das Pflaster an der Wange. Wenn er nur einmal Worte finden würde, denkt er verbissen, die in Freddy eindringen und da ankommen, wo auch Freddy verwundbar sein muss. Er hat seinen älteren Bruder eigentlich nie verstanden. Bewundert hat er ihn manchmal. Manchmal war er von ihm abgestoßen, und dann hat er wieder beinahe Mitleid mit ihm. Mit dem starken, unabhängigen Freddy, der niemals
Hilfe zu brauchen scheint, niemals einen Trost oder Rat annimmt. Jan spürt genau, dass auch er irgendwo eine Stelle haben muss, eine schwache Stelle, die ihn begreiflicher macht. Aber was ist es? »Na, Jan?«, hört er diese rauhe, halbkindliche Stimme neben sich, die so gut zu Sissy t. Jan verlangsamt den Schritt. »Na, Sissy? Ich denke, Sie – ich denke, Du solltest in ein Espresso gehen oder so was.« »Ich kann immer noch machen, was ich will«, antwortet sie. Sie scheint die einzige zu sein, die Freddys Anordnungen nicht zu beachten braucht, die sich nicht wie eine Schachfigur von ihm hin und her schieben lässt. Er bleibt stehen. »Sag mal‘«, forscht er vorsichtig. »Ich hab‘ das alles nicht mitbekommen. Was macht Freddy jetzt für Geschäfte? Ich meine, mit den Uhren und dem Buick und so ...« »Interessiert mich doch nicht«, sagt Sissy leichthin. »Hauptsache ist doch, dass er anschafft. Und das kann er.« Er möchte sich am liebsten ohrfeigen. Er fühlt sich unsicher unter den Blicken von Sissy, weiß nicht recht, was er mit seinen Händen und Füßen anfangen soll. »Was interessiert Dich denn?«, fragt er schließlich. »Zum Beispiel, warum Freddy von zu Hause ausrückte. Hat er mir nie erzählt.« Sie fährt mit ihren Fingerspitzen an Jans Arm hoch und legt den Hemdkragen ordentlich um. »Ich möchte es aber zu gerne mal wissen – Jan ...« Auf der anderen Straßenseite liegt eine kleine Eisdiele, in dessen Schaufenster sich die rote Spirale der großen Schwungscheibe lockend dreht. Sein Blick findet zu Sissy zurück. Ihm wird heiß. Er weiß selbst nicht warum. »Wollen wir ‘n Eis essen, Sissy?« Sissy lächelt ein wenig. »Ich denke, Du musst jetzt nach Hause?«
Jan atmet tief ein. »Komm«, sagt er und steuert sie über den Damm. »Komm, Sissy ...« 16 Uhr 15
Der schneeweiße VW-Bus mit der schrägverlaufenden Aufschrift: EXPRESSREINIGUNG findet vor dem Totoladen gerade noch Platz zum Halten. Ein breitgebauter, gutmütig wirkender Bursche von etwa neunzehn Jahren klettert vom Sitz, schiebt die Kappe in den Nacken, auf der ebenfalls EXPRESSREINIGUNG zu lesen ist. Mitten auf dem Bürgersteig bleibt er wie ein Fels zwischen den anten stehen und zählt seelenruhig ein Bündel Totoscheine durch. Da tritt Willi neben ihn. Seine Kiefern sind ununterbrochen in Bewegung, er kaut mit Hingabe seinen Kaugummi. »Is ja dufte, Kudde«, grient er zufrieden, »dass ich Dich hier treffe, kann ich Dir ja auch schon Bescheid sagen.« Kudde sieht ihn mit dem Blick eines müden Bernhardiners an. »Haste denn das Veilchen her, Mann?« Und er befeuchtet den breiten Daumen an der Unterlippe, zählt weiter an den Scheinen. Das Grienen in Willis Gesicht verklärt sich. Er tastet liebevoll über die dunkel angelaufene Beule unter dem Auge. »Vorhin im Hallenbad. Is ‘n Jammer, dass Du nich bei warst, hättest Du mitmischen müssen, Junge, war eine Wucht ...« Sie verschwinden im Totoladen. Der hagere Junge mit der Phantasieweste und der dicken Brille hinter dem Ladentisch winkt sie heran und ruft über die wartenden Kunden hinweg: »Sie da, kommen Sie schon, junger Sportsfreund, Sie waren ja vorhin schon hier, Sie brauchen nicht noch mal zu warten ...« Kudde ist noch beim Zählen. Verständnislos sieht er sich um und fragt: »Wieso
–« Ein harter Rippenstoß von Willi bringt ihn zum Schweigen. Trotz des Protestgemurmels der wartenden Kunden lässt Günther sich von ihm das Bündel Totoscheine aushändigen. »Was Recht ist, muss Recht bleiben«, erklärt er dabei geziert. Willi beugt sich über den Ladentisch und tippt ihn leicht an. »Hör mal, Günther, schönen Gruß vom Freddy, heute Abend isses soweit.« Günther holt schon Atem zu einer weiteren albernen Bemerkung, von denen er einen unerschöpflichen Vorrat besitzt, da geht ihm erst die Bedeutung der Worte auf. Er lässt die Luft langsam pfeifend wie ein schadhaftes Ventil wieder entweichen. Selbst in Kuddes massigem Gesicht arbeitet es. »Is nich wahr«, sagt er, »is nich wahr.« Und dann schlägt er begeistert mit einer geballten Faust in die Handfläche. »Mann!« 16 Uhr 32
Während sie sich auf ein hell bezogenes Polsterbänkchen niederlassen, Sissys Augen wohlgefällig über die Gäste des halbvollen Lokals schweifen und auf verschiedene Blicke hin ihren an sich schon knapp sitzenden Pullover noch enger zieht, hockt Jan mit zunehmender Verlegenheit neben ihr. Es war das erste Mal, dass er mit einem Mädel in einem Lokal saß. Wenn dieses auch nur so eine Art bessere Eisdiele war, so fühlte er sich doch schon so halb als Mann. Schließlich hatten bisher Mädchen so gut wie noch keine Rollen in seinem jungen Leben gespielt. Sie waren Wesen, die man entweder als dumme Puten abtat oder denen man höchstens verwirrt nachstarrte. Sein Blick streift Sissy, die seinen Blick mehr spürt als richtig wahrnimmt. »Na Du, gefall Dir wohl nicht, was?« Während sie sich wie unabsichtlich gegen seinen Arm lehnt und mit
abschätzenden Augen seine große Verwirrung genießt, reißt er sich zusammen. »Mensch, Sissy, Du willst mich wohl nur hochnehmen. Dass Du mir gefällst, musste wohl schon langsam gemerkt haben, schließlich habe ich ja Augen im Kopp. Freddy ist schon zu beneiden, aber egal, es hat ja alles keinen Zweck ...« »Keinen Zweck? Na, Du bist ja helle! Fängst gleich an mit Zweck und so. Dabei machste den Eindruck wie ein unbescholtenes Bürschchen.« In Jans Ratlosigkeit platzt glücklicherweise der Ober, der die lässig hingeworfene Bestellung von Sissy entgegennimmt. Obwohl sie kaum älter ist als er, imponiert sie ihm doch gewaltig. Kein Mädchen in seiner Nachbarschaft hat dieses propere Auftreten und die lässige Weltgewandtheit, sich in der Öffentlichkeit so sicher zu bewegen. Wie sie mit dem Freddy umging war schon eine Wolke, ganz abgesehen davon, dass natürlich nur der Große so ein Glück entwickeln konnte, um so ein Mädchen zu finden. »Mensch, Du hast aber einen Redefluss«, unterbricht auf einmal Sissy seine Gedankengänge. »Guckst direkt Löcher in die Luft und kümmerst Dich nicht um die Dame, die neben Dir sitzt. Sowas lädt einen nun zum Eis ein.« Sie lächelt ihn an, denn sie weiß seine Verwirrung und stille Bewunderung wohl zu schätzen. Bei Freddy kennt sie so was nicht. Er tanzt wie ein Schmetterling um sie herum und sie muss nur immer dafür sorgen, dass er seinen Honig tröpfchenweise bekommt, sonst meint er ganz und gar, das müsste so sein. Ein bisschen Eifersucht stachelt zu neuer Liebe an und zu neuen Taten. Wie zur Bekräftigung lächelt sie strahlend den Ober an, der mit freundlicher Gelassenheit die Eisbecher auf das Tischchen schiebt. Jan weiß selbst nicht recht, was ihn überkommen hat. Er sieht zu, wie Sissy an dem kleinen Marmortisch ihm gegenüber sitzt und bedächtig mit der Zunge den Eislöffel ausleckt. Wenn er die Ruhe zum Nachdenken haben würde, dann würde er wahrscheinlich zu seiner eigenen Überraschung erkennen, dass er neidisch ist. Auf Freddy, auf dessen Leben sogar. Er hat heute das Mitreißende des Herdentriebes gespürt, der diese Horde um Freddy eint, der ihnen das berauschende Macht- und Kraftgefühl gibt, mit dessen Hilfe sie mühelos alles überspielen und bewältigen, woran sie allein und nur auf sich selbst gestellt zugrunde gegangen wären. Junge Menschen – und nicht nur die – brauchen die stützende und schützende
Wärme einer engen Gemeinschaft: Der Familie. Und wo die Familie diese Wärme nicht geben kann, dort suchen sich diese jungen Menschen eben eine andere Gemeinschaft. Sie alle, die Schwachen, Unbefriedigten, Rastlosen, Unentschlossenen, sie finden sich als Gleichgesinnte zusammen und sind als Masse, als Horde sofort geheilt. Sie fühlen sich endlich stark – und müssen es beweisen. »Sag mal ...« Jan zuckt zusammen. Er hat die ganze Zeit Sissy angestarrt, was ihr überhaupt nichts auszumachen scheint. »Sag mal, Jan, warum ist Freddy von zu Hause weg?« »Er – er hatte immer schon so seine Ideen, weißt Du. Er kam nie gut mit Vater aus. Unsere Mutter wurde nicht mit ihm fertig. Und als dann die Sache mit der Bürgschaft kam, war es ganz aus ...« »Bürgschaft?« Sissy kratzt im leeren Eisbecher herum. »Ja, mein Onkel – also der Bruder meiner Mutter – machte ein Geschäft auf. Um meiner Mutter ‘nen Gefallen zu tun, hat mein Vater die Bürgschaft übernommen, das Geschäft ging pleite, und seitdem muss der Alte monatlich abzahlen. Fast die Hälfte vom Gehalt.« »Und?« »Und seitdem ist er noch strenger und ungerechter und tyrannisiert alle. Freddy hat zu viel gekriegt, hat sich mit ihm geprügelt und ist raus aus‘m Haus. Ich darf seinen Namen zu Hause vor Vater gar nicht mehr erwähnen ...« »Ja, Freddy«, sagt Sissy mit Betonung, »der ist taff. Und Du lässt Dir alles von Deinem Alten gefallen, hm?« Seine Hände verkrampfen sich unwillkürlich. Was sollte er ihr antworten, womit könnte er ihr imponieren? Freddy wüsste eine Antwort, Freddy würde irgendwas lässig hinwerfen – oder nein, er erinnert sich an die Eigenschaft seines Bruders, ungerührt über alles hinwegzugehen, was ihm nicht t, es wegzuschweigen. Darum versucht er es mit einem leichten Lächeln. »Noch ‘n Eis, Sissy?« Sissy
schwankt, dann schüttelt sie die lange blonde Mähne. »Nö, ich hau jetzt ab ins Espresso, Freddy wartet.« »Freddy wartet.« Jan nickt vor sich hin. »Wir dürfen natürlich unseren großen Freddy nicht warten lassen«, murmelt er vor sich hin. Sissy spielt gedankenvoll mit der goldenen Uhr an Jans Handgelenk »Du weißt doch, wie er ist ... Aber lass‘ Dich ruhig wieder mal sehen ...« »Gut, mache ich, Sissy.« Sein Gesicht hellt sich auf. Ein pummliges Mädchen mit viel Babyspeck als Oberweite schiebt ihre beweglichen Hüften in die Eisdiele und späht nach Bekannten aus. »Eh, Sissy!«, ruft sie. »Gaby! Willste mitkommen? Ich geh zu Freddy, is wieder was gefällig, kann ich Dir sagen ...« Sie steht auf, wirft über die Schulter dem Jan ein »Tschüss!« hin und zieht mit Gaby los. 16 Uhr 45
Das riecht direkt nach mittlerem Beamtentum. Eine Altbauwohnung mit hohen, stuckverzierten Decken, etwas zu dunklen Möbeln und geerbtem Plüsch. Sauber und gediegen, doch keine Wohnung, die froh macht und die Menschen frei atmen lässt. Vater Borchert sitzt mit gebeugtem Rücken am Schreibtisch, die Akten türmen sich an seinen Ellenbogen zu Bergen. Nervös spielt er mit dem Bleistift. Er kann nicht weiterarbeiten. Er horcht. Eben hat Jan die Wohnungstür wieder zugeknallt, jetzt geht der Lümmel wieder, ohne sich die Füße abgetreten zu haben, hier in das Wohnzimmer, in dem er arbeiten muss, weil er sich keine Wohnung mit Arbeitszimmer leisten kann, weil er sich blutig schinden muss, weil er so ein Narr war, sich von dem anderen Bruder seiner Frau einwickeln zu lassen ... Mit einem scheuen Seitenblick sieht Jan, wie sein Vater immer mehr dunkelrot im Gesicht anläuft vor unterdrücktem Zorn, wie es sich in ihm zusammenbraut
und gleich wieder explodieren wird. Jan ist sich keiner Schuld bewusst. Er geht in das Schlafzimmer, in dem seine Mutter einer Nachbarin ein Kleid absteckt. Mit der Schneiderei verdient sie immer noch ein paar Pfennige dazu. »Mach die Tür hinter Dir zu, Du Lümmel!«, schreit sein Vater, außer sich vor Wut. Gehorsam schließt Jan die Tür. Die Nachbarin merkt, dass Jan mit seiner Mutter allein sprechen möchte und zieht ihr altes Kleid wieder an. »Ich komme morgen nochmal vorbei, Frau Borchert«, sagt sie und geht hinaus. Kaum ist sie aus der Tür, da sprudelt Jan schon los: »Stell Dir vor, ich hab‘ Freddy getroffen, und er – er lässt Dich schön grüßen! Geht ihm prima, arbeitet bei einer Tankstelle und will sich morgen sogar einen dollen Wagen kaufen, und – und eine Freundin hat er auch, was für eine sogar ...!« Halb ängstlich und halb begeistert folgt seine Mutter diesem Bericht über Freddy. Sie möchte zu gern alles über ihren Großen erzählt bekommen und kann sich dabei doch der panischen Furcht nicht erwehren, die sie immer überfällt, wenn von ihm die Rede ist. Sie hofft das Beste und ist auf das Schlimmste gefasst. »Will denn Freddy nicht endlich –« beginnt sie und wird von einem heiseren Brüllen unterbrochen: »Freddy!« Vater Borchert steht an der Tür und zerbricht bald den Bleistift zwischen den Fingern. »Habe ich Dir nicht verboten, Jan, mit ihm zu verkehren!« »Er ist immerhin mein Bruder, es war auch nur Zufall«, entschuldigt sich Jan schwach. »Er hat für Dich genau so wenig Bruder zu sein, wie er für mich noch Sohn ist, verstanden!« Er geht auf Jan zu, entdeckt das Heftpflaster an der Wange und reißt es mit einem Ruck herunter. »Wahrscheinlich hast Du ihn bei einer Schlägerei oder Messerstecherei getroffen!« »Aber Hans, wie kannst Du. Du darfst doch mit dem Jungen nicht so reden –«
»Ich darf nicht!« Seine Stimme schnappt über. »Ich darf nicht? Aber für Deinen verkommenen Bruder das Geld bezahlen, das er verschludert oder versoffen oder was weiß ich, was er gemacht hat, das darf ich, ja?!« Den Tränen nahe stammelt seine Frau: »Er hat doch nur Pech gehabt, Hans, wirf ihm und mir das doch nicht immer wieder vor.« Doch Vater Borchert wird noch lauter: »Du hast gefälligst auf meiner Seite zu stehen und nicht auch noch Dein Verwandtenpack in Schutz zu nehmen!« »Hans!« Nun kann sich auch Jan nicht länger beherrschen. »Du bist ungerecht, Vater, sieh mal –« »Halt den Mund, verstanden! Seid Ihr denn alle ganz und gar von Gott verlassen? Was? – Du triffst Freddy nicht wieder, auch nicht zufällig, damit basta! Von mir aus soll der Kerl im Rinnstein enden, in der Gosse verkommen und krepieren ...« Jan wird weiß im Gesicht, die erst halb geschlossene Wunde an der Wange tritt umso schärfer hervor. »Und das ist nun mein Vater«, zischt er bitter. »Jawoll!« Vater Borchert schleudert den Bleistift zu Boden. »Und wem das nicht t, kann geh‘n. Sofort! Ich halte hier keinen!« Krachend schließt sich die Schlafzimmertür hinter ihm. Trocken schluchzt Frau Borchert auf und lässt sich auf die Bettkante sinken. »Und alles wegen dem Geld, alles nur wegen dem Geld ...«, würgt sie hervor. »Er geht noch dran kaputt – und ich auch ...« Jan steht vor dem dreiteiligen Frisierspiegel und klebt sich das Heftpflaster wieder über den Riss. Aus den Augenwinkeln hat er die zusammengesunkene Gestalt der Mutter beobachtet. Jetzt betrachtet er sein eigenes Spiegelbild, prüfend. Als hielte er Zwiesprache mit sich selbst. Am liebsten packte er seine Siebensachen zusammen und haute auch ab, aber das wäre für die sowieso kränkliche Mutter wohl der Rest. Schließlich macht sie
sich über Freddy schon genug Sorgen. »Du, Mutter!«, Jans Stimme klingt behutsam und mitfühlend, »meinst Du, dass das jemals noch anders wird, auch wenn das Geld da ist?« Sie blickt kaum aus ihrer versunkenen Haltung auf. »Ach, Jan, durch dieses verfluchte Geld hat er einen ewigen Nagewurm an seinen Nerven, und jede Kleinigkeit kann ihn schon zur Weißglut reizen. Dass er damit unser Familienzusammenleben bis zum Äußersten strapaziert, kommt ihm kaum noch zum Bewusstsein, Du weißt es ja selbst ... Die Summe ist aber so groß, dass wir wohl oder übel noch auf lange unter diesem Alpdruck zu leben haben werden.« Wie recht die Mutter hat, denkt Jan. Seit dieser Bürgschaftssache ist das Wort »Geld« wie ein Stichwort, um den Vater sofort an seine Bürgschaftserklärung zu erinnern, die er für seinen Schwager abgegeben hat und für die ihm noch heute und für lange Zeit seine sauer verdienten Groschen abgezogen werden. Wenn man dem Vater nur helfen könnte. Aber wo soll man das Geld schon hernehmen. Die Mutter schindet sich für fremde Leute ab, und was Übrig bleibt sind doch nur Pfennige. Wie es nur andere machen, geht es ihm durch den Kopf, zum Beispiel Freddy, der mit dem Gelde nur so rumwirft und sich morgen sogar einen großen Straßenkreuzer kauft. Es muss wohl doch so sein, das Geld liegt auf der Straße, für den, der es aufzuheben versteht. So sagte wenigstens Freddy heute, und seine geschäftlichen Erfolge und sein Ansehen, welches er innerhalb der Jungens genoss, schienen ihm nur recht zu geben. »Na, lass man, Mutter«, tröstet er die zarte Gestalt, »es ist noch nicht aller Tage Abend, und vielleicht lässt sich da mal was machen.« Trotz ihrer Sorgen muss die Mutter lächeln. Wie gut sie ihren Jüngsten kennt. Er kann ihren Kummer nicht sehen, ohne zumindest mit Worten ihr Trost zu geben und in seinem jugendlichen Überschwang rosarote Luftschlösser vor ihr aufzubauen. Still streicht sie ihm über den Scheitel und geht nebenan in die Küche. 17 Uhr 06
Es ist alles neu, die Farbe an den Wänden ist kaum trocken. Herr Garezzo ist stolz auf die kleine Espresso-Bar, die heute Abend eröffnet werden soll. Er hat noch tausend Dinge zu tun und weiß nicht, wo ihm der Kopf steht.
Als er mit Paketen beladen die Espresso-Bar betritt, schreckt er verwirrt zurück. An der Theke lümmeln sich ein paar Burschen. Klaus, sein junger Gehilfe, scheint sie zu kennen. Geschäftig eilt Garezzo auf seinen kurzen, dicken Beinchen zur Theke. »Es ist noch nix der Eröffnung, bittä, wenn Sie wollen der Freundlichkeit haben –« Die Worte bleiben ihm im Munde stecken, als sich die angeredeten Burschen stumm zu ihm umwenden. Er begreift. »Ah, Freunde von Klaus von früher, si? Ick seh nischt gern, wenn Klaus macht den Herumtreiber. Er sollen eine gutte Junge werden, versteh‘n?« »Versteh’n«, antwortet Freddy nickend. »Sie können unbesorgt sein, der gutte Jung ist in den besten Händen bei uns, wir sind wie Mutter und Vater zu ihm. Stimmt‘s, mein Sonnenschein?« Klaus, ein junger Kerl, um eine Spur zu modisch gekleidet, macht einen willensschwachen, gequälten Eindruck. Er bleibt die Antwort schuldig. »Seh‘n Sie«, triumphiert Freddy, »alles in bester Ordnung. Wir leeren jetzt alle ein Glas Sekt auf das Wohl unseres lieben Mister Spaghetti hier, okay?« Garezzo glaubt sich verhört zu haben und legt den Kopf schief. »Sekt, bittä?« »Genau.« Das bringt Garezzo zum Schmelzen. »Bene, Klaus, bring‘ den Sekt. Aber nicht lang‘, bittä – wir müssen noch arbeit‘, arbeit‘, arbeit‘ ...« Garezzo zwängt sich mit seinen Paketen in den Raum, der sich hinter der Theke anschließt. Klaus holt zögernd den Sekt und lässt den Korken knallen. In dem Augenblick stürmt von draußen Sissy mit ihren Freundinnen, der pummligen Gaby und der zierlichen, dunklen Lore, herein. Sofort spritzt Willi an das chromblitzende Ungetüm an der Wand, füttert es mit Groschen, bis sich heiße Dixieland-Musik aus der Musicbox über alle ergießt. »Sekt!«, kreischen die Mädchen. »Mann, is das ‘ne Schau!« Willi, Kudde und Günther greifen sich die Mädchen und schwingen sie mit
großer Kraft und gereiftem Könnertum in der Gegend herum. Freddy haut dem kleinen Wölfi eins auf die Finger, als auch er nach einem Sektglas greift. Dann zieht er Klaus beiseite. »Also du kommst. Punkt sieben biste da, Klaus!« Unglücklich zieht Klaus eine weinerliche Fratze. »Siehste doch, Freddy, dass ich nich kann. Heute, wo Eröffnung ist ...« Freddy bleibt kalt. »Scheiß was auf den Laden hier, morgen haste genug Geld, um Dir selber so‘n Laden hinzubau‘n. Sei doch kein Idiot, Mann. Willste hier versauern?« Er macht Garezzo nach. »Arbeit‘, arbeit‘, arbeit‘ ... Du bist doch bescheuert ...« Als Klaus nur stumm und verzweifelt vor sich hinstarrt, während er ein Glas poliert, nimmt Freddy ihm das Glas aus der Hand, schlägt es gegen die Thekenkante, so dass der Stiel mit einem leichten Klick abbricht. »Du kommst, Klaus. Tut mir leid, ich kann aber auf keinen Mann verzichten. Ich müsste sonst mit Dir mal Schlitten fahren – und das willste doch nicht, wie?« Freundlich blickt Freddy ihm ins Gesicht und wendet sich dann den Tanzenden zu. Als Günther mit Sissy vorbeitanzt, packt er sie beim Handgelenk und geht mit ihr in eine Ecke der Bar. Günther schneidet eine übertriebene empörte Fratze und leert dann Freddys Sektglas. »Na, Goldstück, hast Du mit Prillinger geredet?«, fragt Freddy, scheinbar uninteressiert. »Ja, alles okay. Er will sie verkaufen. Ist geschenkt für die fünfzig Mark. Haste noch Sekt?« In Freddy arbeitet ein Gedanke, einer, den er nicht wahrhaben möchte, der jedoch drängt und sich nicht abweisen lässt. Er versucht, einen harmlosen Ton anzuschlagen: »Sag mal, warum bist Du eigentlich vorhin dem Jan nachgelaufen bei der Tankstelle?« Ihre Augen verengen sich. »Biste eifersüchtig?«
»Eifersüchtig? Ich bin doch nicht besengt, hör mal.« Er lacht trocken. »Klar biste eifersüchtig.« Sie stellt das nur so fest. Nicht als Vorwurf oder Spott, nur eine sachliche Feststellung. Freddy zerrt seine Bluejans hoch. «Na und? Hab ich denn ‘n Grund dazu?« »Mit Jan? – Nee Du, wenn schon, denn such ich mir auch ‘n richtigen Mann. Da muss erst mal einer kommen, der Dir über is‘.« »Mensch, Sissy«, – er zieht sie hart an sich und umklammert mit den Händen ihre schmalen Schultern, «ich mach doch den ganzen Käse nur Deinetwegen, für uns beide, weißte. Und wenn Du dann krumme Touren machst mit ‘nem andern, Junge, ich wüsste nich, was dann gefällig wäre. Sieh mal, ich lieb Dich doch, nich?« »Ich Dich ja auch. Haste noch Sekt?« »Morgen, Goldstück, kannste in Sekt baden.« Er reißt sie herum, mischt sich mit ihr unter die Tanzenden, legt eine regelrechte Schaunummer hin. Garezzo steht hinter der Theke und betrachtet den Rummel mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Eine Flasche Sekt war allerdings schon ein verheißungsvoller Anfang, aber wenn er sich die Zigarettenstummel auf dem neuen Bodenbelag ansah ... Unterdessen legt Freddy mit seiner Sissy einen Extratanz auf‘s Parkett, wozu die andere Meute den Takt mit Händeklatschen unterstützt. Er war schon eine Wolke, der Freddy, und neidlos ordnete man sich ihm unter und gönnte ihm seine Vormachtstellung. Mit leuchtenden Augen steht der kleine Wölfi an dem Musikautomaten und drückt auf einen Knopf, wenn die Musik für eine Sekunde ausruhen möchte. Groschen poltern in den Schlitz, Wölfi drückt auf den falschen Knopf – und ein Marsch, die »Alten Kameraden«, ertönt. Erstarrt bleibt alles stehen.
Günther klappt die Hacken zusammen und nimmt Haltung an. Freddy fasst sich an die Stirn: »Das darf ja wohl nicht wahr sein!« Er geht zur Tür. Unter den Klängen des Marsches stampfen alle zur Tür hinaus. Klaus schreit fast hysterisch: »Und wer bezahlt den Sekt?« Freddy dreht sich an der Tür noch einmal um und lacht. »Den setzt Du auf Deinen Anteil von heute Abend. In genau zwei Stunden biste da, Alter!« 18 Uhr 08
Nur nicht zugeben, dass er noch nie eine Pistole in der Hand hielt, denkt Freddy. Wäre ja gelacht. Er hebt die Waffe, zielt und drückt zweimal am Abzug. Beide Schüsse peitschen durch den langgestreckten Gang des Heizungskellers, doch die Flasche auf der Holzkiste bleibt unberührt stehen. »Mist is das Ding«, flucht Freddy, »keine fünf Mark wert.« Hinter ihm taucht der alte Prillinger auf, dessen stets gerötete Augen von einer randlosen Brille verdeckt werden. Er steht mit hängenden Armen da, die Hosenträger halten die Hose viel zu hoch. »Aber das Fräulein Sissy hat gesagt, die is in Ordnung. Hat mich ja selber fünfzig Mark gekostet ...« »Quatsch«, fährt Freddy ihn an. »Die haben Sie 45 aus‘m Landwehrkanal gefischt oder sowas. Mein letztes Angebot –« Hartes, dumpf dröhnendes Pochen schreckt sie auf. Jemand schlägt gegen die Eisentür, die in den Keller hinunterführt. Der alte Prillinger sieht sich um wie eine in die Enge getriebene Ratte. »Nehmen Sie die Wumme und machen Sie sich nicht in die Hosen«, murrt Freddy verächtlich und geht zur Tür. Er hat oft genug gesehen, wie die Helden im Film mit eiskalter Ruhe in solchen Situationen gehandelt haben. Er öffnet die schwere Eisentür und blinzelt in das blendende Tageslicht. Zuerst erkennt er ihn nicht und dann – »Mensch, Jan! Wie kommst Du‘n her, sag ma ...«
»‘tschuldige, Freddy, aber ich muss Dich unbedingt noch sprechen. Ich war in dem Espresso da, und so‘n kleiner Junge hat mir gesagt, wo Du bist.« »Wölfi?« »Weiß ich, wie der heißt.« Freddy legt seinem Bruder die Hand auf den Rücken und steuert ihn den Gang entlang zu der Kiste, auf der die Flasche steht. Prillinger hat sich in die äußersten Winkel der Heizungsanlage verkrochen und rumort dort mit irgendwelchen Geräten. Jan ist wieder aus der Fassung gebracht. Er hat sich auf dem ganzen Weg genau überlegt, was er Freddy sagen muss, er hat ganze Sätze auswendig gewusst – aber hier steht er nun vor ihm und alles ist wie weggeblasen. Die Atmosphäre, das Unverständliche und Ungreifbare, das immer um seinen Bruder liegt, lähmt jede Hirnzelle in ihm. »Na, Jungchen, setz Dich mal und plaudere. Was ‘n los, hm?« Jan druckst entsetzlich herum. »Ich wollte Dich alleine sprechen ... ich brauche – ich brauche nämlich Geld! Freddy ...« »Ach nee.« Freddy macht ein erstauntes Gesicht. Dann bricht er in lautes Lachen aus, als hätte Jan den größten Witz gerissen. »Du brauchst Geld? Keine Hemmungen, Atze. Wie is‘n, reicht ‘n Zwanziger?« Er fischt einen zerknitterten Zwanzigmarkschein aus der Tasche und stopft ihn Jan in die Jackentasche oben hinein. Verlegen windet sich Jan. Alles ist verkorkst, kaum ist er mit Freddy zusammen, schon ist er in der Verteidigung, schon ist er unsicher. Verdammt nochmal, das lag doch nicht nur daran, dass er immer der kleinere, schwächere Bruder war! Jan gibt sich einen Ruck. »Danke, es geht nicht um zwanzig Mark oder so.« Er holt den Schein wieder heraus und gibt ihn Freddy zurück. Prillinger schlurft langsam heran und bleibt in einiger Entfernung misstrauisch stehen. »Ich komme lieber nochmal wieder, wenn wir richtig reden können. Heute Abend vielleicht.« Heute Abend finde ich
vielleicht wieder die Worte, denkt Jan verzweifelt. »Heute Abend habe ich keine Zeit«, antwortet Freddy unkonzentriert. Er ist sich nicht klar, wie er Jan zu nehmen hat. Prillinger schlurft noch näher heran. »Prillinger!« Der alte Mann zuckt zusammen. »Hier, das ist mein Bruder.« »Angenehm.« Prillinger nimmt Anlauf und holt die Pistole wieder aus der Hosentasche. Aus den Augenwinkeln beobachtet Freddy die Reaktion seines Bruders, doch Jan ist nur verblüfft, nicht geängstigt. »Wollen‘se die nu haben oder nich?«, fragt Prillinger fast jammernd. Freddy nimmt ihm die Waffe aus der Hand und zeigt sie Jan. »Schon mal ‘n Eisen in der Hand gehabt, Jan?« Prillinger drängt sich vor. »Schießen Sie doch mal, junger Mann. Ihr Herr Bruder hat es nicht fertiggebracht. Hier, auf die Flasche!« Er weist eifrig auf die Flasche. In Jan überstürzen sich die Gedanken. Einer siegt: Wenn ich treffe, dann habe ich endlich etwas geschafft, was Freddy nicht geschafft hat. »Gib her, Freddy.« Freddy bestimmt den Abstand von der Flasche zu Jan, will ihm noch gute Ratschläge geben, da zuckt schon ein Feuerstrahl aus der Mündung. Die Flasche zersplittert in tausend Scherben. »Gratuliere! Wo hast ‘n das gelernt?« Freddy ist perplex. Der alte Prillinger kichert und reibt sich die Hände. »Von wegen fünf Mark ...« »Haun Sie doch mal ab, Prillinger, gehn Sie Kessel scheuern oder Briketts zählen, ich hab was mit meiner Keule zu bereden.« Unter Gebrabbel verschwindet der Prillinger im Gewirr der Heizungsanlage.
Freddy legt einen Arm um Jans Schulter und forscht: »Also, wie viel und wofür – erzähl mal ...« »Rund dreitausend.« Freddys Gesicht bleibt ausdruckslos. »Und wofür?« »Mutter. Die geht noch ein, wenn Vater die Schulden nicht bald los ist. Es ist kein Leben mehr zu Hause.« Freddy lässt den Arm von der Schulter seines Bruders sinken und wippt auf den Zehenspitzen. »Ach, sieh mal schau, merkste auch schon, dass Vater aber auch jeden fertig macht, Jan? Aber der ist auch so, wenn Geld da is, der ist eben ein Drecksack und bleibt einer. Und nun willst Du, dass ich für ihn die Schulden zahle? Mann, hast Du Nerven ...!« Jan beißt sich auf die Lippen. »Nicht für ihn. Für Mutter.« Freddy wippt immer nervöser. »Stellste Dir denn das vor, sag mal? Dreitausend sind für mich auch ‘ne Stange Geld.« »Sicher ...« Nach einer kurzen Pause fragt Freddy. »Was kannst‘n noch außer schießen?« Die Frage ist ihm sichtlich schwer gefallen, er scheint nicht sehr glücklich dabei zu sein. »Wieso?« Jan ahnt bereits alles, will es nur nicht wahrhaben und möglichst von sich schieben. »Wieso, wieso. Ich werd‘ Dir sagen, wieso. Mir schuldet einer Geld, ja? – Und der zahlt nicht. Da muss ich es mir eben holen, verstehst Du? Frag nicht viel, mach mit, und die dreitausend Eier sind drin für Dich.« Freddy wartet auf keine Antwort, sondern brüllt unvermittelt: »Prillinger!« – eine Kohlenschaufel poltert zu Boden, der alte Prillinger schlurft heran. »Herr Freddy, ich hab‘s überlegt«, sagt Prillinger, »Sie sind ein junger Mensch, der‘s auch nicht so hat wie manch einer. Sagen wir also: Vierzig Mark. Ich geb‘ Ihnen auch noch die Munition zu.«
»Schön, bin ja kein Unmensch.« Freddy verkneift sich ein Grinsen. Er schält vier blaue Scheine von einem kleinen Geldbündel, das er aus der Tasche gezogen hat. Prillinger reißt sie ihm fast aus der Hand. Lockend hält Freddy ihm einen weiteren blauen Zehner vor die Nase. »Können‘se sich noch zuverdienen, Prillinger. Wenn Sie mitspielen.« »Mitspielen?« Misstrauisch wandert sein Blick zwischen Freddy und Jan hin und her. Er bleibt auf dem Zehner kleben. »Was muss ich denn tun?« »Ganz einfach, Väterchen. Nur rumdrehen, nur uns für eine Sekunde den musikalischen Hinterkopf zeigen. Na, ist das was?« Zögernd und ängstlich dreht sich Prillinger um. »Machen‘se mal bloß keine Zicken«, stößt er unsicher hervor. Freddy gibt seinem Bruder den Pistolenlauf in die Hand und deutet stumm mit dem Zeigefinger auf die Stelle hinter dem Ohr des alten Mannes, die Jan mit dem Pistolenkolben treffen soll. »Will nur mal sehn, ob Du Mumm hast«, meint Freddy beiläufig. Und als Jan energisch den Kopf schüttelt, sagt er lauernd: »Und wenn jetzt Sissy Dir zusehn würde, da würdest Du‘s machen, wie?« Er nimmt Jan die Waffe weg und schlägt zu. 18 Uhr 17
Freddy und Jan starren auf die reglose Gestalt des alten Heizers. Freddy atmet schwer. Mit diesem Schlag mit dem Pistolenkolben hat er die Scharte wieder ausgewetzt, die er erlitt, als Jan auf Anhieb die Flasche zersplittern ließ. Freddy ist empfindlich in diesem Punkt, er hat seinen eigenen Ehrenkodex. Sein Bruder schluckt nur. »Wann – ich meine, wie lange wird er denn bewusstlos bleiben?« Unwillkürlich flüstert Jan, als ob sie sich in einem Sterbehaus befinden würden.
»Ein paar Minuten, schätze ich. Musst eben nur wissen, wohin Du schlägt, sonst kann‘s ieren, dass er abkratzt«, erklärt Freddy mit der Miene eines Mediziners. »Hast ... hast Du denn sowas schon öfters ...?« Jan scheut sich, die Frage zu beenden. Ehe sein Bruder darauf antworten kann, hören sie beide ein Geräusch. Jemand hat leise die Eingangstür zum Heizungskeller geöffnet. Aufgeregt blickt Jan von dem bewusstlos daliegenden Prillinger zur Pistole, die in Freddys Hand baumelt. Er selbst ist zu keiner klaren Überlegung fähig. Freddy jedoch scheint nichts von seiner lässigen Haltung eingebüßt zu haben. Mit schiefgelegtem Kopf lauscht er auf die leichten Schritte, die sich nähern. Dann lächelt er. »Sissy!«, brüllt er, dass es durch die Gänge des Heizungskellers hallt. Aus dem Dunkel taucht in der nächsten Sekunde die erschrockene Sissy auf. »Du sollst Dich nicht immer so ranschleichen. Du gehst mir ganz schön auf die Nerven damit.« Das Mädchen schiebt bloß die Unterlippe vor und deutet auf den alten Prillinger. »Was‘n mit dem los?«, fragt sie mit ihrer rauhen Stimme. »Lass, der is müde«, antwortet Freddy. Als er sieht, wie Sissy seinen Bruder abschätzend aus den Augenwinkeln heraus betrachtet, reißt er sie am Oberarm herum. »Wie isses denn mit‘m Essen?« »Aua! – Halb verbrannt isses, weil Du nich kommst endlich.« »Na gut, brauchst mir ja bloß Bescheid zu sagen.« Er steckt die Pistole ein und geht mit Sissy zum Ausgang. Sein Bruder bleibt zurück. Über die Schulter wirft Freddy ihm zu: »Komm ruhig mit hoch, oder haste was gegen halb verbrannte Kartoffelpuffer?« »Freddy?« Jans Stimme klingt plötzlich ganz kalt. Freddy bleibt verwundert stehen. »Freddy – wolltest Du nicht dem Mann noch zehn Mark geben für das hübsche
Spielchen, das Du mit ihm gespielt hast?« »Hätt‘ ich beinahe vergessen«, murmelt Freddy und grinst schief. Er geht die paar Schritte zurück, stopft dem Prillinger, der sich langsam wieder zu regen beginnt, einen Zwanzig-Mark-Schein in die schlaffe Hand. Kurz treffen sich die Blicke der Brüder. »Sorgen hast Du ...«, sagt Freddy kopfschüttelnd und schiebt Jan nach vorn zum Ausgang. 18 Uhr 26
Jan hat ein hohles Gefühl im Magen. Gewiss nicht aus Hunger. Er hockt auf einem alten Küchenstuhl in der primitiven Ein-Zimmer-Wohnung, die Freddy sich nicht ohne Geschick als Junggesellenbude eingerichtet hat. Er sieht zu Sissy, die auf einem Gaskocher Kartoffelpuffer backt und sich über ihre Mutter aufregt, weil sie ihr heute wieder bei der Wäsche helfen soll, er sieht zu den knalligen Kalender-Schönheiten an den Wänden, er sieht zu Freddy, der mit der Gleichförmigkeit einer Maschine Kartoffelpuffer um Kartoffelpuffer in sich hineinstopft. Er sieht auf seinen eigenen Teller und würgt sich einen Kartoffelpuffer herunter, weil Sissy ihn gebacken hat. Nein, Hunger ist dieses merkwürdige Ziehen in der Magengegend nicht. Es ist nicht einmal so sehr die Aufregung dieses Nachmittages mit der Schlägerei im Hallenbad, der Familienszene mit seinem Vater, die Sache mit Prillinger und der Pistole, nicht die Begegnung mit Sissy – es ist die ängstliche Ahnung und erregende Ungewissheit dessen, was noch kommen wird ... 18 Uhr 40
Ein ganz alltägliches Bild. Niemand dreht sich um nach der Gruppe Jugendlicher, die da die Straße entlangschlendert. Freddy in seinen schwarzen Jeans, der blonde und blassere Jan, Günther mit seiner dicken Brille und großen Schnauze, der bullige Willi mit der Boxernase. Sie vergnügen sich damit, den kleinen Wölfi zu ärgern, der wie ein Foxterrier zwischen ihren Beinen herumwieselt. Wölfi trägt eine moderne, breitgestreifte
Jacke, auf die er mächtig stolz war, als er sich den großen Jungs damit zeigte. Doch unter den Sticheleien und beißenden Bemerkungen ist dieser Stolz rasch geschmolzen, und nun kämpft Wölfi mit den Tränen. »Schieb doch ab, Mann«, rät Freddy schließlich gutmütig. »Wieso denn?«, kräht Wölfi. «Ich denke, ich darf mitmachen?« Die anderen grinsen. »Mitmachen?« Freddy tippt ihm mit dem Zeigefinger hart gegen die von Sommersprossen überzogene Stirn. »Du hast ‘ne Meise, mein Sohn. Mit der Jacke kannste Dich im Raritätenkabinett sehen lassen, aber nich bei uns, klar?« Wölfi wischt sich mit dem Handrücken die Nase blank. Er zwinkert mit den Augen, um die Tränen zu verkneifen. »Schmeiß doch weg, das Ding«, schlägt Günther vor. »Dufte Idee«, findet auch Freddy. Er will sehen, wie weit seine Macht reicht. Der kleine Wölfi kämpft heftig mit einem Entschluss, blickt dabei wie hypnotisiert dem großen Freddy in die Augen. Mit einem Ruck reißt er sich schließlich die Prachtjacke vom Leibe, wirft sie auf die Straße und schleudert sie mit einem Fußtritt weg. Triumphierend will er sich zu Freddy umdrehen, doch da wird er von der harten Hand einer Frau gepackt, die ihm wegen seines empörenden Benehmens Vorwürfe macht. »Mein Junge solltest Du sein, Du Lümmel, was fällt Dir eigentlich ein, Deine schöne Jacke auf die Straße zu werfen, heb sie aber sofort wieder auf, hörst Du, sofort ...!« Freddy schlägt sich auf die Schenkel vor Vergnügen, die anderen brüllen laut los, als sie sehen, wie der nun völlig verwirrte und wütende kleine Wölfi sich aus dem Griff der Frau zu lösen versucht, wie er mit den Füßen gegen ihr Schienbein tritt und zornige Laute ausstößt. Nur Jan findet es nicht so komisch. Er ist nervös und unruhig, möchte am liebsten in der nächsten Sekunde davonstürzen. Doch der Gedanke an das Geld hält ihn zurück. Wenn er ganz ehrlich ist, nicht nur der Gedanke an das Geld, sondern auch ein unleugbarer Kitzel des Abenteuerlichen.
Er bemerkt, wie Günther sich aus der Gruppe löst, langsam zwischen einer Reihe parkender Wagen durchgeht und spielerisch im Vorbeigehen die Türklinke anfasst. Und dann – er begreift kaum, wie das vor sich ging – rollt ein Opel Kapitän rückwärts auf die Fahrbahn, Günther schaltet den ersten Gang ein und fährt vor. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, steigen Freddy und Willi ein. Jan klettert hinterher. Sein Bruder hat einen winzigen Hund auf den Schoß genommen, der ängstlich neben Günther auf dem Sitz hockte. Beruhigend krault Freddy den Hund hinter dem Ohr. »Fahr schon«, wirft er Günther hin. Interessiert sehen die Jungs im Vorbeifahren, wie Wölfi sich immer noch mit der Frau herumschlägt. Die Räder des Opel-Kapitäns rollen über die grellgestreifte Prachtjacke hinweg. Mit einem Tastendruck schaltet Freddy das Autoradio ein, amerikanischer Swing füllt das Wageninnere. Die Jungs räkeln sich behaglich auf den weichen Sitzen. Nur Jan blickt sich ständig um und hält Ausschau nach den Funkwagen der Polizei. Durch den Rückspiegel beobachtet Freddy seinen Bruder. »Reg Dich doch ab, Mann«, sagt er schließlich unwillig. »Aber wir können doch nicht einfach den Wagen klauen«, stößt Jan hervor. Willi reißt die Augen auf: Das ist nun ein Bruder von Freddy, denkt er fassungslos. Günther nickt weise und murmelt: »Ja, ja, diese Jugend ... zs, zs, zs ...« Mit einer Hand steuert er den Wagen durch den Verkehr. Freddy aber dreht sich zu seinem Bruder herum. »Wer sagt denn was von Klauen, hm? Wir stellen den Wagen wieder hin und tanken ihn sogar vorher noch voll, weil wir nette Leute sind. – Hör mal, Jan, Du musst mal Zeitung lesen, bist ja alt genug dazu. Dann wirste aber staunen, sag ich Dir. Die wirklich großen Dinger werden von ganz anderen gedreht. Da lieste was von Polizeipräsidenten, Bürgermeistern und sogar ‘nem Amtsgerichtsrat ... da stehste da und schlackerst nur noch mit‘n Ohren. Dann weißte, was gespielt wird – und wer sich nich ranhält und selber zusieht, wie er weiter kommt ...« Freddy beendet den Satz mit einem Achselzucken.
Sie kommen an einen Platz. Günther, Freddy und Willi recken die Hälse. »Isser doch nich gekommen, der gute Klaus«, stellt Günther mit gespielt bitterer Miene fest. »Dann müssen wir ihn eben holen«, antwortet Freddy ruhig. Günther blickt auf die Uhr und gibt Gas. 19 Uhr 39
Es ekelt Mario eigentlich an, aber jedes Mal, wenn seine Eltern ins Theater oder in die Oper gegangen sind, wenn er also auf ein paar Stunden abends mit dem Hausmädchen Ilse allein ist, dann dauert es nicht lange, bis er doch wieder mit ihr zusammen ist. In ihrem Zimmer, in seinem Zimmer, auf der breiten Couch im Salon – ganz gleich. »Zieh Dich doch an«, sagt er gelangweilt und sieht ungerührt zu, wie sie nach ihren Kleidungsstücken sucht, die sie vorhin auf den Fußboden fallen ließ. Sie ist strohdumm, denkt er, sie hat nicht einmal eine gute Figur. Warum also?, fragt er sich. Und ist zu uninteressiert, um über den Grund näher nachzudenken. Als es am Gartentor unten klingelt, fährt Ilse heftig zusammen. »Die – die Oper kann doch noch nicht aus sein«, stottert sie. Mario seufzt nachsichtig. »Nein. Außerdem haben meine Eltern Schlüssel und klingeln nicht, mein Herzblatt.« Er schwingt sich vom Bett, greift nach seinem Morgenmantel und tritt an das Fenster. Im Dämmerlicht erkennt er die Gestalten am Gartentor. Er reißt das Fenster auf. »Komme sofort, Freddy!« Zwei Minuten später sitzen sie alle im Salon, lümmeln sich in die Polstersessel, spielen mit ihren Gläsern, die Mario ihnen voll Whisky geschenkt hat. In der Mitte steht der fein angezogene Klaus, die Haare in sauberen Wellen nach hinten gekämmt, den Seidenschal um den Hals. Wie ein gehetztes Kaninchen blickt er sich im Kreis um. »Stell Dir vor, Mario«, erklärt Freddy, »unser Kläuschen hier hat ein kurzes Gedächtnis. Vergaß ganz, dass wir verabredet waren. Wir mussten ihn aus einem Bus rausholen, mit dem er in seine Espresso-Bar fahren wollte.«
»Freddy, ich muss aber hin zur Eröffnung ...«, jammert Klaus. »Ich verliere sonst glatt meine Stellung. Ich kann nicht, glaub mir doch ...« »Der kleine Trotzkopf.« Beinahe mitleidig betrachtet Freddy den Klaus. »Soll Willi mal mit Dir ins Nebenzimmer gehen und in aller Ruhe mit Dir darüber reden, ob Du mitmachen kannst oder nicht?« Willi erhebt sich grinsend und schiebt den Kaugummi in die andere Backe. Klaus gehört nicht zu den mutigsten Kerlen, und auch ein nicht so großer Feigling wie er würde bei dem Anblick von Willi klein beigeben. Mit weinerlicher Miene setzt sich Klaus hin und starrt ins Leere. Mario geht nach oben in sein Zimmer, um sich anzuziehen, Günther schaltet den Fernsehapparat ein, Willi beschäftigt sich mit der blitzenden Hausbar. Jan steht schweigend am Fenster. Die Stimme seines Bruders reißt ihn aus dem Nachdenken. »Was‘n los mit Dir, Jan?« Freddy steht dicht neben ihm. »Nichts ...« Jan schluckt. »Nur alles ‘n bisschen komisch, findest Du nicht?« »Zerbrich Dir doch nich den Kopp, lass mich ruhig machen«, sagt Freddy leise und eindringlich. Er sieht sich in dem eleganten Salon um. »Ich werde eines Tages auch so ‘ne Wohnung haben. Alles andere ist Mist. Ich will nich so‘n beschissenes Leben führen wie die anderen alle ...« »Aber doch nicht auf die Art, wie Du es versuchst, Freddy. Du musst eben tüchtig sein –« »Genau!« Freddy lacht kurz auf. »Aber tüchtig sein is was anderes als Du in der Schule lernst, verstehste. Ich drehe noch ein, zwei große Dinger, dann is Feierabend, dann mach ich auf Familie. Und keiner weiß, wie ich es geschafft habe. Nur so kannste zu was kommen, Jan, nur so ...« Stolz erscheint Mario wieder. Er trägt eine knallrote seidig glänzende »Kampfjacke«, in der er sich für den Abend gerüstet fühlt. Freddy lächelt nur. Zwischen ihm und Mario besteht eine Art Abkommen, das niemals klar ausgesprochen wurde: Mario, der Sohn reicher Eltern mit der Hausbar und dem Fernsehapparat und dem ansehnlichen Taschengeld, wird von Freddy zu allen
Aktionen mitgenommen. Und Mario darf in seinem behüteten, reibungslosen Dasein durch Freddy das Abenteuer und den Reiz der Gefahr genießen. »Jan wird am Rande heute mit eingesetzt«, raunt Freddy Mario zu. »Er weiß von nichts, braucht auch nich mehr zu wissen, verstanden?« »Von mir aus.« Freddy verbeugt sich sarkastisch. »Herzlichen Dank für die Erlaubnis. Wie ist das mit dem zweiten Wagen?« Sofort wird Mario unsicher. »Ich weiß nicht, ich glaube, mein Alter hat die Garagenschlüssel mitgenommen ...« »Idiot.« Er blickt auf die Uhr. »Eh, Willi, trink mal nich so hastig, ja? Wir ham noch massig Zeit. Kannste nich ‘n paar Brote besorgen, Mario, sonst sind die Säcke schon besoffen, ehe sie ‘n Grund zum Feiern haben.« Als Ilse wenig später einen großen Teller mit belegten Broten hereinträgt, stürzen sie alle darauf. Auch auf Ilse wollen sie sich stürzen, doch Ilse ist empfindlich und unnahbar. Die Stimmung im Salon ist gereizt. Immer wieder blicken alle verstohlen auf die Uhren und werden erst durch Freddy erlöst, der aufsteht, sich in den Schultern reckt und verkündet: »Auf, Ihr Berber, es geht los. Jan, Dich brauche ich jetzt. Wir können unseren Opel-Kapitän nicht länger behalten, das wird zu brenzlig. Du stellst ihn also irgendwo ab, Jan, und dabei auf, dass der Hund schön drin bleibt, ich will keinen Ärger damit haben. Dann zisch los zur Tankstelle, schönen Gruß an Erich. Du sollst für mich den Buick abholen, weil der Theo ihn heute Nacht noch braucht. Das wird er schon machen. Mit dem Buick fährst Du sofort zu dem Platz, an dem wir vergeblich auf unseren Sportsfreund Klaus hier gewartet haben. Lass den Buick stehen, komm zum alten Bahnhof, wo wir auf Dich warten werden. Du hast dreißig Minuten Zeit. Klar?« 22 Uhr 55
Dunkel und verlassen liegt die Straße neben der Bahnhofsruine da. Das Gerippe der Dachkonstruktion hebt sich gegen den Nachthimmel ab. Am Ende der Straße
quietscht leise eine quer über den Damm gespannte Straßenlampe. Im Schatten der Bahnhofsruine lehnen sich Willi und Günther gegen einen wuchtigen Mauerbrocken. Freddy schleicht auf seinen knöchelhohen BasketballSchuhen vor ihnen wie ein Tiger auf und ab. Mit einem Satz spritzt er an die Mauer, als am Ende der Straße Scheinwerferlicht auftaucht und ein Wagen kurz anhält. Nach dem Geräusch zu urteilen, ist es ein Volkswagen. Funkwagen oder Kuddes VW-Bus? Ein Hupsignal erlöst sie. »Kudde ...« Der VW-Bus rollt weiter. »Wenigstens einer, auf den Verlaß is«, knurrt Freddy. «Er wartet jetzt unter der Hochbahnbrücke. Jetzt muss nur noch Jan –« Wie auf ein Stichwort hin nähern sich eilige, unregelmäßige Schritte. Freddy schlendert seinem Bruder entgegen. »Na, alles okay?« Stumm schwenkt Jan den Wagenschlüssel. »Großartig. Läuft ja bis jetzt alles genau nach Fahrplan.« Jan druckst herum. »Nö, Freddy ...« »Was heißt hier: Nö, Freddy?« »Ich bin eben an Klaus vorbeigefahren. Klaus ist getürmt.« »Verdammt!« Ruhig bleiben, denkt Freddy. Jetzt geht es um Minuten. Minuten noch, dann ist es geschafft. »Hör zu, Jan, dann musst Du es eben machen.«
»Was denn?« »Ganz harmlose Sache, wirst schon sehn. Komm.« 23 Uhr 05
Wenn ich bloß wüsste, was vorgeht, wenn ich bloß wüsste ... In Jan fiebert alles, jeder Nerv ist zum Zerreißen gespannt. Und dann fehlt ihm doch der Mumm, seinen Bruder nach dem Sinn der Aktion zu fragen, weil es vielleicht besser ist, wenn er ihn nicht kennt ... Freddy bleibt in der Nähe des Postamtes stehen, dessen Nebeneingang hell erleuchtet ist. In dem Pförtnerhäuschen am Tor sitzt ein Mann in dunkelblauer Uniform und liest Zeitung. » auf, Atze: Du nimmst hier den Brief und gehst zu dem Heini in der Bude und sagst, der Brief müsste noch unbedingt mit dem Nachtflugzeug weg. Das ist alles, weiter nichts. Danach setzt Du Dich wieder in den Buick und wartest auf die anderen. Okay?« Zögernd nimmt Jan den Brief und betrachtet ihn von allen Seiten. »Ich verstehe nicht ...« »Sollste auch nich.« Jan steht drucksend herum und dreht den Luftpostbrief in seinen Händen. Am liebsten wäre er weit weg. Wie dumm, dass er sich überhaupt in diese Sache eingelassen hat. Wenn er auch von der Aktion nichts genaueres wusste, so ist ihm doch klar, dass Freddy irgendein tolles Ding vorhat. Die Jungens gingen alle wie auf Draht gespannt und schauten nur auf die entschlossene Miene von Freddy. Dieser verteilt jetzt die anderen Jungen auf ihre Posten und schärft ihnen mit leise zischender Stimme die genauen Instruktionen ein. Wie Schemen der Nacht huschen diese aus dem trüben Licht der Straßenlaterne. Alles wirkt wie gespenstisch auf Jan‘s aufgeregtes Gemüt. Ein langgezogener Sirenenton dringt durch die Nacht, aber es ist wohl nur eine Fabrik, die Schichtwechsel bekanntgibt. Sonst liegt große Stille über dem ganzen Stadtviertel, nur von dem vor ihnen liegenden Posthof kommen Geräusche, die
anzeigen, dass dort noch etwas Betrieb ist. Freddy spitzt die Ohren und zieht Jan etwas in den dunklen Schatten zurück. Im Hof des Postamtes setzt sich mit hohem, singenden Ton eines der elektrisch angetriebenen Postautos in Bewegung. Der Pförtner legt die Zeitung weg und öffnet das Tor für das Auto. In diesem Augenblick spürt Jan einen schwachen Stoß im Rücken. »Los, jetzt!«, zischt Freddy ihm zu. 23 Uhr 08
In die Lichtkegel des Postautos gerät die Gestalt eines offensichtlich schwer betrunkenen jungen Mannes. Der junge Mann torkelt direkt auf den Wagen zu. Fluchend versucht der Fahrer auszuweichen, doch das Scheinwerferlicht scheint den Betrunkenen wie magnetisch anzuziehen. Der Fahrer tritt auf die Bremse und beugt sich aus dem Fenster. »He, Sie da, gehn Sie mal nach Hause – runter von der Straße!« Der Betrunkene lallt Unverständliches. Fällt sogar der Länge nach vor dem Auto hin und beginnt ein Lied zu singen, dessen Text nicht für zartbesaitete Ohren ist. Der Fahrer wendet sich ärgerlich an seinen Beifahrer: »Komm, den müssen wir von der Straße befördern, jeden Sonnabend besaufen sich diese jungen Burschen ...« Die beiden Männer klettern von dem hochrädrigen Postauto herunter und gehen zu dem Betrunkenen. Mit zwei, drei Sätzen tauchen Freddy, Mario und Willi aus dem Dunkel der Bahnhofsruine auf und stürzen sich auf die beiden Männer. Auch der betrunkene Günther ist mit einem Schlag nüchtern, reißt den Fahrer zu sich herunter auf das Pflaster und bearbeitet ihn mit Fäusten. Nach der ersten Sekunde der Überraschung fangen sich die Männer und
versuchen die Jungs abzuschütteln. Zwei Jungens nehmen sich den Fahrer vor, der nicht weiß, wie er sich der heftigen Angriffe so schnell erwehren soll. Alles geht so plötzlich vor sich, dass außer dem Stöhnen und unterdrücktem Röcheln kein Ton über die Straße dringt. Geisterhaft muten die kämpfenden Gestalten an. Der Fahrer bricht unter den Fausthieben von Günther und Mario zusammen, doch der etwas stämmigere Beifahrer kann sich Luft verschaffen. Er ist noch jünger und gewandter und bietet dem Willi kein festes Ziel. Im Gegenteil schlägt er kräftig zurück und deckt seinen Rücken am Lastwagen ab, so dass der bullige Willi kaum seiner Herr wird. Hin und her wogt der verzweifelte Kampf, da der Beifahrer merkt, dass es hier um Sein oder Nichtsein geht. Da greift Freddy ein und hetzt die freigewordenen Günther und Mario auf den sich verzweifelt wehrenden Mann. Dieser bricht vorübergehend unter den anspringenden Gestalten zusammen, reißt sich aber nochmals hoch und erkennt die tödliche Gefahr. »Hilfe!«, brüllt er, »Hilfe!« Dann erwischt ihn eine Rechte von Willi voll am Kinn. 23 Uhr 10
Jan tritt der Schweiß auf die Stirn. Er steht mit dem alten Pförtner am Toreingang und drängt ihm den Brief auf. »Nehmen Sie ihn bitte, Sie werden doch dafür sorgen können –« Seine heisere Stimme versagt. Auch er hat die Hilferufe gehört. Der Pförtner achtet nicht auf den Brief. Er hebt den Kopf und lauscht! »Da hat doch wer um Hilfe gerufen!« sagt er beunruhigt. »Nnein, ich habe nichts gehört, Sie müssen sich geirrt haben, bestimmt ...« Beharrlich bleibt der alte Pförtner darauf bestehen.
»Los, laufen Sie hin!«, befiehlt er. »Sie haben jüngere Beine als ich. Ich kann hier nicht weg vom Tor.« Er ist verblüfft, mit welcher Geschwindigkeit dieser junge Kerl losrennt. Aber nicht in die Richtung, aus der die Hilferufe gekommen sind. »He! Nicht doch! Da lang ...« Doch von Jan ist nichts mehr zu sehen. 23 Uhr 11
Sissy liegt hellwach auf dem zum Bett verwandelten Sofa in dem muffigen Wohnzimmer. Nebenan, im Schlafzimmer schläft ihre Mutter. Sie hört die schweren Atemzüge durch die angelehnte Tür. Sie blickt auf die Uhr, deren Zifferblatt sie im schwachen Licht der Straßenlaterne gerade noch erkennen kann. Sie lächelt. Jetzt ist sie reich, denkt sie, jetzt hat sie es geschafft. Sie hat auf Freddy gesetzt, wie man bei einem Rennen auf ein Pferd setzt, von dem man überzeugt ist, dass es siegen und Gewinn bringen wird. Die Jahre sind vorbei, wo sie bei ihrer Mutter um jeden Pfennig betteln musste. Immer schon brannte ihr die Sehnsucht nach Geld und Reichtum in der Seele, sie beneidete jeden Menschen, der nicht wie sie jeden Groschen dreimal umdrehen musste. Alles Glück auf Erden schien ihr mit den Begriffen Geld und Unabhängigkeit verbunden und sie konnte direkt die Leute hassen lernen, denen Reichtum und gutes Leben zur Selbstverständlichkeit geworden waren. Was hatte sie schon als Kind die Armut als brennende Scham empfunden, wenn in der Schule die neuen Bücher angeschafft werden mussten und sie als Kind von armen Eltern die Bücher von der Sozialeinrichtung der Schule gestellt bekam. Immer hieß es, wir können das nicht, wir haben kein Geld! Jeder Wunsch wurde so schon im Keime erstickt. Aus dieser Einstellung heraus war sie glücklich, als sie mit Freddy zusammenkam. Er teilte mit ihr den Drang nach Unabhängigkeit und sorglosem Leben, und wo er in seinen Wegen zum Erfolg zu zimperlich und ängstlich zuwege ging, konnte sie sanft nachhelfen. Er verfiel ihr immer mehr. Mit ihren erhöhten Ansprüchen wuchsen sein Wagemut und
sein rücksichtsloses Vorgehen. Aber jetzt war es geschafft! Ein großer Coup brachte ihnen endlich die Erlösung aus dieser Kleinwirtschaft und den wenig einbringenden GelegenheitsFischzügen. Gewaltsam reißt sie ihre Gedanken von der Vergangenheit los, diese nachsinnenden Rückblicke sind heute falsch am Platze, denn jetzt scheint auch für uns die Sonne. Jetzt kommt es nur noch darauf an, den Gewinn abzuheben. Leise steht sie auf, zieht sich an und verlässt die Wohnung. Das Lächeln bleibt auf ihrem Gesicht, als sie auf die Straße tritt. 23 Uhr 12
Es gibt kaum etwas, was den Fleischergesellen Willi so leicht aus der Fassung bringen kann. Doch das dumpfe Geräusch, mit dem der Beifahrer des Postautos auf das Pflaster aufschlägt, durchzuckt ihn, als hätte er auf einen Nerv im hohlen Zahn gebissen. Günther ist schon auf den Fahrersitz gesprungen und müht sich mit dem Mechanismus des Elektroautos ab. »Ab zur Hochbahnbrücke!«, drängelt Freddy. Willi und Mario rennen los, froh, von hier wegzukommen. Sie hören noch, wie der Elektromotor jault und das Postauto anruckt. Dann verschwinden sie um eine Ecke. Das Postauto kriecht im quälend langsamen Tempo los. Freddy bleibt zurück und sieht nachdenklich auf die beiden bewusstlosen Männer in ihren blauen Uniformen herab. Mit raschen Griffen zieht er dem Fahrer die Jacke aus, nimmt dessen Mütze und läuft dann hinter dem Postauto her. 23 Uhr 15
Das hohe Singen des Elektromotors und das Rasseln der schweren Antriebskette hallt überlaut durch die nachtleeren Straßen. Der ständig zu albernen Witzen aufgelegte Günther hat zum ersten Male seine gute Laune verloren. Er flucht auf den langsamen Karren, hantiert nervös an allen Hebeln und versucht die Geschwindigkeit zu erhöhen. Erleichtert atmet er auf, als die Umrisse des VW-Busses unter der Hochbahnbrücke vor ihm auftauchen, als sich Kudde, Willi und Mario um das Postauto drängen und an der Tür hinten rütteln. Freddy keucht heran und schwingt einen Schlüssel, den er aus der Jackentasche des Fahrers gefischt hat. »Hier, los, macht doch schon, Leute!« Die Tür fliegt auf, die Jungs reißen die schweren Postsäcke aus dem Auto, schleppen sie zu Kuddes VW-Bus, verstauen sie in größter Hast. Mit lautem Knall schlägt Mario die Tür des Postautos wieder zu. Freddy fährt herum und tritt voller Wut Mario gegen die Beine. »Bist Du denn wahnsinnig geworden, so ‘n Krach zu machen, he?« Er wirft Günther die Jacke und Mütze des Fahrers zu. »Mach, Günther, stell die Karre irgendwo hinter dem Postamt ab, dann läufste mit Dampf zum Platz, wo der Buick steht.« »Kudde, ist die Kassette mit im Bus?« Kudde nickt und wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Okay, Willi, Mario, Ihr zieht ab zu Jan. Ganz gleich, was iert, ihr fahrt glatt durch bis zum Badehaus, klar?« Das Postauto setzt sich zuckelnd wieder in Bewegung, Mario und Willi hasten davon. Der dicke Kudde klemmt sich hinter das Steuer seines VW-Busses und drückt auf den Starter. Einmal, zweimal. Nichts rührt sich. Freddys Augen verengen sich zu einem Spalt. »Was is los?« Kudde wuchtet sich wieder aus dem Wagen. »Starterritzel klemmt«, schnauft er.
»Anschieben.« Sie schieben gemeinsam den Wagen hin und her. Dann endlich springt der Wagen an. Sie fahren. Sie fahren! Freddy holt sich eine Zigarette aus der Brusttasche und zündet sie sich an. Interessiert beobachtet er dabei seine Finger, ob sie zittern. Kaum merklich flackert die Flamme des Feuerzeuges. Kommt wahrscheinlich vom Gerenne, denkt Freddy. »Polizei!« Mit einem scharfen Ruck hebt Freddy den Kopf. Tatsächlich, vor ihnen, an einer Kreuzung steht ein Polizist und schwenkt seine Taschenlampe. »Gas?«, fragt Kudde gepresst. »Quatsch. Anhalten.« Freddy holt die Pistole aus der Hosentasche und legt sie auf seinen Schoß. Dicht vor dem Polizisten bleibt der VW-Bus stehen. Sofort ist der Polizist heran. »‘n Abend«, sagt der Polizist kurz. »Hier ist ein Unfall iert, könnten Sie den Verletzten sofort ins Krankenhaus schaffen?« . Freddy steckt die Pistole weg und steigt bereitwilligst aus. Jetzt sieht er es auch: Mitten auf der Kreuzung steht das Postauto, die Markierungssäule einer Straßenbahninsel liegt zerborsten unter den Rädern. Halb benommen aber hockt Günther auf dem Trittbrett und blickt stumpfsinnig auf das Blut, das an seinen Händen klebt. Wortlos reißt Freddy ihn hoch, schleppt ihn zum VW-Bus, stößt ihn brutal auf den Sitz neben Kudde, der stocksteif hinter dem Steuer geblieben ist. Freddy steigt auch ein, so dass Günther zwischen ihnen eingeklemmt ist. »Moment noch«, ruft entgeistert der Polizist. »Ich brauche ja noch die Personalien des Fahrers. He, Sie! Wo fahren Sie denn hin! He, zum nächsten Krankenhaus geht es doch –« Fassungslos muss der Polizist zusehen, wie der VW-Bus davonrast, mit kreischenden Pneus in eine Kurve geht und seinen Blicken schließlich entschwindet.
23 Uhr 35
Im strahlenden hellen Glashaus der Tankstelle stehen sich der Besitzer und der pseudoelegante Theo gegenüber. Gegen die Schreibtischkante gelehnt, verfolgt ein blondes, stark geschminktes Mädchen, wie sich die beiden Männer anbrüllen. Ihr scheint es im Grunde gleichgültig zu sein, wer dabei Sieger wird. »Wie können Sie nur die Wagenschlüssel zu meinem Buick herausgeben, Herr!«, schnauzt Theo.»Ohne meine Erlaubnis an einen Wildfremden ...« »Es war kein Wildfremder, sondern der Bruder von Freddy, mit dem Sie ja schon eine ganze Weile bekannt sind, oder nicht?« Theo fährt sich mit den Fingern zwischen den Kragen, um Luft zu bekommen. »Ich will mit meiner Braut in meinem eigenen Wagen eine Fahrt machen – und Sie lassen sich den Wagen unter der Nase wegklauen! Wissen Sie wenigstens, ob dieser sogenannte Bruder dort wohnt, wo Freddy früher wohnte?« Erich zuckt die Achseln. »Schon möglich.« »Schon möglich«, stöhnt Theo. Er winkt mit einer Kopfbewegung seine Braut zur Tür. »Los, Rita, wir werden uns mal diesen sauberen Bruder vorknöpfen. Und mit Ihnen werd‘ ich auch noch mal reden, Herr!« 23 Uhr 52
Nach draußen dringt kaum ein Lichtschein. Drinnen brennen von der Decke herabhängende nackte Glühbirnen und beleuchten die einfachen, hölzernen Umkleidekabinen und den freien Raum davor, der mit Decken, Kissen und einem Tisch als gemütliche Lagerstätte zurechtgemacht ist. Sissy und die pummelige Gaby beschäftigen sich damit, Berge von Broten zu streichen. Lore, eine zierlichere Schwarzhaarige, versucht mit einigen Lampions den Raum zu verschönen. Bille, ein auf kess zurechtgemachtes Mädchen, liegt auf einer Matratze und stiert in die Luft.
»Kann mir einer erklären, was wir hier eigentlich feiern?«, fragt sie und stört damit Gaby, die ihrer Freundin Sissy gerade vormacht, wie sie mit einem gewagten Kleiderausschnitt einen Jungen zur Raserei gebracht hat. »Wart‘s doch ab, wirst schon sehn«, sagt Sissy. »Uns kann‘s egal sein, is ja Sonnabend«, wirft Lore ein. »Oder gleich Sonntag«, fügt sie mit einem Blick auf die Uhr hinzu. »Was?« Sissy wird ernst. »Schon so spät? Wo bleiben die Knülche denn ...!« »Halt‘s doch die paar Minuten noch aus«, ruft Bille aus dem Hintergrund und grient breit. »Dein Freddy wird sich schon noch genug mit Dir beschäftigen.« Die anderen Mädchen kichern. »Ach, seid doch gefälligst ruhig«, fordert Sissy ärgerlich. Sie sind wirklich für einen Augenblick ruhig – und in dieser Stille ist das dumpfe Brummen eines schweren Motors zu hören. »Sie kommen!« Sich überstürzend rennen die vier Mädchen hinaus. Draußen bremst gerade der Buick. Sissy bleibt der Jubelschrei in der Kehle stecken, als sie die finsteren, schweigsamen Mienen von Jan, Mario und Willi sieht. »Was – was ... wo ist denn Freddy?«, würgt sie endlich heraus. Mario steigt müde aus. »Die Polizei hat Kuddes Wagen angehalten. Freddy war auch drin. Mehr haben wir nicht gesehn, wir sind gleich weiter.« Ein paar Sekunden lang schweigen sie alle. Dann kommt ganz langsam Sissys Frage: »Und ... wo ist das Zeug?« »Auch in Kuddes Wagen natürlich.« Sissy wird weiß im Gesicht und kaut auf ihrem Daumennagel herum. Ein schwaches Grinsen zeigt sich auf dem Boxergesicht Willis. »Das trifft Dich hart, wie? Um Freddy is ja nich so schade, was?« Er dreht sich
zu Jan und Mario um. »So, un jetzt könn‘ wer losgehn und Kränze kaufen für den Sarg, den wir uns da eingehandelt ham ...« Keiner lacht. Sie wollen schon in das Badehaus gehen, als ein Lichtschein über ihre Köpfe zuckt. Wagenscheinwerfer schwenken herum, der VW-Bus kommt in Sicht und rollt mit abgestelltem Motor den schmalen Weg an das am Ufer gelegene Badehaus herunter. Die Zigarette im Mundwinkel und den Kopf über diese Trauergesellschaft vor der Tür des Badehauses amüsiert schiefgelegt, so steigt Freddy aus. Kudde hilft dem verletzten Günther auf die Beine. In der nächsten Sekunde macht sich die Anspannung bei allen durch begeistertes Johlen und Auf-die-Schulter-schlagen Luft. Sissy fliegt Freddy an den Hals: »Gott, was hab‘ ich für Angst gehabt um Dich ...«, sagt sie rauh und drückt sich eng an ihn. Freddy tätschelt ihr kleines Hinterteil und muss sich Mühe geben, um nicht zu zeigen, wie sehr er sich über Sissys Sorge freut. Er sieht nicht das zynische Grinsen der anderen und sieht auch nicht den Blick, den Jan diesem blonden Mädchen zuwirft. Er hat jetzt andere Dinge zu überlegen. »Los, raus mit den Säcken, Ihr Säcke!«, ruft er lachend. Sie stürzen sich auf den VW-Bus, bepacken sich mit den Postsäcken und schleppen sie in das Badehaus. Nur Günther ist übelgelaunt in den Raum gehumpelt, hat sich auf eine Matratze sinken lassen und presst die Hände gegen eine Platzwunde am Kopf, aus der immer noch Blut sickert. Niemand achtet auf ihn. Sie alle stehen um den Tisch herum, warten ungeduldig auf Freddy, der dann mit einer schweren Kassette unter dem Arm erscheint. »Erst die Säcke aufmachen!«, kommandiert er. »Wird gemacht, Chef!« – »Klar, Boss!«
Willi, Mario und Kudde reißen die Plomben von den Postsäcken und stülpen sie um. Der Inhalt ergießt sich auf den Fußboden. Mit großen Augen starren sie auf den Berg Briefe, der sich zu ihren Füßen türmt. »Mann, Briefe ...«, flüstert einer in die plötzliche Stille hinein. Spitz fährt die Stimme von Sissy dazwischen: »Und wo ist das Geld?« Freddy beißt die Zähne zusammen, seine Augen glitzern böse. »Klar sind das Briefe, was soll sonst in Postsäcken sein?« Er wendet den Kopf zu Sissy herum. »Geld? Geld willst Du sehen? Hier ist das Geld!« Er klopft auf die Kassette, die er auf den Tisch gestellt hat. Mit einer Handbewegung wischt er die Brote und die Butter von der Platte herunter. »Willi, hol mal die Eisenstange da hinten.« »Ja.« Willi vergisst in diesem Augenblick sogar, seinen Kaugummi im Mund zu bewegen. Er nimmt die dicke Eisenstange, betrachtet die Kassette von allen Seiten und schlägt zu. Das Schloss zerspringt krachend. Freddy stemmt den Deckel hoch und greift hinein. Zwischen den Fingern hält er ein Bündel Postanweisungen. Sissy steht dicht neben ihm. Ihre Augen haben gar nichts Kindliches mehr, als sie ihn mit eisiger Kälte anzischt: »Stümper!« Freddy steht wie gelähmt da. Er glaubt zu träumen. Doch ein Blick in die Runde zeigt ihm, dass es Wirklichkeit ist, dass er, der Große Freddy, jämmerlich versagt hat: Stumm haben sich Mario, Kudde, Willi, Jan, sogar Günther, im Halbkreis vor ihm aufgebaut. Was in ihren Augen zu lesen ist, braucht ihm nicht erst gesagt zu werden. Die anderen drei Mädchen beobachten aus dem Hintergrund die Entwicklung, von der sie nur die Hälfte begreifen. Schließlich erträgt Freddy diese schweigende Mauer nicht länger und brüllt mit sich überschlagender Stimme: »Was starrt Ihr mich denn so an? Kann ich vielleicht was dafür?!«
Günther wischt sich das Blut aus der Stirn und sagt voll Hohn: »Natürlich kannst Du nichts dafür! Klein-Freddy hat ja immer nur gemacht, was wir wollten, nicht? Du Armer, hoffentlich bist Du uns nicht böse ...« Freddy verliert die Beherrschung und schlägt Günther ins Gesicht, dass er zurücktaumelt und hinstürzt. Als er ihn wieder hochreißen und noch einmal schlagen will, hängen sich Kudde und Willi an ihn. »Lass den Quatsch!«, knurrt Willi ihn an. Günther rappelt sich hoch und geht um Freddy herum, wobei ihm Rotz und Tränen der Wut und Blut über das Gesicht laufen. »Haltet ihn fest!« keucht er. »Den Idioten! Alles ist geregelt, kann gar nichts schief gehn, auf Freddy könnt Ihr Euch verlassen, morgen seid Ihr reiche Leute! Freddy, der Held! Freddy, das größte Genie des Jahrhunderts! Freddy, der Übermensch!!!« Mit einem gewaltigen Ruck schleudert Freddy plötzlich Kudde und Willi zur Seite. Die Augen quellen ihm fast aus dem Kopf vor unsinniger Wut. Er zittert am ganzen Leibe, als er die Pistole herausreißt und schreit: »Ihr wollt mich kleinkriegen, Ihr Drecksäcke, Ihr? Ich werd‘s Euch beweisen, Euch allen, ein für allemal ...!« Er hebt die Pistole. Kreischend flüchten die Mädchen in die Ecke, die Jungs bleiben wie eingefroren auf ihren Plätzen stehen. Nur Günther wankt vor der drohend erhobenen Pistole hin und her und jammert: »Nicht, Freddy, nicht doch! Nicht schießen, Freddy, hörst Du? War doch bloß Spaß, Freddy!!« »Freddy!!« Irritiert wendet Freddy bei dem Ruf den Kopf. Jan steht da und lässt ihn nicht aus den Augen. Langsam macht er einen Schritt auf Freddy zu. »Bleib stehn!«, schreit Freddy hysterisch. »Ich schieße!« »Unsinn.« Jan ist ganz ruhig. Macht noch einen Schritt. Die Pistole hebt sich noch um einige Zentimeter. »Unsinn. Du schießt nicht. Du schießt nur in Notwehr, stimmt‘s, Freddy?« Freddys Unterkiefer arbeiten. Er schluckt. Seine Blicke zucken von einem zum anderen und bleiben dann bei Jan.
»Stimmt doch, Freddy?« Verächtlich zieht Freddy die Mundwinkel nach unten, lässt die Pistole sinken und geht zu einer Fensterbank, auf die er sich setzt, als wäre er ein alter Mann. »Ihr benehmt Euch wie die letzten Menschen«, sagt Jan in den Raum hinein zu allen, die nun langsam wieder zu sich kommen. »Die Sache ist geplatzt. Nun müssen wir überlegen, wie wir wieder rauskommen. Die Polizei besteht schließlich nicht nur aus Vollidioten ...« Während Lore sich bemüht, Günther notdürftig zu verbinden, kommt Sissy mit leicht schwingenden Hüften und nachdenklichem Gesicht auf Jan zu. 0 Uhr 34
Theo Krüger, der selbst mit dunklen Geschäften das nötige Kleingeld für sein ausschweifendes Leben verdient, ist empört. Ihm, der selbst mit allen Wassern gewaschen ist, klauen sie den Buik unter dem Hintern weg. Diese Burschen, denen wird er es schon eintränken! Mit Freddy war er schon lange zusammen. Aber sein Bruder? Ob der überhaupt im Auftrage von Freddy gehandelt hatte? Und wenn schon. Erst musste das Geld auf dem Tisch liegen und nicht eine Minute früher hatten sie sich hinter das Steuer zu klemmen. Seine Braut schmiegt sich an ihn und versucht seine schlechte Stimmung etwas zu heben. Schließlich geht ihr noch das ganze schöne Wochenende flöten. »Komm, Schatzi, sei lieb! Wir nehmen eine Taxe. Du musst doch wissen, wo Dein sauberer Freund wohnt.« Sie versucht mit ihren Pfennigabsätzen und dem engen Rock tapfer neben ihm herzuschreiten, aber bei aller Liebe wird nur ein tastendes Getrippel daraus. Der gesuchte Taxi-Stand ist erst auf dem nächsten größeren Platz, und das ist noch ein Grund mehr, um die heillose Wut von Theo zur Siedehitze zu bringen. Erst wie er Lolas perlonbestrumpfte Beine durch den geöffneten Wagenschlag blitzen sieht und sich selbst behaglich im weichen Polster zurücklehnt, findet er seinen Gleichmut wieder. Die Geschichte wird sich schon harmlos aufklären. Wer weiß, wohin diese Burschen schnell mal gerutscht sind.
Der blonde Wuschelkopf drückt sich zärtlich an seine Schulter, und wäre man nicht auf Suche nach diesen verrückten Kerlen, könnte es direkt ganz schön sein. Mit halbgeschlossenen Lidern küsst ihn Lola zärtlich am Hals und raunt: »Es ist direkt mal wunderschön, zu fahren und zärtlich sein zu können, ohne dass Du das dumme Steuerrad in den Händen hast und von, ach lass jetzt, redest.« Seine Gedanken gehen aber bereits voraus. Jetzt ist keine Zeit für zärtliches Geplänkel. In kurzer Zeit hält auch bereits der Wagen vor der angegebenen Hausnummer. Vor dem Hause steht kein Buik. »Du wartest hier in der Taxe, ja? Ich springe schnell mal hoch«, bedeutet er seiner Braut und verschwindet in der Haustür. Nach mehrmaligem Klingeln öffnet sich die Tür und vor ihm steht der alte Herr. Aus Theos wenigen Worten schwant diesem schon nichts Gutes, und er bittet den Besucher in das Wohnzimmer. Vater Borchert, der gerade beim Anziehen war und noch in seinem schäbigen Bademantel vor dem Besucher steht, bekommt harte Augen. Eine grenzenlose Leere breitet sich in seinem Hirn aus. Also hatte er doch mit seinen Befürchtungen recht gehabt, hat also dieser Nichtsnutz seinen Bruder Jan mit in seinen Dreck gezogen ... Wie er ihn hasste – und sowas schimpfte sich nun sein Sohn ... »Warten Sie bitte einen Moment, ich bin gleich wieder da«, kommt seine gepresste Stimme. Im Schlafzimmer steht Vater Borchert und zieht sich mit fahrigen Bewegungen an. Die Mutter sitzt steil aufgerichtet im Bett und weiß nicht, was sie tun und sagen soll. Weil alles, was sie bisher getan und gesagt hat, nur einen Wutausbruch ihres Mannes zur Folge hatte. Der Jan, denkt sie verzweifelt, der Jan nun auch! »Nun hast Du auch ihn aus dem Hause geekelt.« Starr blickt Vater Borchert sie an. Um Gotteswillen, hat sie das eben laut gesagt, was sie nur dachte? Ihr Mann zwinkert ein paar Mal merkwürdig mit den Augen und nickt kurz. Dann geht er aus dem Schlafzimmer. Sie hört, wie er im
Wohnzimmer zu diesem Herrn Theo Krüger sagt: »Ich bin bereit. Verlassen Sie sich darauf, ich werde meine beiden Söhne wiederfinden.« »Tja.« Die schnöselige Stimme Theos. »Tut mir ja bitter leid, Herr Borchert, aber Sie werden verstehen ...« »Gewiss, gewiss. Ich verstehe ...« 0 Uhr 49
Das schwarze Wasser gluckert gegen die Pfähle des Landungssteges. Jan stützt die Arme schwer auf das Geländer und zieht nachdenklich an seiner Zigarette. Seitdem ihm klar geworden ist, worum sich alles dreht, ist er viel ruhiger. Nicht aus Erleichterung, denn es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Aber die nervenzerfressende Unsicherheit ist ihm nun genommen, er weiß jetzt wenigstens, womit er rechnen muss. Er hört leichte Schritte, die auf den Bohlen des Steges langsam näher kommen, er weiß, dass es Sissy ist. Er hat sie fast erwartet. Und doch dreht er sich nicht um. Sie legt von hinten einen Arm um seine Schultern und schmiegt sich an seinen Körper. »Gibst Du mir auch ‘n Zug ab?« Wortlos reicht er ihr die Zigarette. »Schade, nich?«, fragt sie nach einer Weile leise. Jan zuckt die Achseln. »War ja heller Wahnsinn alles.« »Was wolltest Du eigentlich bei der ganzen Sache, Jan?« Er nimmt ihr die Zigarette aus der Hand. »Was schon. Geld. So wie Freddy. Wie Du. Wie alle. Aber ich brauchte es nicht für mich ...« »Für wen denn?«
Jan zieht noch einmal am Stummel und lässt ihn ins Wasser fallen. Es zischt kurz. Er gibt keine Antwort auf ihre Frage. »Soll ich Dir helfen, dass Du zu Deinem Geld kommst?« Der Druck ihrer Hand auf seiner Schulter verstärkt sich etwas. Wenn er etwas den Kopf herumdreht, spürt er dicht vor sich das Gesicht von Sissy. »Wie meinst‘n das?« »Hier.« Sie reicht ihm eine Reklamepostkarte. »War unter den Briefen«, erklärt sie. »Reklamekarte von Garezzos neueröffneter Espresso-Bar. – Der hat Geld – der Garezzo ...« »Und?« »Wenn Du was machst, dann weiß ich, dass es auch klappt. Wir könnten halbehalbe machen ...« »Ich verstehe nicht –« »Wirklich nicht – Wirklich nich? Garezzo is heute nacht nich zu Hause, der is bis früh in der Bar. Wir hätten viel Zeit ...« »... um bei ihm einzubrechen?« »Bist Du so doof oder tust Du nur so, sag mal?« Jan schüttelt ihre Hand von der Schulter und gibt ihr einen leichten Schubs. »Bist ja verrückt!« Sissy klammert sich wieder an ihn, fester noch. »Hör zu, Jan, wir könnten uns großartig verstehen, es wird Dir nich leid tun, nich ‘n bisschen ... Wir zwei, weißte ...« Jan muss sich zusammennehmen, aber dann stößt er heftig heraus: »Lass mich gefälligst zufrieden, ja? Ich mach‘ da nicht mit – und fertig!« Er gibt sich Mühe, Sissy los zu werden, doch sie hängt wie eine Klette an ihm.
Als es ihm gelingt, sie von seinem Körper zu lösen, schiebt er sie mit soviel Schwung von sich, dass sie rückwärts stolpert und hart auf die Bohlen des Steges schlägt. Ein Arm baumelt schon im Wasser. Da öffnet sich die Tür des Badehauses und Freddy kommt verwundert näher. Seine Augen müssen sich erst an das Dunkel gewöhnen. »Was‘n hier los?« Sissy richtet sich auf und kreischt: »Dein Bruder, Freddy, das is ‘ne Marke! Erst will er mit mir los und die Bude vom Garezzo knacken und halbe-halbe machen, und dann will er noch bei mir was landen, dieses Schwein!« »Sissy!« Jan bringt vor Empörung kein Wort weiter heraus. »Soso«, murmelt Freddy beeindruckt. »Mein Herr Bruder hat gar nicht mal so schlechte Ideen. Garezzo t sogar ausgezeichnet in mein Abendprogramm. Er ging mir heute Nachmittag schon auf die Nerven ...« »Nein, Freddy!« Jan packt seinen Bruder bei der Brust. »Das wirst Du nicht tun! Freddy!« »Ach, sieh mal an, Du fühlst Dich wohl schon ganz als neuer Chef hier, was?« Freddy spürt, wie sein Blut in den Schläfen wieder wie rasend zu klopfen beginnt. Seit er den Deckel der Kassette geöffnet hat und den Packen Postanweisungen durchwühlte, hat ihn dieses halb betäubte Gefühl nicht verlassen. Er handelt nur noch wie unter dem Einfluss einer lähmenden Droge. »Nimm sofort die Finger von meinem Hemde«, knurrt Freddy drohend. Jan bleibt fest. »Du kannst jetzt nicht nochmal so einen Blödsinn machen, hörst Du, das lasse ich nicht zu!« Freddy schnauft schwer. »So?« Sein Bruder hat es überhaupt nicht kommen gesehen. Die beiden Fäuste von Freddy sausen von unten herauf gegen sein Kinn. Seine Augen nehmen einen glasigen Ausdruck an, er klappt wie ein Taschenmesser zusammen und bleibt reglos auf dem Steg liegen.
»Hättste Dir sparen können, Atze«, sagt Freddy müde. Dann greift er nach dem Oberarm der triumphierenden Sissy. »Komm, Goldstück, jetzt geht es erst richtig los ...« 0 Uhr 56
Die Bande existiert nicht mehr. Was jetzt in dem alten Badehaus hockt: der Günther mit dem Notverband am Schädel, der starke Willi, der verwöhnte, abenteuerhungrige Mario und der primitive Kudde – das sind jetzt Jungs mit eigenem Leben, eigener Entschlusskraft. Und mit dieser Auflösung der Bande in Einzelpersonen vollzieht sich eine merkwürdige Wandlung. Sie sehen mit einem Male jünger aus, unfertiger und schwächer. Die Magie des Massengefühls hat keine Gewalt mehr über sie. Sie sind wie aus einem Rausch erwacht. Mit hängenden Köpfen sitzen sie herum und stieren in die Gegend. Aus welchem Himmel sind sie gefallen und unter welchem magischen Zwang hatten sie gestanden. Wäre ihnen Freddy nicht stets als mit allen Wassern gewaschener »Super-Boss« erschienen und hätte er selbst diesen Eindruck nicht ihnen immer und immer wieder mit allen Mitteln eingehämmert, wäre es wohl jetzt kaum zu dieser grenzenlosen Enttäuschung und Resignation gekommen. Der gemeinschaftliche Zusammenhalt der verschworenen Gemeinschaft ist hin und mit ihm das romantische Licht, welches bisher bewusst oder unbewusst über all ihrem Treiben gelegen hatte. Sie fühlten sich als Helden einer eingebildeten Räuber-Romantik, und was jetzt davon geblieben war – ist die nackte Angst! Sie vermeiden, sich gegenseitig in die Augen zu sehen, in die Augen, die jetzt nur noch Ernüchterung und größte Ratlosigkeit widerspiegeln. An Stelle eines rauschenden Triumph-Finales über den gelungenen großen Coup blicken die alten Mauern des halb verfallenen Badehauses auf diese trübe
Totengräber-Gesellschaft. Selbst der allzeit fidele Günther ist völlig deprimiert, was nicht nur auf seine Verletzung am Kopf zurückzuführen ist. Herrgott, was hätte er nicht alles noch daran gegeben, wenn dieses Ding geklappt hätte. Und wenn es schon daneben gegangen ist; dass aber hierdurch ihr alberner Dilletantismus so schonungslos zu Tage trat, und dass sie mit allem Einsatz auf solche lächerliche Papierfetzen gehetzt wurden, das kostete den Nerv. Angestrengt beschäftigt er sich mit seinem Verband und ist ängstlich darauf bedacht, dass ihn niemand anspricht. Die Mädchen – Gaby, Lore und Bille – verstehen nicht recht, was geschehen ist. Für sie ist nur von Bedeutung, dass ein verheißungsvoll begonnenes Wochenende zu platzen scheint. Lore lässt es sich gutmütig gefallen, dass Willi sich für ihre Reize interessiert, bis dieses Interesse auch sie nicht kalt lässt, und Willi sie in eine der Umkleidekabinen nach hinten trägt. In diesem Augenblick wird die Tür aufgerissen und Freddy steht da, breitbeinig, die Daumen hinter den Gürtel seiner schwarzen Jeans gesteckt. Vor einer Stunde noch hätte sein Erscheinen eine Reaktion bei den andern Jungs hervorgerufen, sie hätten sich um ihn gedrängt, auf jedes Wort aus seinem Mund gewartet ... Jetzt heben sie kaum die Augen. Freddys Augenlider flackern. Er versucht mit Stimmkraft das zu ersetzen, was er an Macht über die anderen verloren hat. »Leute, wir bringen es jetzt! Wir sahnen bei Garezzo ab! Hört Ihr? Garezzos Villa!« Kudde verzieht das Gesicht. Er ist in die Lektüre der Briefe vertieft, die überall auf dem Fußboden herumliegen. »Musste so schreien dabei?« fragt er. Mit einem Fußtritt schleudert Freddy ihm den Brief aus der Hand, den er gerade lesen will. »Kommste mit oder biste etwa zu feige auf einmal, eh?« Seelenruhig angelt Kudde wieder nach dem Brief. »Dich hat einer mit‘n Klammerbeutel gepudert. Für mich is hier Feierabend.«
Freddy wird weiß. »Günther? Mario?« Die beiden erheben sich müde. »Immer noch besser, als hier rumzusitzen und zu verblöden«, murmelt Günther. »Ist ja eh alles im Eimer ...« »Willi?« Willi fühlt sich von der erregten Lilo umklammert. Er hat nicht viel Lust, jetzt mitzukommen. Doch Freddy steht schon neben ihm und trennt ihn von Lilo wie ein Ringrichter bei einem Boxkampf. »Wir sind in zwei Stunden wieder hier, dann kannste auf Sex machen, soviel Du nur willst, Willi, und dann haste wenigstens ‘nen Grund zum Feiern!« Mit einem kurzen Blick nimmt Willi Abschied von Lilos Kurven, folgt Mario und Günther zur Tür hinaus. Freddy schiebt sie zum Buick, in dem Sissy sitzt. »Ich komme mit«, verkündet Sissy mit einem kalten Lächeln, das keinem gefällt. Nach Jan wird nicht gefragt. 1 Uhr 10
Die Kälte bringt ihn wieder zur Besinnung. Jan liegt auf den Bohlenbrettern des Landungssteges, schlägt die Augen auf und friert. Es dauert eine Weile, ehe ihm klar wird, wo er sich befindet. Wie er hierhergekommen ist. Wer ihn niederschlug. Und warum? Er richtet sich auf und befühlt mit tastenden Fingern sein angeschwollenes Kinn. Drüben, beim Badehaus, steht die Tür offen. Tanzmusik dringt heraus. Schwankend erhebt sich Jan und geht auf die Tür zu. Er hofft, dass Freddy zur Vernunft gekommen und doch dageblieben ist. Als er sich gegen den Türpfosten lehnt, sieht er, dass er zu spät kommt.
Lilo und Gaby tanzen miteinander nach der Schallplattenmusik ihres transportablen Plattenspielers, Bille liegt auf einer Matratze und kaut Butterbrote. Kudde ist in die Lektüre der Briefe aus den Postsäcken vertieft. »Kudde«, sagt Jan laut, um die Musik zu übertönen, »Kudde, fahr mich hin zu Garezzos Villa ...« »Bin doch nich bescheuert – hättest ja mit‘n Buick mitfahr‘n könn‘ ...« Jan nimmt sich zusammen. Er weiß, dass nur Kudde ihn mit seinem VW-Bus schnell genug zur Villa bringen kann, dass er nur mit Kuddes Hilfe das Schlimmste verhindern kann – falls es nicht schon geschehen ist. Falls Freddy nicht schon verhaftet oder auf der Flucht vor der Polizei ist. Er geht zum Plattenspieler und stellt ihn ab. Die Proteste der beiden tanzenden Mädchen sind ihm gleichgültig, er hört sie nicht einmal. »Kudde«, sagt er eindringlich, »Freddy weiß ja nicht mehr, was er eigentlich macht, er ist durchgedreht ... Ich muss hin, muss versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen, Kudde, begreifst Du das denn nicht ..., und die anderen alle reißt er mit rein ...« »Soll er doch«, brummt Kudde, »ich will nischt mehr zu tun ham mit ... bei mir is Sense!« Da dreht sich die immer hungrige Bille faul auf der Matratze herum und sagt fast mütterlich: »Mach mal, Kudde, recht hat er. Freddy baut großen Mist. Wenn olle Ihmchen hier unbedingt ‘ne Seele retten will, dann fahr ihn hin.« Seufzend steht Kudde auf, schüttelt den Kopf. »Ihr zwei Beide seid ein paar Brüder, Junge, Junge ...« Er geht zur Tür, Jan zerrt ihn am Ärmel vorwärts zum VW-Bus. »Mach mal halblang, Jan. Und überhaupt: ich fahr Dich bloß bis in die Nähe, dann mach ich ‘ne scharfe Biege und hau ab nach Hause, das kannste mir aber glauben, Du.« 1 Uhr 37
Ein Kriminalbeamter in Zivil begleitet Herrn Borchert zur wartenden Taxe, in der Theo Krüger mit seiner Braut schon Platz genommen hat. »Im Augenblick können wir nichts mehr tun, Herr Borchert«, sagt der Beamte. »Alle Streifenwagen sind von uns angewiesen worden, nach dem Buick Ausschau zu halten. Wir sind Ihnen aber für Ihr Kommen sehr dankbar, denn bei uns ist alles alarmiert wegen eines völlig sinnlosen und brutalen Überfalles auf ein Postauto. In der Nähe des Tatortes hat man einen Buick gesehen. Es könnte also gut sein ...« »Nein«, widerspricht Herr Borchert schwach, »nein, das ist nicht wahr, das kann nicht sein, meine Söhne – ich habe meine Söhne anständig erzogen, ich habe ihnen eingebläut, was Recht und was Unrecht ist, ich – ich ...« Der Beamte zuckt die Achseln. »Wir müssen abwarten.« »Ich habe sie alle beide doch, weiß Gott, streng genug erzogen«, murmelt Herr Borchert. Die Gedanken kreisen wirr in seinem Hirn. Der Beamte bleibt neben der Taxe stehen und reicht ihm kurz die Hand. »Ist das alles, was Sie für Ihre Söhne getan haben?«, fragt er wie beiläufig. »Was denn noch?« Herr Borchert sieht sich um, von Theo zu seiner Braut, zum Taxenfahrer und zum Beamten. Als müsste er sich gegen eine Anklage verteidigen, ruft er noch einmal verzweifelt: »Was denn noch?« 2 Uhr 05
»Alles auf eine Karte«, denkt Freddy. »Ich kann ja gar nicht mehr zurück, ich kann ja nur noch weiter vor ..., ich muss ..., ich muss ja ...« »Was starrste denn das Haus so lange an«, flüstert Sissy hinter ihm drängend. Sie hocken unter den Büschen im hinteren Teil des Gartens. »Nimm die Terrassentür, Freddy, mach schon ...« Unwillig schüttelt Freddy den Kopf. »Die große Scheibe macht zu viel Krach.
Das Fenster daneben, scheint‘n Treppenfenster oder sowas zu sein, ist kein Doppelfenster, da könnte ich vielleicht –« »Na quatsch doch nich, Mann, mach doch endlich!« Mit fahrigen Bewegungen wickelt Freddy sich ein Taschentuch um die rechte Hand, huscht geduckt über die Rasenfläche zur Terrasse, drückt mit der Schulter die Scheibe des kleinen Fensters ein und lauscht dann nervös auf das polternde Klirren der Scherben. Über die Schulter hinweg blickt er auf Sissy, die aus dem bergenden Schatten der Büsche mitten auf die Rasenfläche getreten ist, auf der das fahle Licht eines späten Mondes liegt. Als Sissy die aufgeregt rudernden Armbewegungen sieht, mit denen er sie von der offenen Rasenfläche verscheuchen will, schlendert sie langsam um das graue, von wildem Wein umrankte Haus. Sie ist ein bisschen traurig, weil Freddy für sie erledigt ist. Sie hat auf ihn gesetzt – und hat verloren. Freddy hat sich als Niete herausgestellt, als Versager. Schade, findet sie. Schade, denn sie genoss manchmal seine wilde Zärtlichkeit, mit der er sie überschüttete, wenn sie alleine waren, seine hervorgestammelten Koseworte und seine heißen, ehrlichen Liebesbeteuerungen. Auf wen soll sie nun setzen? Günther ist albern und liebt nur sich selbst, Mario ist ein Angeber und im Grunde ein Schlappschwanz, Willi ist zu einfallslos und dumm, Kudde hat eine Mattscheibe und ist überhaupt nicht zu gebrauchen. Jan? Jan ist nicht schlecht, er hat nur viel zu starke Hemmungen. Nun, die könnte man ihm noch abgewöhnen. Dann fällt ihr jemand ein: Theo Krüger, der Kerl mit dem Buick und den undurchsichtigen Geschäften. Der Theo hat schon mal heftig geatmet und an ihr fummeln wollen, als Freddy nicht da und seine Braut verreist war. Sie lächelt. Also gut, Theo dann. Mit der umwickelten Hand hat Freddy unterdessen die Scherben aus dem Fensterrahmen gezogen, ist vorsichtig eingestiegen und tappt durch die dunklen Räume. Ein Geräusch lässt ihn einhalten. Ein Geräusch, das er sich zuerst nicht erklären kann. Dann weiß er plötzlich: das ist das schwere Ticken einer großen Standuhr, und was da in rhythmischen Abständen aus dem Dunkel blinkt, ist das Bronzependel der Uhr. Hastig durchquert er den Raum, tritt in die Halle, geht zur Eingangstüre und
schreckt vor einem Gesicht zurück, das vor ihm auftaucht. Starre, aufgerissene Augen sehen ihm entgegen, ein bleiches, eingefallenes Gesicht, ein zuckender Mund und wirre Haare; Freddy steht entsetzt vor dem großen Spiegel neben der Eingangstür ... Es kostet ihn Überwindung, sich von seinem Spiegelbild zu lösen und die Eingangstüre zu öffnen. Die Kette klirrt, das Schloss schnappt. Draußen lehnt, kaugummikauend wie immer, Willi. Hinter ihm stehen Günther, Mario und Sissy. »Willi, komm mit rein«, flüstert Freddy schnell, »Sissy, Du auch. Günther und Mario, Ihr bleibt draußen und warnt uns, wenn irgendwas los ist.« Ohne eine Antwort abzuwarten, eilt Freddy in das Zimmer mit der Standuhr. Er hat vorhin einen Schreibtisch gesehen am Fenster. Er setzt sich auf den Schreibtischstuhl und tastet nach den Griffen der Schubfächer. Da flammt der Kronleuchter auf und badet das Zimmer in blendendes Licht. Wie elektrisiert fährt Freddy herum und umklammert mit der Rechten den Kolben der Pistole, die er in den Hosenbund gesteckt hat. Willi steht an der Tür, die Finger noch am Lichtschalter. »Musst doch was sehen können, Mann«, brummt er. Freddy nickt nervös und zerrt die Schubläden auf, kramt sie durch. Papiere, Briefe, Krimskrams. Eine Portokasse. Er schiebt die Schubfächer wieder zu, tritt an einen Schrank, öffnet ihn, schließt ihn wieder. Alles ohne rechten Zusammenhang, ohne Plan und System. »Brauchste was?«, fragt Willi gemütlich. »Wieso – was denn, wozu denn?« »Na ja, ‘n Stemmeisen oder sowas ...« Freddy zwinkert mit den Augen und sieht den anderen verständnislos an. »Stemmeisen? Wieso? – Ach so ... nein, nein ..., brauch ich nich ...« Willi betrachtet verwundert seinen Freund. »Is‘n los, Freddy? Biste krank?«
Sie hören es in diesem Augenblick – und sie haben das Gefühl, dass die ganze Straße es hören muss, dass es bis zum nächsten Polizisten schallen muss, dieser spitze, schrille Schrei von Sissy! »Oben!«, ruft Freddy keuchend. Rennt an Willi vorbei in die Halle, stürzt die breite Treppe zum oberen Stockwerk hoch und läuft zu der offenstehenden Tür, aus der schwacher Lichtschein dringt. Es ist ein Schlafzimmer. Von einer gelben Stehlampe mild angestrahlt steht Sissy vor ihm und starrt zum Bett, in dem sich eine schlotternde Gestalt aufgerichtet hat. Ein alter Mann mit zotteligen, grauen Haarsträhnen, dessen kleine Augen sich vor Angst fast verdrehen. Freddy schnellt auf den Absätzen herum, schickt den nun auch heraufstürmenden Willi wieder hinunter zum Schmiere stehen, und wendet sich dann dem Manne zu. »Alles auf eine Karte!«, meldet sich eine Stimme in seinem Hirn. »Es gibt kein Zurück mehr ...« Mit einem Sprung steht er am Bett, beugt sich über den Greis und packt ihn bei den Schultern. »Wer sind Sie? Ist noch wer im Hause hier! Los, Mund auf!« Der Greis fährt sich an die Kehle, reißt am Kragen seines faltigen Nachthemdes. »Luft ..., Luft!«, japst er. Auf einen Wink Freddys geht Sissy an die Balkontür und öffnet sie. Ein Windstoß erfasst die bauschigen Vorhänge und schleudert sie Sissy gegen das Gesicht. Sissy zuckt zusammen und kämpft sich frei. »Sind Sie der Vater vom Garezzo?«, fragt Freddy mit zusammengebissenen Zähnen. Als der Alte nickt, fragt er weiter: »Allein im Haus?« Nach kurzem Zögern wieder ein Nicken. Dann Freddys harte Frage: »Also, wo ist das Geld?« »Ich – ich habe nichts ...«, jammert der Alte asthmatisch. Als Freddy ihn wie einen Sack Lumpen hin- und herschüttelt, fügt er kläglich winselnd hinzu: »Bittä, ich hab nichts hier, bittä ...«
Sissy verfolgt jede Bewegung der beiden. Ihr entgeht nicht, wie der Alte einmal kurz zu dem Bild über dem Bett geblickt hat, das ein religiöses Motiv zeigt. Wie eine Katze ist sie auf dem Bett, hebt das Bild unten etwas von der Wand weg und stößt einen triumphierenden Schrei aus: »Da! Freddy, hier ist es!« »Nicht, bittä, nicht ...«, jammert der Alte wieder und will auf dem Bett zu Sissy rutschen, die auf dem Kopfkissen steht und das Bild herunterzuheben versucht. Mit einem Ruck reißt Freddy den alten Mann aus dem Bett. In dem Augenblick löst sich das schwere Bild vom Haken und kracht hinter der Bettwand auf den Fußboden. Verzaubert starrt Sissy auf die quadratische Tür des Wandsafes mit der Einstellscheibe. »Die Zahl!« Freddys Kraft ist jetzt nur noch das Ergebnis seiner Verzweiflung und seiner Ausweglosigkeit. Doch der alte Mann sieht nur das verzerrte Gesicht dieses schwarzhaarigen Burschen über sich, der zu allem entschlossen und fähig zu sein scheint. Freddy zittert am ganzen Leib, als er den Alten anschreit: »Die Zahl!« »Sechs – Drei – Eins ...« - »Weiter, weiter!« – »Neun ..., Null ..., Null ...« Freddy lässt den alten Mann los, der kraftlos vor Angst zusammensinkt. Mit fliegenden Fingern hat Sissy schon die Zahlen eingestellt, die Safetür springt auf. Sie schleudert den Inhalt auf das Bett: Geschäftspapiere, Dokumente, Urkunden. Freddy durchstöbert alles, findet ein Kuvert mit Geld und steckt es ein. »Komm, Sissy, ab!«, ruft er dem Mädchen zu. Doch Sissy hat noch etwas gefunden: ein Etui, das sie hastig öffnet. Eine Perlenkette und noch zwei Schmuckstücke fallen auf das Bett. Sissys Augen glänzen fiebrig. »Na, ist das etwa nichts?«, ruft sie schrill. Mit einer Behendigkeit, die niemand dem alten Mann zugetraut hätte, wirft er sich über die Schmuckstücke. »Nein!«, schreit er. »Nicht das! Von meiner Rosa der Schmuck, nicht das, nicht das!« Er bricht in hemmungsloses Schluchzen aus. Freddy weiß, dass man mit gestohlenem Schmuck nicht viel anfangen kann, dass er nur einen Bruchteil seines wirklichen Wertes bringt. Und er ist auch beeindruckt von dem echten Schmerz des Alten. »Lass es doch, Sissy«, sagt er
unentschlossen. »Komm, hauen wir ab.« Doch Sissy tritt mit den Füßen nach dem Alten, um ihn von dem Schmuck zu verjagen. Der Alte umklammert ihre Beine. In diesem Augenblick erscheint auf dem Balkon eine Gestalt, stürzt durch die offene Tür herein und versucht Sissy vom Bett zu zerren. »Jan!« Freddy hat seine Pistole herausgerissen und schlägt mit einer wuchtigen Armbewegung seinen Bruder gegen die Wand. Der alte Garezzo begreift, dass Hilfe gekommen ist und schreit los: »Hilfe! Hilfe! Hilfe!!« Freddy richtet seine Pistole auf den Alten und brüllt heiser: »Ruhig! Ich schieße ...« »Schieß doch!«, geifert Sissy und rafft den Schmuck an sich. »Schieß doch, Du Idiot, schieß doch!« Jetzt hat sich Jan wieder gefangen und schlägt Freddy mit seiner ganzen Kraft die Waffe aus der Hand, während der alte Garezzo immer noch um Hilfe ruft. Blitzschnell bückt sich Sissy nach der Pistole und drückt ab. Der Schuss dröhnt, etwas zersplittert und der Hilferuf des Alten bricht abrupt ab. Jan springt zu ihm, um zu sehen, ob er getroffen ist. »Sissy!« Freddy blickt sie starr an. »Jetzt ist es genug ...« Er geht langsam auf sie zu, ohne die Pistole aus den Augen zu lassen. Von der Straße her hören sie, wie der starke Motor des Buicks gestartet wird, aufbrummt. Mario und Günther flüchten. »Bleib stehen, ich schieße, Du Idiot!« Sissy hält den Schmuck in der einen, die Waffe in der anderen Hand. »Was willste denn von mir, Du Stümper? Ich schieße!« Freddy sieht sie an und erkennt nun zum ersten Male, wer Sissy wirklich ist, wie sie wirklich zu ihm steht. Ihr hat er vertraut wie keinem anderen Menschen, für sie hat er alles getan. Und sie hat nur mit ihm gespielt ...
Durch die offene Balkontür dringt – ganz schwach zuerst – das Signal eines Funkwagens. Immer lauter schwillt es an. »Freddy«, stammelt Jan, »die Polizei. Komm, vom Balkon geht eine Außentreppe runter in den Garten, Freddy, schnell ...« Freddy winkt ab. Er will jetzt Klarheit mit Sissy haben. Alles andere ist unwichtig. Er geht auf Sissy zu, die in eine Ecke zurückweicht. Freddy macht noch einen Schritt. Noch einen. Da zuckt es aus der Pistole, der Schuss dröhnt im Zimmer. Freddy klappt nach vorn über, presst die rechte Hand auf die Hüfte. Mit weit aufgerissenen Augen sieht Sissy ihn an, die Pistole fällt ihr aus den Fingern. Da steht Freddy vor ihr, packt sie, schleudert sie gegen die Vorhänge und schlägt rücksichtslos mit beiden Fäusten auf sie ein, bis sie zusammensackt und auf allen Vieren zu Jan kriecht und sich bei ihm festklammert. »Jan, Jan ...«, flüstert sie. Aus ihrem Gesicht ist alles Frühreife verschwunden, sie ist ein Kind, das sich etwas vorgespiegelt hat und nun nicht mehr weiter kann. Nackte Angst erfüllt sie. »Bring mich weg von hier, Jan, bitte ...« Das Signal des Funkwagens jault noch einmal auf und erstirbt in nächster Nähe. Sein Herz klopft unwillkürlich noch stärker, noch rascher. Er weiß, dass sie ihm gehören würde, wenn er jetzt mit ihr davonliefe ... Doch dann fällt sein Blick auf Freddy. Freddy, der Sissy geliebt hat. Freddy, der sich an den Vorhängen festhält, zur Balkontür schleppt und schwankend hinaushinkt. Die rechte Hand auf die Wunde an der Hüfte gepresst, humpelt er langsam die Treppe hinunter, die in den Garten führt, der jetzt im grauen Licht des anbrechenden Tages daliegt. Jeder Schritt verursacht einen brennenden Schmerz. Er hört nicht, wie Sissy oben im Schlafzimmer zu Boden fällt, wie sie schluchzt, wie Jan hinter ihm auf dem Balkon erscheint. Er taumelt mühsam den Kiesweg entlang, auf die Polizisten zu, die mit entsicherten Revolvern am Eingang stehen. Er sehnt das Ende herbei. Er will nicht mehr.
Er hat nicht die Kraft und Klarheit, um sich Rechenschaft geben zu können, wie alles gekommen ist. Wo der Anfang des Weges liegt, der ihn bis hierher geführt hat. Zu Hause, bei seinem Vater etwa, der die frühe Selbständigkeit, die Stärke und den eigenen Willen in ihm so lange hart unterdrückte, bis sich alles in Opposition Luft gemacht hat? Machen musste. Waren es seine Freunde, die ihn wegen dieser Opposition bewundert und darin bestärkt haben? Die sich willig seinen Anordnungen unterworfen haben? Oder Sissy? Der Wunsch, vor ihr zu bestehen, ihr zu beweisen, dass er ein Kerl ist? Man kann keine Stärke beweisen, wenn man Ja sagt, wenn man sich allem fügt. Man kann sie nur in der Auflehnung gegen die bestehende Macht beweisen. Und diese Macht, das sind eben die Erwachsenen, die Polizei, das Gesetz ... Freddy hat rebelliert gegen eine Welt, die nichts mit ihm anzufangen weiß. Er hat durch seine Kraft und seine Jugend viele andere junge Menschen mit hineingerissen in diese Rebellion. Die Strafe muss hart sein. Wird sie aber gerecht sein? Freddy bewegt sich schwankend auf die Polizisten zu, die vor seinen Augen zu ineinanderfließenden Schemen verschwimmen. Aus den umliegenden Hän blicken verschlafene Gesichter. Sie sehen, wie Jan die Treppe herunterkommt, wie sich zögernd Willi aus der Deckung seines Baumstammes löst und sich zu Jan gesellt. Sie sehen, wie der taumelnde Freddy plötzlich wie angewurzelt stehenbleibt und dann zusammenbricht. »Freddy!« Jan rennt zu der gekrümmt daliegenden Gestalt seines Bruders. Willi wuchtet auch heran. Gemeinsam zerren sie Freddy hoch, legen seine Arme um ihre Schulter, schleppen ihn weiter, zum Gartentor. Durch den stechenden Schmerz kommt Freddy wieder zu sich. Wie durch einen Schleier erkennt er die Polizisten, die, verstärkt durch die Ankunft eines zweiten Funkwagens, sich um sie scharen. »Das ..., das wollte ich nicht ..., das ... nicht ...«, würgt er mühsam hervor.
Ein Polizist nickt den anderen zu: »Das sind sie!« Aus dem Fenster des Nachbarhauses keift eine Frauenstimme: »Halbstarke!«
Bildteil
Drehbuch/Einstellung 7: »Freddy und die Gruppe gucken auf ihre Armbanduhren.« (Bild 2, Hallenbad, Tag/innen/Original)
Drehbuch/Einstellung 155: »Nun, nachdem Freddy seine Anweisungen gegeben hat, widmet er sich ganz dem Tanz mit Sissy.« (Bild 18, Espresso-Bar, Tag/innen/Bau)
Drehbuch/Einstellung 180: »Jan gerät ins Schwitzen. Er weicht Freddys aufmerksamem Blick aus.« (Bild 20, Gang Heizungskeller im Hause Prillinger, Tag/innen/Bau)
Drehbuch/Einstellung 200: »Sissy betrachtet die beiden Brüder und weiß nicht, was sie sagen soll.« (Bild 22, In Freddys Küchenzimmer, Tag/innen/Bau)
Drehbuch/Einstellung 299: »Günther sitzt vor dem Fernsehapparat, Willi lässt sich gerade neben Günther nieder.« (Bild 42, Kaminzimmer Mario Villa, Abend/innen/Bau)
Drehbuch/Einstellung 382: »Willi und Mario aber drängen sich hektisch begeistert darüber, daß es Freddy gelungen ist zu entkommen, um Freddy und schlagen ihm auf die Schultern, stoßen ihn vor Freude hin und her.« (Bild 55, Vor dem alten Badehaus, Nacht/außen/Original)
Drehbuch/Einstellung 394: »Sissy in großer Spannung. Sie kann es kaum erwarten, dass die Kassette aufgeht.« (Bild 56, In dem alten Badehaus, Nacht/innen/Bau)
Drehbuch/Einstellung 494: »Sofort ist Freddy im Schlafzimmer erschienen – bleibt wie vom Donner gerührt stehen – und springt dann auf den alten Mann zu …« (Bild 67, Schlafzimmer Pepe Garezzo, Nacht/innen/Bau)
Will Tremper – Biografische Notiz
Will Tremper, der am 19.9.1928 in Braubach am Rhein geboren wurde, führte ein ereignisreiches Leben: Er war viermal verheiratet, aus den Ehen gingen vier Kinder hervor. Beruflich war er als Produzent, Verleiher, Regisseur, Drehbuchautor, Darsteller und Journalist tätig. Ein Konflikt mit der CIA brachte ihm eine mehrmonatige Haftzeit ein, seine Reportagen lösten teilweise Klagen aus ... Charakteristisch sowohl für seine journalistischen als auch für seine filmischen Arbeiten war ein teilweise reißerischer Berichtstil.
Der Sohn eines Gastwirts besuchte zunächst das Gymnasium und absolvierte ab dem Jahr 1944 eine Ausbildung als Fotojournalist in Berlin. Nach Kriegsende arbeitete er für die Wochenschau »Welt im Film« und ab Oktober 1945 als Polizeireporter für den »Tagesspiegel«. Nach Stationen als Ghostwriter von Curt Riess und Serienautor wurde er 1955 Mitarbeiter der Inter-West-Film des bekannten Produzenten Wenzel Lüdecke. Es entstanden in rascher Folge die Filme Die Halbstarken (1956), Endstation Liebe (1957) und Nasser Asphalt (1958). Für die Zeitschrift »Stern« verfasste er ab 1958 viele Tatsachenberichte.
Will Tremper gilt als einer der ersten deutschen Autorenfilmer, 1960 führte er bei Flucht nach Berlin auch Regie. Dann schrieb er wieder eine große Reportage über den Deutschen Film für die »Bild-Zeitung«, in seiner nächsten Serie legte er sich mit den Größen der deutschen Filmindustrie an – und verlor. In der Folge arbeitete er verstärkt als Journalist und Schriftsteller, hinzu kamen zwei autobiographische Schriften.
Will Tremper starb am 14.12.1998 in München.
Vgl. zu diesen und zu weiteren Informationen (auch zu dem Regisseur und den Darstellern):
CineGraph. Lexikon zum deutschsprachigen Film. Hrsg. von Michael Bock. München: Edition Text + Kritik 1984ff.
Drehbuchauszüge
Bildnachweis
Fotoquelle Fotos Film: Fotoarchiv, Deutsches Filminstitut – DIF e.V., Frankfurt am Main
Drehbuchauszüge: Celia Tremper, München
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